Adipositasgruppe: Gesunde Ernährung und mehr Bewegung für Kinder

Gesund

In Deutschland ist fast jedes sechste Kind übergewichtig oder adipös. Bei den 11- bis 13-Jährigen sogar fast jedes fünfte. Das kann schwerwiegende, langfristige gesundheitliche Folgen haben. Um adipösen Kindern etwas anbieten zu können, hat Tanja Müller, Leiterin des Kinder- und Jugendgesundheitsdienstes Friedrichshain-Kreuzberg, eine Adipositasgruppe zur Begleitung von betroffenen Familien ins Leben gerufen. Die Adipositasgruppe besteht nun seit etwa zwei Jahren.

Ein multidisziplinäres Team arbeitet mit Eltern und Kindern an der Erreichung eines altersentsprechenden Normalgewichts. Es besteht aus einer Ernährungsberaterin (Seval Kardesler), zwei Kinderärztinnen (Sophie Rosenberg und Dr. Elisabeth Eilers), einer Assizenzärztin für Kinder- und Jugenpsychiatrie in Weiterbildung (Claudia Alex), einer Sporttherapeutin (Eva Bierbaum) sowie einer Sozialarbeiterin (Gabriele Babic).

Vorreiterrolle des Bezirks

Adipositassprechstunden gibt es hauptsächlich in den großen sozialpädiatrischen Zentren der Kliniken; dort gibt es allerdings oft lange Wartezeiten, wodurch es schwer ist, einen Platz zu bekommen. Unter den Kinder- und Jugendgesundheitsdiensten der bezirklichen Gesundheitsämter nimmt Friedrichshain-Kreuzberg mit seinem neuen Angebot eine Vorreiterrolle ein.

Seval Kardesler ist seit zwei Jahren Arzthelferin im Kinder- und Jugendgesundheitsdienst und hat eine Fortbildung zur Ernährungsberaterin gemacht. Ein Jahr lang begleitet sie Eltern und Kinder und ist zuständig für die Ernährungsberatung in der Adipositasgruppe.

Zucker

Aufmerksam auf adipöse Kinder wird das Team im Kinder- und Jugendgesundheitsdienst im Rahmen der Einschulungsuntersuchungen. Eltern werden dabei gefragt, ob sie Interesse haben, mit ihrem Kind teilzunehmen. Frau Kardesler berichtet: „Am Anfang der Teilnahme findet eine ärztliche Untersuchung statt. Nach einem Monat Probezeit sehen wir uns an, ob die Kinder regelmäßig mitmachen und auch die Eltern motiviert sind, etwas zu verändern. Es gibt einige, die nach dem ersten oder zweiten Besuch aussteigen. In einer Gruppe sind meistens sechs Kinder, die Laufzeit beträgt ein Jahr, von Februar bis Dezember“.

Sophie Rosenberg ist Assistenzärztin am Ende der Weiterbildung zur Kinderärztin und ist seit einem Jahr im Kinder- und Jugendgesundheitsdienst tätig und arbeitet seit einem halben Jahr in der Adipositasgruppe mit. Während der Begleitung der Gruppe hat jedes Kind drei ärztliche Gespräche, erklärt Rosenberg: „Am Anfang steht eine ausführliche Anamnese, wir untersuchen die Kinder körperlich, sehen uns die Gewichts- und Blutdruckwerte an und überweisen die Kinder zu ihrem Kinderarzt für eine Blutabnahme, in der wir uns die Stoffwechsel-Situation ansehen können. Wir machen auch eine ergänzende Ernährungsberatung. Beim zweiten Gespräch evaluieren wir die erhobenen Werte und besprechen mit den Familien, wie die letzten Monate gelaufen sind, ob es schon Erfolge und Verbesserungen im Verhalten gibt. Am Ende sehen wir, was mit unserer Unterstützung erreicht wurde und in wie weit wir die Familien noch unterstützen können, damit die neu erlernten Dinge in Bezug auf Ernährung und Lebensstil auch zu Hause langfristig fortgeführt werden. Je nachdem, wie dramatisch die Befunde sind, sehen wir die Kinder auch zwischendurch zum Wiegen, für Blutdruckkontrollen oder Gespräche“.

Mehr Spaß an Bewegung

Frau Babic ist eine sehr erfahrene Sozialarbeiterin im Kinder- und Jugendgesundheitsdienst und berät die Eltern zu Fragen zur Erziehung, versucht unterstützend bei Konflikten in der Paarbeziehung zu wirken. Wenn eine Kur für die Kinder sinnvoll erscheint, sucht sie passende Angebote und hilft bei Kuranträgen. Wenn es bereits eine Anbindung der Familien ans Jugendamt gibt oder über das Jugendamt Hilfen zu organisieren sind, begleitet sie die Familien auch dorthin.

Eva Bierbaum ist seit 2017 als Ergotherapeutin im Kinder- und Jugendgesundheitsdienst beschäftigt. Als Sporttherapeutin der Adipositasgruppe macht sie einen Fitnesstest mit den Kindern und erzählt: „Viele Kinder haben keine besondere Ausdauer. Ursprünglich hatten wir für den Fitnesstest einen Sechs-Minuten-Lauf vorgesehen, aber der wurde zum Drei-Minuten-Lauf. Auch da können nicht alle Kinder durchgehend laufen, sondern müssen zwischendurch gehen. Daneben überprüfen wir noch, wie beweglich die Kinder sind und wie viele seitliche Sprünge sie schaffen. Am Ende der einjährigen Betreuung mit wechselnden Übungen wird der Anfangstest noch mal wiederholt, um herauszufinden, ob die Kinder fitter, beweglicher und ausdauernder geworden sind. Grundsätzlich ist aber nicht der Fitnesstest wichtig, sondern dass die Kinder gerne wöchentlich vorbeikommen und Spaß an Bewegung haben“.

Einkauf

Während die Kinder von der Ergotherapeutin betreut werden, führt Frau Kardesler parallel mit den Eltern eine ausführliche Ernährungsberatung durch. „Ich mache Einkaufstrainings, wir sehen uns Nährwertangaben auf den Essensverpackungen an und beleuchten das Einkaufsverhalten der Familien. Es gibt Anregungen und Tipps von mir für die Umsetzung zu Hause. Die Familien fertigen regelmäßig Ernährungsprotokolle an, die wir dann besprechen und es ist künftig geplant, dass wir gemeinsam kochen. Ich habe viele Bilder zusammengestellt, auf denen man sieht, wieviel Zucker in manchen Lebensmitteln versteckt ist“.

Dr. Elisabeth Eilers ist Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin und Ernährungsmedizinerin. Seit Juli ist sie im Kinder- und Jugendgesundheitsdienst und in der Adipositasgruppe tätig. Sie erzählt: „Manche Familien haben eine so ungesunde Ernährungsweise, oft auch aus Unwissenheit, dass wir uns im Bereich des Kinderschutzes bewegen. Wenn ein sechsjähriges Kind 60 Kilo wiegt und einen Blutdruck wie ein Erwachsener hat, dann ist das gefährlich. Wir bemühen uns sehr darum, die Familien in unserer Gruppe an eine gesunde Lebensweise und Ernährungsform heranzuführen, behalten dabei aber die Lebenssituation jeder einzelnen Familie im Blick und versuchen zusätzlich individuelle Hilfsangebote zu finden“.

Selbstwertgefühl von Kindern stärken

Viele der Teilnehmenden reagieren geschockt, wenn sie erfahren, wieviel Zucker manche der von ihnen verwendeten Lebensmittel beinhalten, berichtet Frau Kardesler: „Die meisten wissen nicht, wieviel Zucker sie konsumieren. Die Kinder finden das zum Teil auch schockierend. Ich versuche in den Gesprächen mein Wissen weiterzugeben. In den Gruppengesprächen mit den Eltern mache ich deutlich, dass sie für die Ernährung ihrer Kinder verantwortlich sind. Wir versuchen das Selbstwertgefühl der Kinder zu stärken und möchten ihnen vermitteln, dass es um eine langfristige Veränderung geht und dieses eine Jahr keine Ausnahmesituation darstellt. Die Kinder schaffen es eher, sich auf eine Ernährungsumstellung einzulassen, als die Eltern“.

Mindestens drei Ebenen, weshalb Kinder adipös werden, sieht Frau Alex: „Zum einen gibt es das Interpsychische bei den Kindern selbst (Impulskontrolle, Selbstberuhigungsmechanismen im Sinne eines suchtähnlichen Verhaltens, Selbstwert etc.), das stark durch die Interaktion mit den Eltern und der Gesellschaft geprägt ist (Essen als Zeichen der Zuneigung und Wertschätzung). Darüber steht eine politische Ebene, in der Regulationsmechanismen in Hinsicht auf eine gesunde Lebensführung hilfreich für die Prävention sein können.“

Auffällig ist, dass viele der Kinder auch ihre Alltagswege, wie den Weg zur Schule, nicht zu Fuß zurücklegen, sondern mit dem Auto gefahren werden. Dazu sagt Eva Bierbaum: „Wir unterstützen Kinder bei der Freizeitgestaltung, damit sie mehr als einmal pro Woche körperlich aktiv sind. Vereinssport, Fußball, tanzen, schwimmen – vieles ist möglich und Familien mit geringem Einkommen erhalten nach Möglichkeit Vergünstigungen. Ziel ist, dass Bewegung auch längerfristig in den Alltag integriert wird. Frau Kardesler sucht den Familien verschiedene Angebote raus und wir besprechen, was für den jeweiligen Fitnessstand sinnvoll ist“.

Messbare Erfolge

Dr. Elisabeth Eilers sagt: „Wir sind ein gutes Team, weil jeder seinen professionellen Bereich hat, sein Wissen einbringt und wir uns in regelmäßigen Teamsitzungen zu jedem Kind, jeder Familie austauschen und gemeinsam besprechen, wie wir die Familien vielleicht noch besser erreichen können“.

Beim Abschluss der aktuellen Adipositasgruppe zeigt sich der Erfolg des Teams: Bei 50 Prozent der teilnehmenden Kinder konnte das Verhalten in weniger als einem Jahr verändert werden – sie sind gesünder, bewegen sich lieber und fühlen sich wohler. Perspektivisch sollten zwei Gruppen parallel laufen und bei Bedarf sollte auch die Teilnahmezeit verlängert werden können. Dafür bedarf es aber zusätzlicher personeller Unterstützung und finanzieller Ressourcen. Vielleicht können dann in 2022 noch mehr Kinder und Familien zu einer gesünderen Lebensweise finden.