LoGo Europe - Hospitationsprogramm der Berliner Verwaltung

Menschengruppe

LoGo Europe. Europäisches Hospitationsprogrammm der Berliner Verwaltung

Seit 2005 haben bereits mehrere hundert Beschäftigte an einem vierwöchigen Erfahrungsaustausch der Berliner Bezirke in europäischen Partnerverwaltungen teilgenommen.

Hier berichten Beschäftigte des Bezirksamts Friedrichshain-Kreuzberg von Ihren Erfahrungen bei Partnervewaltungen.

Hospitationen 2023 (jüngste Einträge oben)

Wien

Wien 19.09.2023

Diese Woche konnte ich gleich mit einem aufschlussreichen und inspirierenden Gespräch mit einer Kollegin beginnen, die im gleichen Feld und mit dem gleichen Aufgabenschwerpunkt tätig ist. Nachdem mir alle möglichen Vereinbarungen und Gesetzesgrundlagen zum Lesen zur Verfügung standen, gingen wir in einen intensiven Erfahrungsaustausch. Ein Arbeitstag war natürlich zu kurz. Somit wird es weitere Termine geben. Arbeitsgrundlagen und der ständige fachliche und juristische Support, zeigten eine sehr hohe Professionalität und klare Arbeitsabläufe. Es gibt zu unserer Arbeit in Friedrichshain/ Kreuzberg viele Ähnlichkeiten, aber auch Inspiration zum Nachdenken.

Auch bei unseren Wiener Kolleg*innen wird die Thematik Kindeswohlgefährdung kontinuierlich den Tagesmüttern und Tagesvätern vermittelt und zur Diskussion gestellt. Auch bei den Trägern gibt es dazu umfangreiche Termine, in denen die Arbeit an den Konzepten in der Kindertagesbetreuung eine wesentliche Rolle spielt.

Im Zusammenhang mit einem weiteren Hausbesuch bei einer Tagesmutter, erfuhr ich von praxisrelevanten Erfahrungen im Umgang mit den Trägern, Eltern und der Problematik Personalmangel.

Darüber hinaus konnte ich an Netzwerktreffen in verschiedenen Gebäuden teilnehmen und auch dadurch die schöne Stadt Wien etwas mehr kennenlernen.

Meine Terminplanung für die nächste Woche, lässt auf weitere interessante Erkenntnisse hoffen.

Carola Behnke

Palermo

Palermo 18.09.2023

Meine zweite Woche in der Stadtverwaltung Palermo widmete sich den Themen Erhalt der historischen Altstadt und der Sozialleistungen- und Angebote der Verwaltung.
Wie schon im ersten Bericht erwähnt, ist die Altstadt Palermos die größte, zusammenhängende Altstadt Europas und liegt zudem noch direkt am Meer. Was auf den ersten Blick prächtig und identitätsstiftend erscheint, stellt die Verwaltung und die Palermitaner*innen vor die große Herausforderung, diese Altstadt zu erhalten. Zahlreiche Gebäude im historischen Zentrum stehen nämlich leer und verfallen und werden damit nach und nach zu einem Sicherheitsrisiko für Anwohner*innen und Passant*innen. Ich verbrachte einen Tag mit dem Nucleo Tutela Risorse Immobiliari, das zur Polizei der Stadt gehört. Hier arbeiten hauptsächlich Ingenieur*innen, die eine Übersicht über die verlassenen Gebäude der Altstadt führen. Diese müssen erfasst und abgeriegelt werden, regelmäßig werde dies kontrolliert. Langfristiges Ziel sei es, die eigentlichen Besitzer*innen ausfindig zu machen und in die Pflicht zu nehmen. Dies sei oft schwierig, da aufgrund der Migrationsgeschichte Süditaliens die Erb*innen nicht selten über Italien und über die ganze Welt verstreut lebten. Nach einigen Generationen wisse man oft gar nichts mehr vom Besitz der Familie in Palermo und wenn, würden Erbstreitigkeiten häufig dazu führen, dass die Renovierungsmaßnamen sich immer weiter verzögerten. Ich durfte zwei Kollegen, Commissario Ciro Lo Bello und Marcello La Placa, begleiten und dabei die Baustelle eines verfallenen, riesigen Pallazo besichtigen. Dieser wurde inzwischen von einem Architekten gekauft, der, nachdem alle 35 lebenden Erb*innen ausfindig gemacht wurden, die alte Substanz, die z.T. noch die 2.500 Jahre alte punische Stadtmauer umfasst, nach und nach in ein Hotel umbauen lässt. Der Innenhof solle der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Auf die Frage hin, welche Förderung es für klimaneutrales Bauen gäbe, erfuhr ich, dass die Regierung von Giorgia Meloni im vergangenen sämtliche Förderungen gestrichen habe. Es sei ihm gerade noch so gelungen, Mittel für energieeffiziente Dämmung und Kühlung zu beantragen. Von der Stadt gäbe es keine Wirtschaftsförderung, er habe einen Kredit erhalten.
Eine weitere, große Herausforderung für die Stadtverwaltung sei das illegale Bewohnen der verlassenen Häuser. Die sehr freundlichen Kolleg*innen betonten, dass es sich hierbei um Menschen handele, die keine andere Unterkunft hätten. Sie aus den, teils unmittelbar einsturzgefährdeten Gebäuden zu evakuieren, sei belastend, man tue dies, um sie zu schützen und arbeite mit dem Sozialamt der Stadt Palermo zusammen. Langfristig wolle man die Altstadt vollständig sanieren. Auf meine Frage hin, wie man dafür Investor*innen gewinnen wolle, wurde ich auf das Dach des alten Klosters geführt, das einen herrlichen Blick auf das Meer und das historische Stadtzentrum eröffne – so überzeuge man diese! Das Interesse an den Verhältnissen in Berlin war groß, obwohl bekannt war, dass Berlin im 2. Weltkrieg fast vollständig zerstört wurde und darum keine vergleichbare Altstadt hat. Die Frage, wie man die Altstadt renovieren und trotzdem Gentrifizierung verhindern kann, stellt sich auch in in Palermo, wo sich viele Bewohner*innen die Mieten in den historischen Viertel nicht mehr leisten können. An dieser Stelle einen großen Dank an das Büro Nucleo Risorse Immobiliari Centro Storico, für die sehr freundliche und informative Betreuung!
Beim Coordinamento del Serivizo Sociale, der Koordinationsstelle für die sozialen Dienste, stellte mir Laura Purpura die verschiedenen Angebote und Maßnahmen vor. Seit die neue, italienische Regierung die Sozialhilfe (ganze 500 Euro) für Menschen unter 25 und ohne Kinder gestrichen habe, seien die Anfragen bei ihnen noch einmal deutlich gestiegen. Die Situation sei prekär, insbesondere in der Altstadt träfen verschiedene, bedürfte Personengruppen aufeinander, dies führe nicht selten zu Konflikten.
In der Casa Di Diritti des Progetti di innovazione sociale erzählte mir Laura Nocelli welche Maßnahmen der sozialen Betreuung die Stadt Palermo genau übernehme. In Italien teilten sich die Leistungen auf zwischen der Gemeinde und der Präfektur, die wiederum die Zentralregierung wiederspiegelt. Bei der Betreuung von geflüchteten Menschen und Migrant*innen sei die Gemeinde für Minderjährige zuständig und die Präfektur für Erwachsene und Familien. Diese würden oftmals über die Insel verteilt untergebracht, in teilweise völlig entlegenen Orten ohne Anbindung. In Palermo nutze man oft Gebäude, die der Staat von der sizilianischen Mafia, der Cosa Nostra, beschlagnahme. Als Sozialarbeiterin betreue sie auch die Einrichtungen in der Stadt, die unbegleitete Geflüchtete versorgten. Viele seien Bangladeschis und Tamil*innen, denn in Palermo gibt es große Communities, oder kämen aus afrikanischen Ländern, wie Gambia. Besonders dramatisch sei die Situation von nigerianischen Mädchen und jungen Frauen, die fast ausschließlich für Zwangsprostitution nach Sizilien verschleppt würden. Neben der Finanzierung durch die Stadt und v.a. das Land würden sie zahlreiche Projekte mit EU-Mitteln finanzieren, die jedoch immer wieder neu beantragt werden müssten. Mit anderen, italienischen Städten stehe man zu dem Thema durchaus im Austausch, europaweit oder mit internationalen Partnern jedoch nicht.
Beim Sprachinstituti ItaStra, das zur Universität Palermo gehört, wird für minderjährige, unbegleitete Geflüchtete ein Alphabetisierungskurs angeboten, Disseo – Arriving Alone. Dieser bereitet sie zwei Monate lang auf den regulären Schulunterricht vor, der in Italien keine Willkommensklassen kennt. Aber, betonte Aliou Ba, Promotionsstudent aus dem Senegal, viele Geflüchtete hätten keine reguläre Schulbildung in ihrer Heimat erhalten, seien aber sehr wohl multilingual und sprächen mehrere, lokale Sprachen. Dies sei eine Kompetenz, die unbedingt anerkannt und genutzt werden müsse. Das Lehrbuch, das die Universität dafür entwickelte, steigt daher direkt in die Sprachpraxis ein. Als ich fragte, wo denn das Alphabet sei, erklärte man mir, das Schreiben käme eben ganz automatisch mit der Sprache! Das ItaStra-Gebäude gehört zu den schönsten und modernsten, die ich bisher in Palermo gesehen habe. Laura Nocelli betonte, das sei wichtig, um Menschen, die oftmals in alten und nicht sehr gepflegten Unterkünften lebten, Wertschätzung und Anerkennung zu geben.

Meine zweite Woche in Palermo endete mit vielen bewegenden Eindrücken, vor allem vom Engagement der einzelnen Mitarbeiter*innen für ihre Aufgabe.

Bettin Böhm

Team in Lambeth

London Lambeth 15.09.2023

In meiner letzten Woche bei Lambeth hatte ich vor, die Verkehrskonzepte der vorangegangenen Wochen weiterzuverfolgen, an einigen Sitzungen teilzunehmen und generell im Büro zu nerven 😉 Meine Pläne wurden jedoch ein wenig auf Eis gelegt, als ich positiv getestet wurde. Ich verbrachte einige Tage damit, mich zu erholen und zu schlafen, und als ich endlich wieder gesund genug war, um nach draußen zu gehen, traf sich mein Team zu einigen Abschiedtea mit sozialem Abstand im Park.

Ich werde in Lambeth die absurde Anzahl von Bussen vermissen, die Healthy Routes Program und ihren ganzheitlichen Ansatz bei der Planung für alle Verkehrsteilnehmer*innen, die durchgehenden Fußwege bei Nebenstraßen und die Einbeziehung des Feedbacks von Anwohner*innen, die durch die Infrastruktur behindert werden, die Schulstraßen und ihre innovativen Entwürfe, die Low Traffic Neighborhoods und all ihre mir sehr bekannten Widerstände, das unbegrenzte Engagement, das das Team bei all seinen Maßnahmen es trotz Wiederstand schafft, die KAMERAS, ich werde die Kameras und alles, was durch sie möglich ist, vermissen, die ständige Umstellung auf nachhaltige Nutzung von Parkraum, das Big Shift Program und die umfassende Unterstützung, das sie den Anwohner*innen bietet. …aber am wichtigsten ist natürlich, dass ich dieses Team vermissen werde. Diese Zeit in London war so besonders wegen dieses Team, und ich hoffe, bald wieder nach Lambeth zu kommen!

Jessica Horne

Lambeth

London Lambeth 11.09.2023

Diese Woche war entspannt, und ich beobachtete, wie das Team einen Antrag auf Finanzierung für die Umsetzung der Kerbsidestrategy auf Kiezebene stellte. Es war sehr interessant, ihre Strategie bei der Beantragung der Mittel zu beobachten.

Am Dienstag nahm ich an einer Präsentation von Transport for London (TFL) teil, wo sie ihre allgemeinen Strategien für nachhaltige Mobilität erläuterten und einige individuelle Entwürfe zeigten. Sie spielen eine ähnliche Rolle wie die Senatsverwaltung in Berlin. Im Anschluss an die Präsentation machten wir eine Fahrradtour zu einigen der wichtigsten Infrastrukturen, die während Boris Johnsons Zeit als Bürgermeister von London umgesetzt wurden. Interessanterweise war er ein fahrradfreundlicher Bürgermeister und finanzierte eine Menge Infrastrukturmaßnahmen.

Am Dienstag wurde auch in Brixton Hill eine LTN (low traffic neighbourhood) eröffnet, so dass wir am Mittwoch ebenfalls eine Tour machten, um sicherzustellen, dass die Modalen Filter* richtig aufgestellt waren und um festzustellen, ob sie auch beachtet wurden. In den ersten Tagen der LTN ist es offenbar sehr üblich, dass Fahrzeuge durch sie hindurchfahren, da sie nur mit Kameras durchgesetzt werden.
*(Anm. EUB: “Modale Filter sind alle verkehrsplanerischen und infrastrukturellen Elemente, die das Ziel haben, unerwünschte Verkehrsarten herauszufiltern, während den erwünschten Verkehrsarten der Durchgang ermöglicht wird”)

Am Donnerstag haben wir die Kartierungssoftware Felt besprochen, die das Team gerne für seine eigenen Projekte einsetzen möchte. Wir diskutierten einige der Quick-Win-LTN-Verkehrskonzepte, an denen ich in den letzten Wochen gearbeitet habe. Ich setzte mich auch mit dem Vertreter der Schulwegsicherheit zusammen und erfuhr von ihren Umsetzungsstrategien.

Das Wetter ist recht warm und wir genießen die Mittagspausen als Team im Park. Es könnte schon mehr Busse als Menschen geben. Ich achte beim Überqueren der Straße immer noch auf den Verkehr in der falschen Richtung.

Jessica Horne

Palermo

Palermo 11.09.2023

Am 4. September begann meine erste von vier Hospitationswochen in der Stadtverwaltung Palermo, der Provinzhauptstadt der Autonomen Region Sizilien und Wohnsitz von über 650.000 Einwohner*innen. Dank der sehr freundlichen Kommunikation mit der Koordinatorin vor Ort, Daniela Messina, die fließend Deutsch spricht, hatte ich bereits vor Ankunft das Gefühl, vor Ort gut aufgehoben und betreut zu sein. Palermos hinreißende, barocke Altstadt, ist nicht nur die größte, zusammenhängende Altstadt Europas, sondern auch UNESCO-Weltkulturerbe. Diese verfiel nach dem 2. Weltkrieg, zunehmend, während die Mafia Infrastrukturprojekte, wie den Bau von Sozialwohnungen, fest in der Hand hatte. Seit den 80er und 90er Jahren gelang es wieder, die Stadt zu beleben und zu sanieren, und die organisierte Kriminalität zurückzudrängen – das Andenken an die beiden 1992 ermordeten Mafia-Richter Falcone und Borsellino ist weiterhin allgegenwärtig.

Mein erster Tag begann mit einer sehr herzlichen Begrüßung durch Frau Messina und dem Kennenlernen meiner ersten Station, im Settore Rigenerazione Urbana e centro storico. Servizio per la Rigenerazione Urbana e la Qualità dello Spazio Pubblico e dell’Abitare Responsabile PO Progettazione Strategica – hinter dem sehr langen Namen verbirgt sich, nach einer Umstrukturierung, die Behörde für Stadterneuerung und für die Altstadt, sowie für die Qualität des öffentlichen Raums und für Strategische Planung. Dem Namen angemessen, befindet sich die Behörde in einem ehemaligen Kloster, mit historischen Kreuzgängen und Blick auf das Meer. Wie ich auch in den kommenden Tagen lernen durfte, wurden viele ehemalige Klöster umgewandelt und werden nun für andere Zwecke genutzt.

Gemeinsam mit Caterina Guerico, Irene Chinnici, Maurizio Ruggiano und Luisa Leggio der Behörde wurde mir mein Programm für die nächsten Wochen vorgestellt, sowie die Grundzüge der palermitanischen Verwaltung vorgestellt. Der Sindaco, der Bürgermeister, ist seit 2022 Roberto Lagalla, nachdem der zuvor viele Jahre der als „Antimafia“ und pro Migration bekannte Bürgermeister Leoluca Orleando nicht mehr antrat. Der Sindaco ernennt 11 Assessori, die den Gemeinderat bilden, und für verschiedene Themen zuständig sind. Anders als in Berlin, sind die acht Circoscrizioni, die Bezirke Palermos, weitestgehend ohne Macht und Budget, haben jedoch auch einen eigenen Rat und eine*n Präsidenten*in.

Im Sommer befindet sich ganz Italien im kollektiven Urlaub, weshalb auch meine erste Woche noch viele Besichtigungen außerhalb des Verwaltung beinhaltete. Am zweiten und dritten Tag besuchte ich, gemeinsam mit Maurizio Ruggiano, die Stadtbibliothek, die Biblioteca Communale di Palermo, die, nicht ganz unerwartet, in einem ehemaligen, riesigen Klostergelände untergebracht ist. Teilweise verwahrlost, war es eine zivilgesellschaftliche Initiative, die begann, das große Gelände vor ein paar Jahren aufzuräumen. Nachdem die historische Bibliothek im 2. Weltkrieg von einer Bombe getroffen wurde, wurde die Hälfte des Bestands von 12.000 Werken vernichtet. Dabei handelt es sich teilweise um über 500 Jahre alte Drucke. Aktuell wird der verbleibende Bestand digitalisiert und der Öffentlichkeit online zur Verfügung gestellt. Der sehr freundliche Guide antwortete ausweichend auf die Frage der Finanzierung der Bibliothek, von der Stadtverwaltung habe man vor einigen Jahren noch einmal 148 Euro erhalten (meine ungläubige Reaktion „…Tausend, oder?“ blieb unbeantwortet), ansonsten sei man auf EU-Drittmittel angewiesen.

Im Stadtarchiv Palermos, das einer Synagoge nachempfunden ist, aber ursprünglich ein Kloster war, hat die Digitalisierung noch nicht begonnen. Über 800 Jahre Geschichte sind allen Besucher*innen frei zugänglich, gesammelt in monumentalen Räumen in Regalen bis unter die Decke, das Gedächtnis der Stadt auf Papier.

Grundsätzlich ist die große Freundlichkeit und Flexibilität unter den palermitanischen Kolleg*innen sehr sichtbar und beeindruckend. Einen Besuch im Ethnografischen Museum Guiseppe Pitrè, das von der Stadt unterhalten wird, etwas außerhalb von Palermo, begleitete spontan die Direktorin Felice Patrizia d’Amico und stellte mir die eindrucksvolle Sammlung vor, die die sizilianische Kultur und Geschichte, vor allem durch Alltags- und Kulturgegenstände, Werkzeug, Schmuck und Kleidung, präsentiert. Die Neueröffnung vor fünf Jahren nach einer umfassenden Renovierung, nachdem das Museum bereits seit 1935 besteht, war ein Kulturprojekt des ehemaligen Bürgermeisters Orleando. Die Sammlung wird stetig durch Ankauf und private Spenden, bzw. Vererbung, erweitert.
Kultur, so schien es, könnte in der Stadtpolitik jedoch eine noch größere Rolle spielen, wurde mir in der Woche vermittelt. Spannende Pilotprojekte hat Palermo auch durchaus zu bieten, wie das Street Art Palermo-Projekt, bei dem die Stadtverwaltung Fassaden und Flächen für Künstler*innen zur Gestaltung freigab und das mir Irene Chinnici vorstellte. 58 Künstler*innen wurden mit ihrem Vorschlag ausgewählt und bemalten und besprühten 2021 Häuserwände und Mauern in der ganzen Stadt, vor allem in den teils sozial etwas benachteiligten Außenbezirken. Relativ großzügige Guidelines gaben dabei kaum Grenzen vor, gleichzeitig lässt die historische Altstadt nicht viele Spielräume zu. Darauf angesprochen, ob das Projekt in internationalen und städtepartnerschaftlichen Kontext zu übertragen sei, antwortete Irene bescheiden, Mailand habe größere Projekte in dem Rahmen umgesetzt. Dennoch erschienen das Projekt und auch der interne Prozess in einer Stadt, die sich nicht zuletzt über ihr historisches und ästhetisches Erbe definiert, sehr wegweisend.

Ein ganz anderes Projekt ist das Centro Astalli, das ich, nach großen Bemühungen meiner Koordinator*innen, besuchen durfte. Die Freiwilligenorganisation gehört zu einem italienweiten Netzwerk an Einrichtungen und setzt sich mit unterschiedlichen Angeboten für sozial benachteiligte Menschen und Geflüchtete ein. Das umfasst ein kostenloses Frühstück- und Abendessen, Waschmöglichkeiten und Wäsche, ebenso wie die Unterbringung von Asylsuchenden, Italienischkurse, Rechtsberatung und Gesundheitsuntersuchungen. Das Centro ist auf Spenden angewiesen, das große Gelände erhielt es vom Jesuitenorden. Man habe Platz um noch mehr geflüchtete Menschen aufnehmen, betonte der Leiter beim Rundgang und man sei gleichzeitig sehr dankbar für das Engagement der Freiwilligen, wobei es gerade herausfordernder würde, junge Menschen langfristig für ein Projekt zu gewinnen – eine Erfahrung, die mir von unseren ehrenamtlichen Städtepartnerschaftsvereinen bekannt vorkam.

Und zum Abschluss noch eine Erkenntnis aus der ersten Woche in Palermo: Die Stadtverwaltung habe wohl keinerlei Nachwuchsmangel, die Arbeit in der Verwaltung streben viele junge Menschen, auf der Suche nach einer sicheren Anstellung im von Jugendarbeitslosigkeit geplagten Süden Italiens, an. Für eine Stadt wie Palermo, mit großem historischen Erbe und gleichzeitig viel Dynamik und Kreativität, ist das doch eine große Chance!

Bettina Böhm

Wien

Wien 09.09.2023

Nach einem umfangreichen Bewerbungsverfahren ist es mir gelungen, einen Hospitationsplatz in Wien, im Jugendamt zu erlangen. Bei allen Kolleg*innen und Organisatorinnen bedanke ich mich für diese Möglichkeit, in einen europäischen Fachaustausch in Wien gehen zu dürfen. Mit meinem beruflichen Schwerpunkt Kindertagespflege und frühkindliche Bildung im Bezirk Friedrichshain/Kreuzberg, darf ich nun unseren Kolleg*innen in Wien über die Schulter schauen.

Nach einer offiziellen Begrüßung und Einführung durch Herrn Dr. Wimmer, Magistratsdirektion, im Haus des Personals in der Bartensteingasse in Wien, habe ich die Kolleg*innen der Kinder-und Jugendhilfe in der Rüdensteingasse, aufgesucht. Freundlich begrüßt, lernte ich die fachbezogenen Mitarbeiter*innen kennen. Schon in der ersten Woche konnte ich neben interessanten Gesprächsterminen im Haus, gleich beeindruckende Außentermine wahrnehmen.

Schon eine aufsuchende Beratung und Kontrolle einer Tagespflegeperson in der privaten Wohnung, hat mir interessante Einblicke in die Verfahrensweise und den Auftrag des Jugendamtes vermittelt, die ich als Anregung mitnehmen werde.

Am 07.09.2023 wurde mir die Teilnahme an einem Fachtag ermöglicht. Die “KICK OFF zum Ausbau Frühe Hilfen“, fand nicht nur in dem historischen Festsaal Wiens statt, sondern vermittelte ein spannendes Netzwerk für die Umsetzung Früher Hilfen. Mittels Vorträge und des umfangreichen Marktplatzes, lernte ich die Schwerpunkte kennen und konnte auch hier wieder Anregungen für die eigene Arbeit sammeln.

In einer Großteamzusammenkunft konnte ich die Gelegenheit wahrnehmen, meine Präsentation unserer Arbeit vorzustellen und entsprechende Materialien zu verteilen. Im Rahmen eines Erfahrungsaustauschs lernten so die Kolleg*innen auch Inhalte aus unserer Arbeit in Berlin kennen.

Als besonderes Bonbon lud mich mein temporäres Team ein, mit Ihnen am Businessrun teilzunehmen. Somit lernten wir uns besser kennen und hatten viel Spaß miteinander.
Die Vielfalt dieser ersten Woche lässt mich auf die nächste Woche und weiteren Erkenntnissen freuen.

Carola Behnke

Kiezblock Lambeth

London Lambeth 04.09.2023

Diese Woche begann mit der Festlegung einiger Projekte für die Zeit in Lambeth. In erster Linie werde ich einige vorläufige Entwürfe für die “Quick-Win”-Kiezblocks erarbeiten. Ein Verkehrsberatungsunternehmen wurde beauftragt, die Kiezblöcke für verkehrsberuhigende Maßnahmen anhand von 25 vordefinierten Faktoren wie Luftverschmutzung, Bevölkerungsdichte, Durchschnittseinkommen, Geschlecht usw. zu priorisieren.

Unter den Ergebnissen des Berichts wurden 7 Kiezblocks als “Quick Wins” definiert, da sie nur über ein kleines Nebenstraßennetz verfügen die von Hauptverkehrsstraßen umgeben sind. Die Quick-Win-Kiezblocks können mit einer minimalen Anzahl von Filtern verkehrsberuhigt werden, und es ist weniger öffentlicher Widerstand zu erwarten. Daher ist geplant, den Entwurf/Umsetzungs- und Beteiligungsprozess für jedes Viertel zu verkürzen, und ein Großteil meiner Sitzungen in dieser Woche diente der Gestaltung des verkürzten Entwurf/Umsetzungs- und Beteiligungsprozesses. Ich habe auch die Geodatensätze von den Beratern erhalten und werde nächste Woche mit einer Analyse beginnen. Ich lerne sehr viel von den Kollegen*innen und es macht sehr viel Spaß zusammen zu arbeiten.

Außerdem habe ich mit der Planung von einer Straße im Stadtteil Waterloo begonnen. Eine neue geplante Maßnahme wird sich voraussichtlich negativ auf die Straße und die angrenzenden Gebiete auswirken. Deswegen sind parallel umgesetzte Verkehrsberuhigungsmaßnahmen gewünscht Es ist sehr interessant, die englische Herangehensweise an diese beiden Projekte zu sehen, ich lerne viel von meinem Team und genieße es sehr !

Das Foto von dieser Woche zeigt einen permanent eingesetzten Modalfilter, der durch Kameras und Gebühren verstärkt wird. Die permanenten Filter werden von Begrünungsmaßnahmen begleitet, um eine neue Atmosphäre zu schaffen und Fußgängern und Radfahrern an den Filterstandorten wieder Raum zu geben. Aufgrund der Kameraüberwachung ist es möglich, dem Bus eine Ausnahme zu gewähren und ein “Bustor” zu schaffen.

Darüber hinaus habe ich weiterhin Interviews geführt, um unsere Prozesse zu vergleichen, sowohl für spezifische Projekte als auch für allgemeine Strukturen zu Themen wie Finanzen oder Genehmigungen und Vorschriften. Alle sind sehr hilfsbereit und freundlich. Wir haben einen Lauftreff für die Mittagspause ins Leben gerufen und gehen am Donnerstagabend in den Pub. Es ist einfach sehr schön im Vereinigten Königreich!

This week started off by defining a few projects for my time in Lambeth. Primarily, I will be doing some preliminary design work for some quick win neighborhoods. A traffic consultancy was hired to reporioritize the neighborhoods for traffic calming measures according to 25 predefined factors like air polution, population density, average income, gender etc…

Among the outputs of the report, 7 neighborhoods were defined as quick wins because of their small nebenstraße network size surrounded by main roads. The quick win neighborhoods can be traffic calmed with a minimal number of filters, and there is less public resistance expected. Therefore, the design and engagement process for each neighborhood is planned to be reduced, and a majority of my meetings this week were designing the shortened design and engagement process. I have also received the geo data sets from the consultants and will begin performing the analysis next week.

I have also begun consulting on a street calming plan in the Waterloo district on a street called Weber Street. A new planned measure is projected to have negative impacts on the street and adjacent areas. It is very interesting to see the Englsih approach to both of these projects, I am learning a lot from my team and enjoy working with them very much.

Additionally I have continued conducting interviews to compare our processes, both for specific projects as well as general structures around topics like finance or approvals and technical design regulations. Everyone is extremely helpful and kind. We have started a lunch time running club, and we go to the pub on Thursday evenings. It is simply lovely in the UK !

Jessica Horne

London Lambeth

London Lambeth 29.08.2023

In der ersten Woche kam ich in London an und traf meinen Chef Josh Learner, den Leiter der Abteilung Verkehrsstrategie und -programme. Wir besprachen unsere mögliche Zusammenarbeit während der vier Wochen. Mein Ziel für den Austausch ist es, Prozesse für parallele Projekte und Strukturen zu vergleichen, die wir in unseren beiden ähnlichen Bezirken durchführen, vor allem in Low Traffic Neighborhoods (LTN) und bei der Kerbside Strategy. Darüber hinaus möchte ich einen allgemeinen Vergleich der Verwaltungsstrukturen, einschließlich der Finanzierung, der Fristen, der Gestaltungsvorschriften und des Genehmigungsverfahrens, anstellen.

In der ersten Woche traf ich mich mit den Teammitglieder*innen in Einzelgesprächen und größeren Gruppen. Ich erhielt einige Präsentationen und lernte die Teamstrukturen und Projekte kennen. Am Montagabend nahm ich an einer Videokonferenz teil, in der die Fragen der Öffentlichkeit zum bevorstehenden LTN beantwortet wurden. Die Fragen wurden im Voraus eingereicht und nach Relevanz gefiltert, Beschwerden und Tiraden wurden nicht beantwortet, und alle relevanten Fragen wurden auch auf einer FAQ-Website für jedes LTN veröffentlicht und beantwortet, zum Beispiel hier: https://sladegardensltn.commonplace.is/

Ein Kollege zeigte mir am Dienstag ein LTN auf der Straße, das unserem Projekt Xhain beruhigt sich in Berlin sehr ähnlich ist. Wir sahen einige der Vorbereitungen, die die Baufirma bereits getroffen hat und die auf die Eröffnung am 4. September warten. Die verkehrsberuhigenden Maßnahmen kommen in erster Linie ohne physische Barrieren aus und werden mit Kameras durchgesetzt, die automatisch Strafzettel zu 65 £ an Verkehrssünder verschicken. Auf diese Weise kann sich das Projekt finanziell selbst tragen und der Widerstand von Behörden wie der Feuerwehr wird minimiert. Die Maßnahmen werden ähnlich wie bei unserem Plan in zwei Phasen umgesetzt, zunächst probeweise für 18 Monate und dann nach einer Bewertung dauerhaft mit begleitendem Straßengrün und neuer Fußgängerinfrastruktur.

Donnerstags abends geht das Team auf ein Bier in eine Bar um die Ecke des Büros. Die Atmosphäre im Team ist angenehm, sehr vielfältig und integrativ. Das Büro ist offen gestaltet, was automatisch die Zusammenarbeit fördert, und das Team scheint es einfach zu genießen, in einer flachen Hierarchie zusammenzuarbeiten.

Am Freitag veranstaltete Lambeth eine Podiumsdiskussion mit Anwohner*innen mit Behinderungen, um über das Standarddesign für niveaugleich ausgebaute Querungen zu beraten. Das Design wird in Friedrichshain-Kreuzberg nicht umgesetzt, da die Kosten aufgrund der Entwässerungsanforderungen oft viel höher sind. Die Diskussionsteilnehmer gaben wertvolle Rückmeldungen zu ihren Erfahrungen mit der bestehenden Infrastruktur und gaben Empfehlungen für künftige Planungen ab, z. B. dass Farbunterschiede, selbst wenn sie auf gleicher Höhe mit dem Gehweg liegen, entscheidend sind, damit behinderte Menschen eine Kreuzung erkennen können. Gesprenkelte Muster bei einigen Anwohner*innen mit Behinderungen können aber leicht zu Schwindelgefühlen führen und man kann sich nicht darauf konzentrieren.

Ich habe die erste Woche sehr genossen.

In the first week I arrived in London and met my boss Josh Learner, the head of transportation strategy and programmes. We had a coffee and discussed our potential collaboration for the four weeks. My objective for the exchange is to compare processes for parallel projects we have running in our two similar bezirks, primarily low traffic neighborhoods and the cerb side strategy. Additionally my objectives include generally comparing administrative structures including financing, timelines, design regulations, and the approvals process.

The first week was spent meeting team members in individual meetings and larger group settings. I received some presentations and learned about the team structures and projects. On Monday evening I attended an engagement video conference to answer the publics questions about the upcoming LTN. The questions were submitted in advance and filtered for relevance, complaints and rants were not answered, and all relevant questions were also published and answered on an FAQ webiste for each LTN, for example here : https://sladegardensltn.commonplace.is/

A colleague showed me on Tuesday the LTN, which closely parallels our project Xhain beruhigt sich in Berlin. We saw some of the preparations by the construction company already set up and waiting for the opening on September 4th. The traffic calming measures primarily operate without physical barriers and are enforced with cameras which automatically send tickets of 65 pounds to traffic violators. This allows the scheme to be financially self sufficient and minimizes resistance from authorities like the fire department. The measures are implemented similarly to our plan in two phases, first on a trial basis for 18 months, and then after evaluation permanently with accompanying street greenery and new pedestrian infrastructure.

On Thursday nights the team goes out for a beer at a pub around the corner from the office. The team atmosphere is lovely, very diverse and inclusive. The office is open concept, which automatically encourages colaboration and the team seems to just enjoy working together on a relatively flat heirarchy.

On Friday, Lambeth hosted a panel of disabled residents to consult on the standard design for a new continuous paving. The scheme is unfortunately not implemented in Friedrichshain-Kreuzberg because the cost is often much higher with drainage requirements. The panel provided valuable feedback to their experiences with existing infrastructure and recommendations for future continuous footways, for example that color variations even when at the same level as the sidewalk are critical to allow disabled people to recognize a crossing, however speckled patterns can easily contribute to dizziness for some residents and cannot be concentrated on.

Jessica Horne

Hospitationen 2022

Milano, Pavillon HIV-Test

29.10.2022

Buongiorno,

meine letzte Woche hier in Mailand ist gekommen. Ich möchte euch aber zu aller erst von dem Openair Test Angebot des Checkpoints am letzten Freitag- und Samstagabend berichten.

Zur Vorbereitung wurden am frühen Freitagnachmittag bereits Pavillons und weitere Dinge, wie Tische für die Beratung und Testung in die Nähe von Porta Venezia (das ist eine beleibte Ausgeh-Gegend mit vielen Bars, es lässt sich am besten mit der Gegend um den Boxhagener Platz vergleichen) gebracht und dort aufgebaut. (Foto)

Ich erfahre, dass sich dieses Testangebot in den letzten Monaten immer mehr in der Szene etabliert hat. Ungefähr einmal im Monat findet es hier Vorort statt. Nicht wenn es zu heiß ist aber auch nicht wenn es zu kalt ist. Es gibt natürlich Ausnahmen wie den 1. Dezember (Welt-Aids-Tag). Auch wir vom Zentrum für sexuelle Gesundheit und Familienplanung veranstalten zu diesem Tag besondere Präventionsangebote.

Zuvor warb der Checkpoint u.a. auf seinen Social Media Accounts (Facebook, Instagram) für das Testangebot. Auch wurde die Klient*innen die, die Woche über hier im Checkpoint waren auf das Angebot hingewiesen.

Die Idee dahinter ist, für alle Menschen einen freundlichen, offenen, wertungsfreien Raum zur Testung zu schaffen. Mit einem einfachen Zugang außerhalb der Klinik. Und natürlich dem großen Ziel der Ausbreitung von sexuell übertragbaren Krankheiten entgegenzuwirken.

Jede Person hat die Möglichkeit eine ausführliche Beratung und kostenlose Schnelltestung auf HIV und Syphilis (Foto) anonym zu bekommen. Bereits am Freitag bildete sich vor 18 Uhr eine Personenschlange vor den Pavillons.

An beiden Abenden bekomme ich die Gelegenheit bei mehreren Beratungsgesprächen und bei den anschließenden Testungen dabei zu sein.
Besonders schön finde ich, dass es in den Beratungen nicht einfach nur um das reine ausfüllen des Fragebogens geht, es bleibt auch immer Raum um über einen offenen und bewussten Umgang mit der eigenen Sexualität zu sprechen. Natürlich gibt es auch Situationen in denen nicht getestet wird, ist eine Person zum Beispiel stark alkoholisiert. Oder die Personen entscheiden für sich selbst nach der Beratung keinen Test machen zu wollen.

Bei vielen Gesprächen die ich mit den unterschiedlichen Menschen (Freiwillige Helfer*innen, zum Test kommende Personen usw.) an beiden Abenden führe konnte ich einiges in Erfahrung bringen.

Die meisten antworteten auf meine Frage wie sie von diesem Angebot erfahren haben: Von Freunden, also die uns allen bekannte Mund-zu-Mund Methode. Nach der Frage ob sie zum ersten Mal testen lassen, bekomme ich sehr oft die Antwort ja. Schätzungsweise würde ich sagen dass 75% der Personen (an beiden Abenden) zum ersten Mal in ihrem Leben einen Test machen. Vor allem weil das Angebot hier sehr von Frauen genutzt wird. Viele entscheiden sich ganz spontan, weil sie zufällig am Pavillon vorbeigekommen sind, die großen Plakate gesehen haben, oder sich einfach wundern was das hier für eine Menschenschlange ist. Das spontane und anonyme ist der Anreiz für viele heute.

Auch wird mir berichtet, dass es für viele die zum ersten Mal einen Test machen, leichter ist hier einen Schnelltest zu machen und das Ergebnis unmittelbar zu bekommen anstelle in der Klinik eine Woche auf das Ergebnis warten zu müssen. Ich erfahre auch dass viele Angst vor einem HIV Test haben und sie sich quasi so die Angst vor der Klinik nehmen. Sie können hier einen ersten Test machen und dann hoffentlich „entspannt“ einen weiteren in der Klinik. Sowie weitere Tests auf Gonorrhö und Chlamydien, dass wird immer in der Beratung empfohlen.

Viele wünschen sich noch mehr solcher Angebote. Auch wird gesagt es sollte noch mehr im öffentlichen Raum dafür geworben werden z.B. gibt es hier in der U-Bahn auch eine Art „Berliner Fenster“, das wäre eine entsprechende Idee.

Eine Aussage von einer jungen Frau beschreibt wie ich persönlich finde das Angebot perfekt: „Für mich ist es ein sicherer Ort hier, ich muss hier keine Angst vor Diskriminierung oder Anfeindungen haben. Ich finde endlich jemanden mit dem ich frei über meine Sexualität (sie betont besonders ihre eigene weibliche Sexualität) sprechen kann.“

Was passiert, wenn ein Test positiv ausfällt? Ja dazu hatte ich mir im Vorfeld auch schon viele Gedanken gemacht. Das Angebot findet auf, sagen wir mal, offener Straße statt. Es wird Alkohol konsumiert. Wie reagiert eine betroffene Person auf so ein Testergebnis?

Im Falle eines positiven Testes wird die betroffene Person, beruhigt und über die nächsten Schritte aufgeklärt. Im Falle eines positiven HIV Test Ergebnisses muss ein Bestätigungs-Test in der Klinik gemacht werden. Wenn die Person wünscht und wenn möglich, wird für sie ein Termin am Folgetag vereinbart. Auch gibt es an den Abenden wieder Unterstützung von Psychologen vor Ort. Auch bei einem positiven Syphilis Test wird an die Klinik verwiesen, um eine Behandlung zu bekommen. Außerdem empfiehlt es sich immer auch auf weitere Infektionen wie zum Beispiel Chlamydien oder Gonorrhö zu testen. Auch bieten die freiwillig Mittarbeitenden immer an die Personen zur Klinik zu begleiten, wenn sei sich dies alleine nicht zutrauen und Unterstützung wünscht.

Den ganzen Abend (an beiden Tagen ging das Angebot bis ca. 23 Uhr) ist die unglaubliche Dankbarkeit der Menschen zu spüren. Es war an beiden Abenden eine gute und entspannte Stimmung.Ich erfahre das ca. 150 Personen getestet wurden. Abschließend ist einfach nur zu sagen, dass es ein sehr gutes Präventionsangebot ist und sehr gut angenommen wird. Viele nahmen über eine Stunde Wartezeit in Kauf.

Die letzte Woche verbrachte ich, mit Hospitation in der Beratung und Testung und führte eigene Beratungen durch.

Mein Logo Europe Projekt ging unglaublich schnell vorbei. Ich bin sehr dankbar für diese Möglichkeit, so viele tolle, interessanten und engagierte Menschen habe ich kennengelernt. Nun freue ich mich aber auch wieder sehr auf mein Berlin.

A presto, Gabriel Hinterdobler

28.10.2022

Heute ist mein letzter Tag. Die Woche war sehr arbeitsintensiv.
Ich konnte die Woche im Jugendamt hospitieren. Das Team Coruna Stadt hat mich angeleitet. Das Team besteht aus sechs Mitarbeiterinnen, davon sind zwei Psychologinnen. Die Aufgaben des multidiziplinärem Team sind gleich.
Ein sehr großer Unterschied besteht darin, dass es keine Vormundschaften gibt. Das heißt, eine Abteilung Vormundschaften existiert nicht. Die elterliche Sorge ist nicht in unterschiedliche Bereiche eingeteilt. Die Eltern können im Jugendamt beantragen, dass sie das Sorgerecht auf das Jugendamt übertragen. Erst im Kinderschutz und wenn die Eltern keine Problemkongruenz zeigen, wird das Familiengericht eingeschaltet. Es gibt kein Gesetz, welches ein beschleunigtes Verfahren anzeigt. Das Jugendamt kann eine Wohnung mit der Amtshilfe der Polizei nur betreten, wenn der Tagesrichter einen Beschluss gefasst hat, wo das Betreten aufgrund eines akuten Kinderschutzes begründet wird. Die Inobhutnahme muss nicht gerichtlich geprüft werden, sondern die Vormundschaft geht direkt an das Jugendamt über. Diese Vormundschaft ist auf höchstens zwei Jahre begrenzt. Danach muss das Gericht entscheiden, wenn weiterhin die Notwendigkeit für eine Vormundschaft besteht.
Dieser Aspekt ist ein völlig neuer Gesichtspunkt. Viele Eltern suchen das Jugendamt auf, wenn die familiären Konflikte scheinbar nicht mehr anderweitig zu beruhigen sind, so dass sie freiwillig um eine Vormundschaft bitten (guarda).
Eine gerichtlich angeordnete Vormundschaft nennt sich tutela. Die ambulanten Hilfen werden ohne Stundenkontingent eingesetzt. Es gibt ein großes Vertrauen, dass der Träger selber einschätzt, ob pro Woche in der Familie 3 oder 1,5 zu zweit oder alleine gearbeitet werden muss. Wichtig ist das Ergebnis. Darüber gibt es regelmäßige Helferkonferenzen und die Überprüfung der Hilfepläne. In unserer Berliner Trägerlandschaft ist dieses Arbeitsmodell wahrscheinlich nicht umzusetzen. Hier legt die Xunta in Santiago das Convenio fest, wieviel für die ambulante Arbeit zur Verfügung gestellt wird. Wie der Träger das einteilt, bleibt dem Träger überlassen.

Ich habe mehrere Hausbesuche begleitet, Hilfekonferenzen im Jugendamt miterlebt und ein stationäre Einrichtung mit 8 Plätzen auf einem früheren Heimgelände kennengelernt. Eine Art Fallteam gibt es neben der Teamsitzung mit Vorstellung über den Sachstand der Fälle ebenfalls. Es heißt COPET und neben den Kolleginnen des Jugendamtes der Regionen nimmt am COPET auch das Krisenteam (servicios urgencias) und das Team der Adoption teil.
Die Krisenplätze der Einrichtungen oder feste Plätze in stationären Einrichtungen werden über das Rote Kreuz (Cruz Roja) vermittelt. Es gibt eine wenige Centros (Stationäre Einrichtungen) die Xunta eigenen Einrichtungen sind. Die Unterbringung in Pflegefamilien auf Zeit oder langfristig wird vom regionalen Team ins COPET Team eingebracht, da immer auch die Option der Adoption fachlich geprüft wird.

Die überregionale Zusammenarbeit funktioniert überwiegend gut, manchmal sind die Kolleg*innen der anderen Jugendämter nicht erreichbar und reagieren weder auf Faxe noch auf Emails, diese Schwierigkeiten der Erreichbarkeit oder die Unmöglichkeit einer Fallabgabe unterscheiden sich nicht von denen, die wir in der Praxis in Berlin auch mit anderen Bundesländern haben.

Die Möglichkeit einer Adoption wird hier immer fachlich mitgedacht.
Das Team der Adoption hat im Copet mitgeteilt, dass für von FAS betroffene Kinder es kaum Möglichkeiten für eine Adoption besteht. Dies wird mit der Veröffentlichung von Auswirkungen des Alkoholkonsums während der Schwangerschaft in Presse und Fernsehen begründet. Betroffene Adoptiveltern haben dieses Thema permanent in der Öffentlichkeit diskutiert, da es in Spanien eine lange historische Tradition gibt, Kinder von Russen oder den ehemaligen GUS Staaten zu adoptieren. Wenn sie bereits Säuglinge adoptiert hatten, erhielten sie vor der Adoption keine Informationen darüber, dass die Möglichkeit besteht, dass das Kind ein fetales Alkoholsyndrom haben könnte. Durch diese starke Präsenz in der Öffentlichkeit sind diese Kinder stärker stigmatisiert als Kinder, wo anderen Beeinträchtigungen diagnostiziert sind.
Die Bereitschaft Kinder mit FAS zu adoptieren ist auf null gesunken, so der Hinweis der Kollegin aus dem Adoptiv-Team.

Den Mitarbeiter*innen stehen mehrere Elektrofahrzeuge zur Verfügung, da sie auch 2-3 h in das Umland fahren müssen. Gestern fand auch der erste Termin einer Fremdunterbringung mit der Großmutter mütterlicherseits statt. Die Großmutter war mit zwei Kolleginnen an einem Feiertag bis nach Madrid gefahren, da die psychisch erkrankte Mutter sich an die kolumbianische Botschaft gewandt hatte, um auszureisen. Die Mitarbeiter der Botschaft reklamierten, dass das Kind beide Staatsbürgerschaften hat und bemerkten, dass die Mutter sich in einem Ausnahmezustand befand. Da die Mutter mit Kind hier polizeilich gemeldet sind, musste das Kind von der Inobhutnahmestelle in Madrid nach Galizien verlegt werden. Mit der Hilfe der Großmutter wurde das Kind abgeholt und verlegt. Dieses war in dem gestrigen Hilfeplangespräch erneut Thema. Die Großmutter hatte Vormundschaft beantragt, aber für die nächsten zwei Jahre hat diese das Jugendamt inne mit der fachlichen Begründung, dass die Mutter 1. Somit keine Konkurrenz mit der Großmutter um das Kind hat und weil die Mutter die volle Unterstützung im Alltag von ihrer eigenen Mutter im Alltag benötigt. Aufgrund von häuslicher Gewalt ist die Mutter psychisch erkrankt. Das Kind war aufgrund der Unterstützung der Tanten und dem Rest der Familie pflegerisch in einem guten Zustand, war aber sehr isoliert und ging schon ein Jahr nicht mehr zur Schule.
Jetzt in der stationären Einrichtung hat das Kind nachgeholt, was es vorher im Haushalt der Mutter nicht ausleben konnte, aufgrund der hohen Verantwortung, die es für seine Mutter übernommen hatte.

Gestern war auch meine Vorstellung im Rahmen einer Power Point, wie die Arbeit in unserem Bezirk funktioniert und welche gesetzlichen Rahmenbedingungen bestehen für die unterschiedlichen Hilfemaßnahmen innerhalb des SGB VIII. Besonders die Einrichtungen nach §19 SGB VIII, sowie die Projekte wie Triangel oder die Tagesgruppen mit Beschulung, sowie das Betreute Einzelwohnen ab 15 Jahre war für alle eine Neuheit. Familienräte kannten sie bisher nicht. Die Vergabe von Stundenkontingenten im Rahmen der ambulanten Hilfen war ebenfalls ein neuer Gesichtspunkt für die Kolleg*innen hier.

Ich bedanke mich für die Möglichkeit meiner Teilnahme an diesem EU Programm und möchte auf jeden Fall diese Möglichkeit erneut nutzen. Vielen Dank und auch dass trotz der chronischen Unterbesetzung mir von meinem Team und Regionalleiter sowie der Gesamtleitung dies ermöglicht wurde.

Jetzt geht es erneut zu einem Hausbesuch.
Saludos Katja
Y hasta lunes en Berlín

Milano

22.10.2022

In meiner dritten Woche hier in Mailand traf ich einen Mitarbeiter von ASA Onlus um mehr über deren Präventionsarbeit zu erfahren, ich hatte euch vergangene Woche schon kurz von dem Verein der sich hier für HIV Positive und an Aids erkrankte Menschen einsetzt berichtet. Zuhause im Zentrum für sexuelle Gesundheit und Familienplanung bieten wir auch sexualpädagogische Workshops zum Beispiel in Schulen an. Eine kurze Beschreibung für die, die uns nicht oder noch nicht so gut kennen: mit unserem Präventionsteam gehen wir in Schulen und arbeiten mit den Jugendlichen zu Themen wie die Erste Liebe, Pubertät, Vielfalt, Verhütung, Schwangerschaft, Sexuelle Gesundheit und noch viel mehr Themen. ASA bietet ebenfalls vergleichbare Workshops an Schulen an. Der Schwerpunkt liegt hier thematisch auf HIV und andere sexuell übertragbare Krankheiten. Wie bei uns ist dieses Angebot hier kostenlos für die Schulen.

Die Schulen kommen von selbst aktiv auf ASA zu, wenn sie das Angebot in Anspruch nehmen wollen.

Jeder Workshop, welcher ca. zwei Stunden dauert, wird von einem Psychologen und einer HIV positiven Person geleitet bzw. begleitet.

Vor jedem Workshop wird den Schüler*innen von ASA ein Link zu einem anonymen Formular bestehend aus zehn Multiple-Choice-Fragen zum Thema zugesendet. Das wird gemacht, um Vorkenntnisse zum Thema einzuschätzen zu können und den Workshop entsprechend zu gestalten. Damit ihr einen Eindruck bekommt, wie diese Fragen aussehen.

Hier zwei Beispiele:

Welche Bevölkerungsgruppe ist am stärksten von einer HIV-Infektion bedroht?
- Drogenabhängige
- Es gibt keine spezifische Bevölkerungsgruppe, die stärker gefährdet ist?
- Homosexuelle

Welche davon ist eine HIV-Präventionsmethode?
- Verwendung eines Kondoms
- Koitus frühzeitig abbrechen
- Verwendung der Antibabypille

Im Workshop der überwiegend für Schüler*innen im Alter von ca. 13-18 Jahren ist, wird nach vorher abge-fragten Wissensstand über Übertragungswege von STD/STI, Schutz, Testung, antiretrovirale Therapie aber auch Stigmatisierung gesprochen. Die HIV positive Person kann unterstützend von den gemachten Erfah-rungen mit dem Virus berichten und Fragen der Schüler*innen beantworten.

Zum Abschluss des Workshops erhalten die Schüler*innen noch die Möglichkeit noch einmal den Multiple-Choice-Fragebogen auszufüllen und abzuschicken. ASA macht damit eine Art Lernziel Kontrolle. Darüber hinaus bewerten die Schüler*innen den Workshop mit einem weiteren Fragebogen über ihre Zufriedenheit mit dem Workshop. Dort ist auch immer Platz für Fragen und Verbesserungsvorschläge.

So wie ich es verstehe, ist sexuelle Aufklärung nicht Teil des italienischen Lehrplans es obliegt der jeweili-gen Schule dies als Bestandteil aufzunehmen. Die Schule kann aber auch externe Angebote annehmen und diese in die Schule einladen. Anders als bei uns sind hier meist die Lehrkräfte bei den Workshops dabei. Ob dies dann für die Schüler*innen noch ein Safespace sein kann bleibt fraglich. Im Lockdown haben die Workshops virtuell z.B. per Zoom stattgefunden. Oft sind bis zu 30 Schüler*innen im Workshop und werden nicht nach Geschlechtern getrennt. Sehr interessant fand ich die eingesetzten Fragebögen die vorher sowie nachher easy per Link an die Schüler*innen versendet werden. Sie können diesen auch ganz einfach über einen mitgebrachten QR Code auf ihren Smartphones öffnen. Die gesammelten Daten lassen sich natürlich auch prima für Statistik und sonstige Datenaufbereitung nutzen.

Mitte der Woche bekam ich die Möglichkeit in der Infektiologie des Ospedale Niguarda zu hospitieren. Dort durfte ich eine Ärztin die ganze Sprechstunde durch begleiten. Hier in der Infektiologie Sprechstunde werden schwerpunktmäßig Personen die eine vermutlich akute sexuell übertragbare Infektionskrankheit wie zum Beispiel: Chlamydien, Gonorrhö und Syphilis haben gesehen, getestet, beraten und behandelt. Menschen mit einer HIV-Infektion in allen Stadien (erste Diagnose oder bereits in der Therapie) werden in der gleichen Station behandelt. Dort konnte ich leider nicht hospitieren. Zwischen den akuten Patienten kam auch einige Prep User zur Sprechstunde. Neben den uns bereits bekannten Ablauf dieser Beratung und be-gleitenden Tests, fand ich besonders interessant, dass die Ärztin immer nach dem Gebrauch von Kondomen beim Geschlechtsverkehr fragt. Dadurch lässt sich beobachten, dass der Großteil der Prep User (ca. 3000 die hier an die Klinik angebunden sind) angibt nicht auf Kondome beim Geschlechtsverkehr trotz Prep zu verzichten. Falls bei den Begleittests der Prep eine Infektion vorliegt bekommen die Patient*innen die Therapie/Behandlung hier vor Ort oder ein Rezept zum Beispiel für benötigtes Antibiotika ausgestellt.

Es kommt auch vor, dass Personen über die Notaufnahme zur Ärztin kommen weil sie zum Beispiel eine Pep benötigen. Pep (Postexpositionsprophylaxe) ist ein HIV Medikament welches man nach einem vermeintlichen Risiko einer möglichen HIV Infektion 4 Wochen lang einnimmt. Falls es zu so einem Risiko kommt, bekommen die Personen die Pep erst in der Notaufnahme in der Klinik. 1 bis 2 Tage später kommen sie zum Termin in die Infektiologie. Das erfolgte Risiko wird genau eingeschätzt und dann entschieden, ob Pep für den genannten Zeitraum fortgesetzt wird. Mir wird erklärt, dass bei Männern die Sex mit Männern haben und es zu einem ungeschützten analen Kontakt kam, immer empfohlen die Pep bis zum Ende der 4 Wochen zu nehmen. Das gleiche gilt für Menschen die in der Sexarbeit tätig sind.

Opfer von sexueller Gewalt werden ähnlich wie bei uns in Berlin in eine Art Gewaltschutzambulanz verwiesen. Diese ist an eine andere Klinik angebunden.

Neben den bereits erwähnten Test wird hier im Zweifel auch HPV (Humane Papillomviren) getestet. Falls Personen unter Condylomen leiden werden diese an entsprechende Fachärzte verwiesen (Dermatologe, Protokologe). Hier in Italien kann man sich, wenn man einer bestimmen Risikogruppe (MSM) angehört noch, bis einschließlich 45 Lebensjahres kostenlos impfen lassen.

Personen mit einer diagnostizierten STD werden nach 2-3 Woche nochmals von der Ärztin gesehen um die Therapie zu überprüfen. Auch gibt es hier in der Sprechstunde die Möglichkeit sich gegen Hepatitis A / B impfen oder boostern zu lassen. Die Ärztin berichtet mir auch von der steigenden Problematik des Sub-stanzmissbrauches gerade bei Männern die Sex mit Männern haben (s.g. Chemsex). Falls sich Patienten ihr anvertrauen und um Unterstützung bitten, erfolgt eine Überleitung zu Psychotherapeuten. Der Verein ASA organisiert eine Selbsthilfegruppe zur Unterstützung von Menschen mit Chemsex Abhängigkeit. Die genannte Gruppe trifft sich einmal pro Woche abends und wird von einem auf Chemsex-Probleme spezialisierten Psychotherapeuten und einem ASA-Freiwilligen begleitet.

Diese Woche bekam ich auch die Gelegenheit mich länger mit zwei Freiwilligen, die beide seit über einem Jahr hier im Checkpoint beratend tätig sind zu sprechen. Mich interessierte vor allem wie man zu einem Freiwilligen werden kann. Im Grunde ist das sehr leicht. Man kann eine Art Berater*innen Ausbildung zum Beispiel bei Arcigay machen. Arcigay ist eine der größten LGBTI-Non-Profit-Organisationen hier in Italien. Bereits seit 1985 setzt sich Arcigay unterandrem für Gleichberechtigung, Selbstbestimmung und gegen Stereotype und Vorurteile gegenüber LGBTI-Personen ein, sowie gegen jede Form von Diskriminierung. Um bei Arcigay zu einem Workshop zugelassen zu werden füllt man vorher schon einen Fragebogen (online) zu Themen wie sexueller Gesundheit, LGBTI Themen, eigen Motivation aus. Eine Art Voraussortierung. Ist die „Bewerbung“ erfolgreich wird man zu einem Workshop über zwei Wochenende eingeladen. Im ersten Teil geht es im Allgemeinen gesagt über sexuelle Gesundheit, aber auch wie funktionieren Schnelltests. Im zweiten Teil wird es praktischer, die Teilnehmer*innen üben sich im Beraten üben sich in verschiedenen Situationen. (Rollenspiele)

Nach dem Workshop geht es in die Praxis dort wird zu Beginn noch einige Male hospitiert und wenn man für sich entscheidet selbst beraten zu wollen kann man damit beginnen.

Die Freiwilligen arbeiten nicht nur hier im Checkpoint, ich erfahre, dass sie auch mehrmals im Monat zum Beispiel, Tests in Bars, Clubs, Crusing Areas, an Orten an denen Sexarbeit stattfindet Tests und Beratung anbieten. Einmal im Monat treffen sich die Freiwilligen in Gruppen und erfahren eine Art Supervision. Sie können sich über schwierige Situationen austauschen und sich gegenseitig unterstützen.

Wieviel gearbeitet wird ist abhängig von der eigenen Zeit. Ich erfahre dass es gewünscht ist mindestens zwei Einsätze im Monat zu haben. Das Mindestalter beträgt 18 Jahre nach oben gibt es keine Grenze. Es gibt einige Freiwillige die bereits im Pensionsalter sind, auch Freiwillige die ganz offen mit ihrer HIV Infektion leben und umgehen.

Diese Woche bekam ich auch wieder die Möglichkeit selbst beratend tätig zu werden und es ergab sich auch eine kleine Premiere in meiner Beratertätigkeit. Ich durfte Testergebnisse mitteilen und die im Falle eines positiven Testergebnisses weiteren Schritte für die betroffene Person einleiten.
Damit ihr einen noch besseren Eindruck bekommt wie der Checkpoint und die Mitarbeiter aussehen hier ein Link zu einem Video dass diese Woche durch die WHO veröffentlicht wurde.

Gabriel Hinterdobler

21.10.2022

Die Zeit rast, heute letzter Tag der dritten Woche. Die Woche war sehr unterschiedlich.Beratungstermine mit den Kolleginnen, Teamsitzung, wo auch der Erstcheck zu vergangenen und aktuellen Fällen gemeinsam bearbeitet wurde in Fällen von sexuellem Missbrauch und dann an das Team des Jugendamtes versandt wurde.

Indikatoren sind wie bei uns, aber noch mehr Tabellen zum Ausfüllen…
Die Stiftung meninos arbeitet nicht mit Stundenkontingent.
Die Finanzierung ist durch mehrere Töpfe abgedeckt:
1. Durch die Bezahlung der Regierung (Madrid)
Madrid zahlt an alle 17 Autonomías plus Ceuta und Melilla (Kontinent Africa)
2. Die Xunta in Santiago de Compostela zahlt laut Convenio an die Stiftung.
Die Stiftung besteht aus: aus 24 Angestellten in Coruna, ca. 100 in Galizien.
Insgesamt unterstützen sie aktuell im Team von 6 Frauen 52 Familien, in Gesamt Galizien sind es 136 Familien.

Weitere Termine dieser Woche waren:
• Beratung mit dem Vater, dessen Sohn fremduntergebracht ist. 1,5 Stunden Beratung, wie er seine Stunde als Vater nutzen kann um die Beziehung zwischen seinem Sohn und sich aufzubauen.
• Zwei Tage Arbeit verbrachte ich mit der Vorbereitung der zwei Power Point Vorstellungen mit der Vorstellung unserer Arbeit und die gesetzlichen Grundlagen im Kinderschutz und welche Hilfsmaßnamen das KJHG (§18.3-§35a ) alle Hilfen…
Und eine anonymisierte Fallvorstellung. Beide Präsentationen sind für eine Konferenz kommenden Donnerstag im Jugendamt.
Gestern hatte ich einen kompletten Tag im Jugendamt und nächste Woche werde ich das Angebot nutzen bis auf meinen letzten Tag im Jugendamt zu hospitieren.
Gestern war der Tag geprägt von zwei Missbrauchsfällen, die beim Familienrichter (Tagesrichter) vorgestellt wurden. Die Polizei hat eine spezialisierte Einheit (ufam-unidad familiar atención familia y mujer) damit verhindert wird, dass die Kinder und Jugendlichen alles 1000 Mal erzählen müssen. Über Videoaufnahme plus Polizeischeibe im Familiengericht muss das Kind/die Jugendliche nur 1x berichten, was vorgefallen ist.
Auch hier haben sie im Jugendamt über 100 Familien, manche bis zu 200 Familien zu betreuen.

Neben dieser Stiftung, die die ambulante Familienhilfe erst entwickelt hat…bietet das Jugendamt noch andere Programme zur Unterstützung an.
Diese Programme werde ich nächste Woche noch kennenlernen.
Das Gebäude des Amtes (Jugendamt und Arbeitsamt) teilen sich das spacige Gebäude. Sie arbeiten in Großraumbüro in Kreisform, jedes Team von sechs Mitgliedern hat die Tische zusammen. Die Aktenführung ist aufwendig und bis die Hilfe bei den Familien ankommt dauert es lange.

Vorschau auf nächste Woche:
• Montag und Mittwoch Hilfekonferenzen im Jugendamt
• Dienstag Teamsitzung des gesamten Jugendamtes
• Donnerstag zwei Konferenzen (Vorstellung eines Falles von der Vormundschaft um die nächsten Schritte zu entscheiden im Gesamtteam)
• Anschließende meine Power Point Präsentation
• Freitag letzter Tag mit Abschied mit tapas salir a los bares
Entscheidender Unterschied: Die Teams sind multidisziplinär bestehend aus Sozialarbeiter*innen, Psycholog*innen und Anwält*innen. Das Gehalt ist gleich und über die Convenios geregelt.

Die Arbeit im Kinderschutz wird neben 80 Euro extra monatlich mit 11 Tagen extra zum Jahresurlaub von 30 Tagen honoriert. Außerdem erhalten sie extra Tage (Bürgertage) um private Angelegenheiten zu regeln.
Das Gehalt ist sehr niedrig, die Preise im Supermarkt sind fast gleich hoch wie in Deutschland. Alle Preise sind gestiegen, wie Mieten, Strom, Gas und Heizöl….

Katja Werner

Konferenz

21.10.2022
Die Bildungsgrätzl (Bildungsnetzwerke) in Wien
In meiner letzten Hospitationswoche in der Wiener Kinder- und Jugendhilfe (WKJH) konnte ich u.a. an einem Bildungsgrätzl (…ist das nicht ein hübsches Wort…) – Netzwerk- Tag teilnehmen.

Im „Haus der Begegnung“ in Mariahilf (das ist im 6. Bezirk) fand am 19.10. eine Auftaktveranstaltung für ein neues Bildungsgrätzl statt. Die Beteiligung war groß. Mit einleitenden Grußworten des Vizebürgermeisters und amtsführenden Stadtrat für Bildung, Jugend, Integration und Transparenz, Christoph Wiederkehr wurde das Netzwerk eröffnet.

In drei Gesprächsrunden zu jeweils acht verschiedenen Themen fand ein intensiver Erfahrungsaustausch statt. Themen waren z.B. „Mitmachen, aber wie?“; „Wie Stadtplanung und Bildung zusammenarbeiten möchte“, „Ideen für Kooperationen mit Unternehmer*innen“, „Mentoring für Jugendliche“, um nur einige zu nennen. Auch sogenannte best practice Beispiele aus anderen Netzwerken wurden vorgestellt. Im begleitenden Rahmenprogramm konnten sich die Teilnehmenden an verschiedenen Infoständen zu z.B. zu Bildungsgrätzl-Förderung, zur Mobilitätsagentur oder zur Wiener Gesundheitsförderung informieren. Ziel war, wie gesagt, die Gründung eines Bildungsgrätzl-Netzwerks im 6. Bezirk.

Da in der Stadt Wien die Bereiche Jugend (und dabei die offene Jugendarbeit, mobile Jugendarbeit und Parkbetreuung) und Bildung in der MA13 (Magistrat 13) zusammengefasst sind, werden die Bildungsgrätzl von dieser Magistratsabteilung koordiniert, bzw. angeschoben. Die Betreuung der Bildungsgrätzl obliegt dann in der operativen Arbeit zumeist den Volkshochschulen oder anderen Bildungseinrichtungen in den jeweiligen Bezirken.
Natürlich habe ich auch in dieser Woche noch viel mehr interessante Einblicke in die Wiener Kinder- und Jugendhilfelandschaft erhalten können. Da wäre z.B. noch eine interessante Hospitation in der Servivestelle der WKJH zu nennen. Die Servicestelle ist so ähnlich, wie unser Familienservicebüro aufgebaut, weiterhin konnte ich einen Einblick in die Öffentlichkeitsarbeit und in die Qualitätssicherung der WKJH erhalten.

Die Ausführungen dazu werde ich in meinem Gesamtbericht einfügen, denn sie würden hier den Rahmen der Mitteilungen sprechen.
Ja und nun heißt es für mich: Baba Wien. Die Zeit ist so schnell verflogen und ich bin froh einen so breiten Einblick in die Arbeit der Wiener Kinder- und Jugendhilfe erhalten zu haben. Ich habe viele sehr nette Kolleg*innen kennengelernt und wurde in allen Bereichen und Einrichtungen stets sehr herzlich empfangen. Und da das Interesse an der Arbeit der Jugendhilfe in Friedrichshain-Kreuzberg auch immer sehr groß war, waren meine Hospitationen stets sehr intensive Austauschgespräche unter Fachkolleg*innen. Das hat viel Spaß gemacht.
Birgit Bosse

Lausanne

18.10.22

Diese Woche war ich im Bereich Périnatalité eingesetzt, das bedeutet, alles rund um die Geburt, was den gesamten Zeitraum der Schwangerschaft, Geburt, Wochenbett und Postpartalzeit (bei PROFA bis zum 6. Lebensmonat des Kindes) einschließt. Ich habe dabei die Périnatalité in Aigle, in Renens und in Yverdon-Les-Bains kennengelernt. Aigle lag wieder in einem Tal umgeben von Bergen nahe an der französischen Grenze, Yverdon-les-Bains am Neuenburger See. Renens ist quasi der Sitz der Leitungsebene plus Beratungszentrum, dadurch ist das Team dort viel größer. In allen perinatal-Teams wird immer im Tandem Hebamme – Sozialarbeiterin gearbeitet, d.h. jede Frau bekommt einen Termin bei der Hebamme und bei der Sozialarbeiterin (assistante sociale, AS) angeboten, manche nehmen aber auch nur eins davon in Anspruch. Wichtig ist dabei, dass die Frauen oft trotzdem noch außerhalb „freie“ Hebammen haben, wobei in der Schweiz (zumindest im Kanton Waadt/ Vaud) hier der Fokus eindeutig auf dem Wochenbett liegt und weniger, wie in Deutschland möglich, Teile der Schwangerenvorsorge von den Hebammen übernommen werden. Die Hebammen bei PROFA heißen auch „sage-femme conseillère“ (SFC), was so viel wie beratende Hebamme heißt. Nach der Geburt werden die Frauen zuhause von ihren freien Hebammen betreut und suchen PROFA vor allem für eine Beratung durch die Sozialarbeiterin auf, da es dann um die individuelle Elterngeldberechnung geht oder um Kommunikation mit dem Arbeitgeber. Es wird auch nach dem Geburtserlebnis gefragt. Im Bereich Périnatalité konnte ich die größten Unterschiede zu Deutschland bzw. Berlin feststellen. Zum einen ist die Schwangerenversorgung hier nicht auf Frauen ohne Krankenversicherung fokussiert, da es das in der Schweiz quasi nicht gibt. Das Gesundheitssystem ist stark gestaffelt, es gibt für alle eine Art Basis-Krankenversicherung, die sich Besserverdiener dann komplementär aufstocken, was sehr weit verbreitet ist (auch weil Zahnarztbesuche im Basistarif gar nicht enthalten sind). Jede und jeder muss für sich selbst festlegen, wie hoch er oder sie die Grenze für die finanzielle Selbstbeteiligung legt, was dann die Monatsbeiträge beeinflusst. Es ist vom Kanton vorgesehen, dass jede Schwangere die Beratung durch eine SFC und AS in Anspruch nehmen kann, wobei natürlich dennoch nicht alle Frauen erreicht werden. Die Berechnung des Elterngelds und des Mutterschutzes ist sehr individuell und wird erst nach der Geburt festgelegt, da es vom Geburtstermin abhängt, ob die Frau noch bis zum Monatsende verlängern kann. Prinzipiell haben die Frauen 14 Wochen Mutterschutz, währenddessen sie auch 100% der Bezahlung erhalten, danach gehen aber viele Frauen auch zurück in den Job. Manche bekommen von ihrem Arbeitgeber, wenn sie bei großen Firmen arbeiten, noch einen Monat „geschenkt“. Andere beschließen noch ein paar Monate unbezahlt oder teilfinanziert dranzuhängen. Ich war sehr überrascht, dass viele Frauen nach 14-18 Wochen wieder arbeiten gehen und die wichtige Zeit des Bindungsaufbaus scheinbar hinter der Wirtschaftlichkeit zurückstehen muss. Als ich erzählt habe, wie es bei uns ist, waren manche Kolleginnen ganz begeistert. Diese Begeisterung legte sich, als ich erwähnte, dass es meist nur 60% des Gehalts während der Elternzeit gibt. Der Kanton Waadt ist wohl der einzige, der ein zusätzliches Unterstützungsprogramm hat, mit dem man das Elterngeld aufstocken kann. Dafür gibt es in der Schweiz noch eine andere Besonderheit: Frauen haben das Recht, Stillzeiten oder Zeiten für das Abpumpen der Muttermilch als Arbeitszeit abzurechnen. Dafür stehen ihnen je nach Länge des Arbeitstags zw. 30 und 90 min zu, welche während oder morgens vor bzw. nach der Arbeit genommen werden können. Einen Mutterschutz vor der Geburt gibt es nicht, viele Frauen werden aber von ihrer Gynäkologin krankgeschrieben, um die letzten Wochen vor der Geburt nicht mehr arbeiten zu müssen. Insgesamt war ich diese Woche bei mehreren Beratungen mit Schwangeren oder Familien, die gerade Nachwuchs bekommen haben, dabei. Besonders interessant fand ich dabei die Gespräche der Hebamme mit den Frauen, da hier auch auf psychologische Komponenten eingegangen wurde. Z.B. ging es dabei um psychische Belastungen in der Schwangerschaft, vorangegangene Fehlgeburten, das Warten auf die Geburt, die partnerschaftliche Beziehungsqualität und Unterstützung o.ä. Eine Psychologin, die bei psychischer Belastung in der Schwangerschaft Beratung anbietet, wie ich das in Berlin mache, gibt es bei PROFA so nicht. Dafür wird immer an externe vermittelt.
Bei einem Gespräch mit der Leitung des Bereichs Périnatalité wurde mir erklärt, dass hier auch nach den DOTIP-Prinzipien zum Umgang mit häuslicher Gewalt gearbeitet wird und die Bereiche hier vernetzt sind. Ebenfalls werden Workshops und Gruppen für werdende Eltern angeboten wie z.B. die „Ateliers Futurs Parents“, welche in Kooperation mit MenCare Suisse für werdende Mütter und Väter einzeln angeboten werden und welche keine Geburtsvorbereitungskurse sind, sondern auf das Muttersein und Vatersein vorbereiten. Leider hatte ich nicht die Gelegenheit an einem solchen Workshop teilzunehmen.
Insgesamt war es ein wenig enttäuschend, dass ich aus unterschiedlichen Gründen in die psychologischen Bereiche bei PROFA so wenig reinschnuppern konnte. Umso mehr habe ich mich gefreut, dass ich als Abschluss meiner Hospitation an der teils anonymen Gruppe teilnehmen konnte, bei der Männer, welche in Beziehung mit einer Frau leben oder gelebt haben, jedoch homosexuell sind oder eben Sex mit Männern haben, sich in vertraulichem Rahmen austauschen können. Besonders spannend und lehrreich war dabei, dass die Männer, welche (bis auf einen Mann Mitte 20) alle zwischen 50 und 75 Jahren waren, zum einen an ganz unterschiedlichen Punkten ihres Coming-Out standen, aber auch ganz unterschiedliche Lebensmodelle bevorzugten. Nicht jeder strebte ein komplettes Coming-Out an, manche hatten ihre Frau bereits eingeweiht, andere nicht, manche wollten mit ihrer Frau zusammen bleiben, manche nur räumlich, andere gar nicht. Für die neueren Mitglieder der Gruppe war es eine große Bereicherung, die Erfahrungen der anderen zu hören. Es war eine unterstützende Atmosphäre, die zwischen ausgelassenen Momenten und Momenten der Trauer wechselte. Für eine solche Gruppe gäbe es sicher auch in Berlin Bedarf.

Tamar Bloch

17.10.2022

Meine Hospitationsreise brachte mich in der dritten Aufenthaltswoche in Wien wiederrum mit zwei sehr interessanten Angeboten in Kontakt. Ich möchte zum einen von der Arbeit des Schulkooperationsteams (SKT) berichten und zum anderen die Mobile Arbeit mit Familien vorstellen (MAF).
Schulkooperationsteams (SKT) unterstützen bei Konflikten in der Schule. Sie sind Ansprechpersonen für Lehrkräfte, die bei Bedarf die Eltern der Schüler*innen kontaktieren.

Wenn Lehrkräfte die Mitarbeiter*innen des Schulkooperationsteams kontaktieren, arbeiten diese gemeinsam mit den Kindern und Jugendlichen, ihren Eltern und Lehrer*innen an guten Lösungen. Die Zusammenarbeit erfolgt auch in Verbindung mit den Schulsozialarbeiter*innen der Stadt (diese sind in der Regel bei freien Trägern beschäftigt).

Der Fokus der Arbeit des Schulkooperationsteams liegt in drei Schwerpunkten
1. Lehrer*innen werden bei der fachlichen Einordnung und psychosozialen Bearbeitung von problematischen und auffälligen Verhaltensweisen von Kindern und Jugendlichen in Schulen unterstützt
2. Eltern werden in der Verantwortung für ihre Kinder gestärkt
3. Kinder und Jugendliche werden von Beginn an in die Gespräche einbezogen und es wird gemeinsam an Lösungen gearbeitet
Darüber hinaus arbeiten die SKT sehr vernetzend im Sozialraum, z.B. Teilnahme am Jugendregionalforum, Teilnahme am Bildungsnetzwerk.
Die Mitarbeiter*innen des Schulkooperationsteams sind ausgebildete Sozialarbeiter*innen, die vorher in Bereichen der Jugendhilfe und des regionalen sozialen Dienstes gearbeitet haben müssen. Sie sind Angestellte des öffentlichen Dienstes, der Wiener Kinder- und Jugendhilfe (WKJH).
Die SKT´s haben ihren Sitz in den Familienzentren der jeweiligen Region. Sie führen aber auch Hausbesuche durch und beraten Familien oft in sogenannten Andockstellen, also wenn das Kind z.B. am Nachmittag einen Sportverein besucht, dann findet Gespräche auch in Räumen des Sportvereins statt.

Da die WKJH in sechs Regionen aufgeteilt ist, gibt es auch entsprechend sechs Schulkooperationsteams. Insgesamt sind 20 Vollzeitäquivalente Kolleg*innen in den Schulkooperationsteams der Stadt beschäftigt.
Das Konzept Schulkooperationsteams besteht erst seit 2019. Durch die corona-Pandemie und die damit verbundenen Einschränkungen war der Start der Arbeit entsprechend kompliziert. Nach und nach entwickeln sich aber in vielerlei Hinsicht tragfähige Beziehungen in der Zusammenarbeit: Die Kolleg*innen sind in den jeweiligen Schule bekannt, Clearingespräche werden von den Lehrer*innen immer mehr genutzt und als entlastend empfunden, in den Gesprächen mit den Eltern und Kindern können wieder Angebote vermittelt werden (z.B. soziale Gruppenangebote, Freizeitangebote…) und für die Wiener Kinder- und Jugendhilfe stellen die Kolleg*innen ein starkes Netzwerk dar, welches eine wertvolle Unterstützung für die Sozialarbeiter*innen im Jugendamt bietet.

Die Kolleginnen des SKT beschreiben die professionelle Zusammenarbeit in Netzwerken mit den Worten: „Wenn man sich kennt, wenn man sich auch ab und zu in den Gremien sieht, also wirklich sieht, und wenn man dann über Themen und Probleme spricht, sich austauscht, dann hat man das Problem damit nicht einfach an den Kooperationspartner abgegeben, sondern man hält es gemeinsam mit dem Koop-partner aufrecht und es stellt sich eine Beziehungsebene her, die über den Austausch hinaus gemeinsames Handeln möglich macht“.

MAF (Mobile Arbeit mit Familien), eine ambulante Unterstützung
Die MAF ist eine ambulante Ressource im Betreuungsnetz der Regionalstelle (RS) der Wiener Kinder- und Jugendhilfe. In dieser ambulanten Familienarbeit ist die Zusammenarbeit von Familie, zuständiger Sozialarbeiter*in (aus der RS) und MAF von zentraler Bedeutung.

Die zuständige/ fallführende Sozialarbeiter*in der RS trifft im Rahmen des gesetzlichen Auftrags der Kinder- und Jugendhilfe Entscheidungen, formuliert Ziele und Veränderungen, welche von der Familie umgesetzt werden sollen, um eine Kindesgefährdung abzuwenden. Von der MAF wird die betreuende Funktion übernommen, die beim Umsetzen der Ziele unterstützend ist.
Für eine gelungene Kooperation ist ein guter Austausch und die fachlichen Einschätzungen beider Kolleg*innen wichtig, um jeweils fundierte Einschätzungen über die weitere Vorgehendweise zu erhalten.
Die Mobile Arbeit mit Familien findet einerseits im Rahmen einer vorgaben- und aufgabenbezogenen Maßnahme statt, z.B. Unterstützung der Erziehung (UdE). Andererseits geht es um Empowerment zur Wiedererlangung von Selbstbestimmung der Familie.

Das Ziel der MAF ist es, die Familien in ihrer Erziehungskompetenz zu stärken. Dabei unterstützt die MAF die Familie, zur Wiedererlangung der Eigenverantwortung, um möglichst unabhängig von fremder Hilfe zu werden. Kompetenzen, Stärken Ressourcen und somit Handlungsfähigkeiten sollen aufgebaut und ausgebaut werden. Die MAF macht somit Betreuung, aber auch Beratung und Begleitung der Familien.

Die MAF arbeitet mobil, d.h. die Wahl des Ortes ist je nach Situation flexibel. Möglich sind Treffen in eigenen Räumen der MAF, die sehr freundlich, einladend und barrierefrei gestaltet sind. Möglich sind aber auch Hausbesuche, die Kolleg*innen berichteten da z.B. von alleinerziehenden berufstätigen Müttern, die sie zu Hause besuchen. Die Kolleg*innen begleiten zu Behörden, Einrichtungen und führen auch gemeinsame Unternehmungen durch, z.B. Freizeitgestaltung mit den Familien. Dafür gibt es kleine Budgets, z.B. um den Eintritt in den Tierpark für die Familien zu finanzieren.
Zu jeder Regionalstelle der Wiener Kinder- und Jugendhilfe gehört eine MAF. Damit gibt es insgesamt 17 MAF-Teams in der Stadt, die Teams bestehen in der Regel aus vier Vollzeitstellen, die Kolleg*innen sind Angestellte der Stadt Wien. Eine Vollzeitstelle betreut ca. 10 Fälle. Die Fallbetreuung beläuft sich auf einen Zeitraum bis zu einem Jahr, oder auch mal darüber hinaus.
Neben diesen öffentlichen Angeboten der ambulanten Hilfe gibt es in der Wiener Kinder- und Jugendhilfe aber auch noch verschiedenste freie Träger, die dann eher sehr spezielle Angebote vorhalten und in dem jeweiligen Kontext zur Unterstützung der Aufgaben der MAF hinzugezogen werden können, z.B. Coaching Angebote; besondere Angebote für Familien mit neugeborenen Kindern; Lerntrainings; Psychotherapie.

So weit meine Eindrücke aus der dritten Hospitationswoche. Die Zeit rast nur so dahin und bald ist der schöne Aufenthalt in Wien vorbei. Deshalb sage ich noch einmal:

Baba aus Vienna, Birgit Bosse,

Schaubild Prep

15.10.2022

Ciao a tutti!

Die zweite Woche geht recht schnell zu Ende. Bevor ich davon berichte, möchte ich noch kurz von einer Wohltätigkeitsveranstaltung am vergangen Wochenende berichten. ASA Onlus ist ein hier ansässiger Verein, der sich seit 1985 aus solidarischen Gründen für HIV Positive und an Aids erkrankte Menschen einsetzt. Einmal im Monat veranstaltet der Verein eine Art Flohmarkt. Es werden allerlei Dinge zum Verkauf, aber überwiegend Kleidung angeboten. Als leidenschaftlicher Flohmarktgänger, bin ich der Einladung meiner Kolleg*innen hier im Checkpoint gefolgt und wurde nicht enttäuscht. Ich kaufte ein paar wirklich schöne Kleidungsstücke zu einem top Preis. Die erzielten Einnahmen kommen unter anderem auch dem Checkpoint zu Gute. Im Nachhinein erfuhr ich, dass sich der Verkauf an dem Tag richtig gelohnt hatte.

Diese Woche war recht ähnlich den bereits beschriebenen Inhalten der letzten Woche. Die Personen die Interesse an der Prep, einfacher Beratung zum Thema sexuellen Ge-sundheit, einer Testung oder auch an einem psychologischen Gespräch haben, buchen vorab einen Termin online und kommen dann in den Checkpoint. Ähnlich wie bei uns im Zentrum für sexuelle Gesundheit und Familienplanung kommen auch Menschen ohne Termin mit ihren Sorgen und Nöten, es wird versucht diese zeitnah zu versorgen oder ein individueller Termin wird vereinbart.

Auf dem Foto seht ihr ein Schaubild welches hier ziemlich oft in der Prep Beratung ein-gesetzt wird. Es verdeutlicht den Usern in welchem zeitlichen Rahmen die Prep einge-nommen werden muss bzw. sollte. (Foto.)

Ich hospitiere in Beratungen, bei Testungen und führe kleine Interviews mit den unter-schiedlichen Professionen. Dabei lernte ich eine Infektiologin eines großen Mailänder Krankenhauses kennen. Sie erzählt mir, dass sie wenn sie es schafft mehrere Schichten im Monat hier im Checkpoint abdeckt. Es gibt ca. 10 Ärzte aus den unterschiedlichen Kli-niken in Mailand die hier den Dienst unter sich aufteilen. Sie führen die Tests zur Prep durch und beraten bei medizinischen Fragen oder schreiben Überweisungen für die Kli-niken. Falls Klient*innen symptomatisch in den Checkpoint kommen, vereinbaren sie auch zeitnahe Termine in der Klinik. Auf einem sehr kurzen, direkten Weg.

Sie berichtet von einer Neuerung in der Therapie von HIV. Wenn positive Personen möchten und es das passende Medikament ist, kann HIV hier seit Juli 2022 mit einer De-pot Spritze therapiert werden. Das heißt, Personen die HIV positiv sind bekommen alle acht Wochen eine Spritze. Natürlich müssen diese Personen zuvor erfolgreich antiretro-viral behandelt sein und auf die gegebenen Wirkstoffe eingestellt werden. Das ist ein toller Erfolg. Für viele Menschen eine Entlastung, nicht mehr jeden Tag bis zu zwei Tab-letten einnehmen zu müssen, geschweige denn jeden Tag daran denken zu müssen.

Anders als die bei uns bekannten Schwerpunkt-Praxen, geht man hier in Italien mit einer HIV Infektion in eine Klinik und wird dort von Anfang an versorgt, das heißt man be-kommt die Routine Kontrolle alle drei Monate (inklusive Check der Blutwerte vor allem Nieren- und Leberwerte) und seine (Therapie) Medikamente und STI Check in der Klinik.

Auch wird mir diese Woche das enorme Pensum an Öffentlichkeitsarbeit meines Anlei-ters erst so richtig bewusst. Ich möchte folgend zwei Beispiele dafür nennen, zuerst die Veröffentlichung seinen ersten Onlineartikel über die Prep. Hier der Link: https://www.gay.it/prep-proteggersi-dallhiv-oltre-al-preservativo (in Italienisch)

Zum Ende der Woche war er zu einer Preisverleihung (Comunity Award) eines bekann-ten Pharmazie- und Biotechnologieunternehmen geladen. Neben der Auszeichnung gab es auch noch eine große finanzielle Unterstützung für die Arbeit des Checkpoints.

Ich fand diese Woche auch noch Zeit, um mich mehr mit dem bereits erwähnten Frage-bogen den die Klient*innen vor der Testung ausfüllen zu Beschäftigen. Im Grunde ist dieser unserem im Zentrum für sexuelle Gesundheit und Familienplanung verwendeten Fragebogen schon sehr ähnlich. Es wird nach dem Grund für den Test gefragt, Ge-schlecht, Nationalität usw. Einige Fragen gehen dennoch mehr in die Tiefe und sollten immer gut mit den Klient*innen besprochen werden: z.B. ob es schon mal einen Aufent-halt im Gefängnis gab, ob man selbst in der Sexarbeit oder Beschaffungskriminalität tätig ist.

Einen großen Vorteil finde ich, dass die Klient*innen diesen Fragebogen (anonym) auf Tablets ausfüllen. Dass ausfüllen des Fragebogens, ist allerdings anders als bei uns verpflichtend. Die Angaben werden gleichzeitig auf einer Datenbank gespeichert und können so für Datenerhebung und auch Studien genutzt werden. Mein Anleiter zeigt mir in einer freien Minute mit ein paar Klicks Grafiken wie zum Bespiel: so und so viele Per-sonen machten hier im Checkpoint zum ersten Mal einen HIV Test, so und so viele hat-ten ungeschützten Geschlechtsverkehr usw.

A Presto e cordiali saluti, Gabriel Hinterdobler

Freifläche Offen Wien

10.10.2022

Aus meiner zweiten Hospitationswoche in Wien möchte ich von zwei Erkundungen berichten, zum einen habe ich das relativ neue Gebiet des „Nordbahnviertels“ besucht und zum anderen konnte ich einen Eindruck von zwanzig Jahren Streetworkarbeit in Wien gewinnen.

Das Nordbahnviertel ist 85 Hektar groß und ganz nah am Zentrum. Es ist teilweise noch im Bau. Über den Nordbahnhof verlief bis 1918 der wichtigste Personen- und Güterverkehr. Die einstigen Verbindungen verloren aber insbesondere nach 1945 ihren Nutzen bzw. wurden in den letzten Jahrzehnten in andere Terminals verlegt. Somit konnte das Nordbahnhofgelände zu anderen, mit der Wiener Stadtverwaltung vereinbarten Nutzungen verkauft werden (vielleicht lässt sich die Geschichte ein wenig mit unserem Gebiet am Gleisdreieck vergleichen). Ein neues Wohn- und Gewerbegebiet für insgesamt 40 000 Menschen ist im Entstehen. In Wien spricht man dann von einem neuen „Grätzl“. Die Gestaltung der verschiedenen Flächen und Anlagen wird weitestgehend unter dem Aspekt der Mehrfachnutzung geplant und angelegt. Eine zentrale Möglichkeit bietet dabei der Bildungscampus „Christine Nöstlinger“ mit Musikschule, Kleinkindgruppe und Sonderpädagogik. Hier können die Freiflächen auch am späten Nachmittag und an den Wochenenden von Kindern, Jugendlichen und Familien genutzt werden, wie das Freiflächenplakat am Zaun des Campus zeigt.

Das Quartiersmanagement ist erste Anlaufstelle im Grätzl und sorgt für Belebung, z.B. Organisation von Straßenfesten. Die Kolleg*innen kümmern sich aber auch um das Erdgeschoßmanagement und sorgen für die Installierung eines bunten lebendigen Mix aus Geschäften, Gastronomie und Dienstleistungen. Finanziert wird das Quartiersmanagement von den Bauinvestoren des Gebiets. Na ja und dann gibt´s da noch den alten Wasserturm, der letzte bauliche Rest des alten Nordbahnhofs. Er steht unter Denkmalschutz und eine Nachnutzung steht im Raum. Ich finde, da könnte Wien sich von der Nutzung unseres Wasserturms in der Kopischstraße in Kreuzberg gute Anregungen zur Nutzung für die Jugendarbeit holen.

20 Jahre „Streetwork Wieden“
Der Wiener Verein „Rettet das Kind“ wurde schon 1957 gegründet. Bereits 1978 hat der Verein „streetwork“ in die Wiener Jugendlandschaft eingeführt. Seit 20 Jahren betreibt der Verein nun auch Jugendtreffs (vier Jugendtreffs und fünf stadtteilorientierte Streetworkeinrichtungen). Unter anderem wurde 2002 auch „Streetwork Wieden“ gegründet. Dieses Angebot liegt im 5. Bezirk und somit im Gebiet meiner Hospitationsstätte der Wiener Kinder- und Jugendhilfe MA11. Grund genug zu schauen und Grund genug mitzufeiern.
Die Anlaufstelle befindet sich in der Belvederegasse 24 und verfügt über Treffpunkt- und Beratungsräumlichkeiten, sowie einen eigenen Trakt für Gruppen- und Cliquenarbeit. Dieser bietet den Jugendlichen eine Küche samt Essbereich, WLAN, Tischtennis- und Fußballtische, eine Dartscheibe, eine DJ- und Musikstation sowie Sitzgelegenheiten mit Brett- und Gesellschaftsspielen. „Streetwork Wieden“ hält Kontakt zu vielen Jugendlichen und ist im Grätzl gut bekannt. Einige Jugendliche die am Nachmittag zum Feiern gekommen sind, wurden schon vor Jahren von ihren großen Brüdern zur Einrichtung mitgenommen. Entsprechend hoch ist die Identifikation mit dem Ort, mit dem Angebot und mit der Einrichtung. So haben die Jugendlichen z.B. in Vorbereitung auf die 20 Jahresfeier den Innenhof mit eigenen Graffitis frisch gestaltet. Im Gespräch mit den Kolleg*innen habe ich natürlich auch danach gefragt, was sich aus ihrer Sicht in der Arbeit mit den Jugendlichen verändert hat in den letzten Jahren. Und ein Kollege, der eigentlich erst seit fünf Jahren bei Streetwork Wieden arbeitet, berichtete, dass der vielfältige Einfluss der digitalen und virtuellen Welt die Beziehungsarbeit mit den Jugendlichen immer mehr erschwert und er sagt, dass selbst er „da auch nicht immer so schnell hinterherkommt“.
Es bleibt abzuwarten, wie sich die Streetworkarbeit in den nächsten Jahren entwickelt. Nach meinem Besuch hatte ich schon den Eindruck, dass solche Art der Angebote trotz Weiterentwicklung der virtuellen Realität immer noch sehr gut ankommen und immer noch weiter gebraucht werden.

Zum Schluss möchte ich noch darauf hinweisen, dass gestern der neue (alte Bundespräsident für Österreich gewählt wurde. Der Amtsinhaber Alexander Van der Bellen wurde im Amt bestätigt. Wahlberechtigt sind übrigens österreichische Staatsbürger*innen, die spätestens mit Ablauf des Tages der Wahl das 16. Lebensjahr vollendet haben.

baba aus Wien

Birgit Bosse

Rotterdam

10.10.2022

Guten Morgen, nun wieder aus Berlin! Ich blicke zurück auf den Verwaltungsaustausch und bin noch einen Bericht aus meiner vierten und letzten Woche schuldig.

Leider lief in dieser Woche nicht alles wie geplant, da ich erkrankte. Ich musste also einige Termine verschieben und mein Programm etwas reduzieren. Zum Ende der Woche ging es besser, so dass mein geplanter Besuch in Rotterdam stattfinden konnte. Dort traf ich den Radverkehrsbeauftragten der Stadt sowie einen der dortigen Berater für Radverkehr (Adviseur Mobiliteit). Diese Beraterstellen sind wirklich interessant und es gibt dazu eigentlich kein Gegenstück in meiner Heimatverwaltung. Die Berater haben die Aufgabe, die Projektleiter aus der Projektabteilung der Stadt optimal mit allem notwendigen Wissen auszustatten, um der Projektleitung bestmögliche Ergebnisse zu ermöglichen. Sie wissen also im Zweifel notwendige Maße, können zu Führungsformen, Netzfunktion oder Ähnlichem Auskunft und Entscheidungshilfe geben. Ein Projektleiter holt sich so alles notwendige Wissen bei den verschiedenen Beratenden ab und führt das Projekt durch. Die Projektleiter kommen aus einem Pool und führen nicht nur Radverkehrsvorhaben zum Erfolg, sondern jegliche Bauaufgaben, die die Stadt ausführen möchte. Die Arbeit ist also vielfältig, jedoch muss ein Projektleiter nicht Experte bis ins Detail sein, da es ja die jeweiligen BeraterInnen gibt.

Rotterdam ist bei ihrer Transformation von einer auf das Kraftfahrzeug ausgerichteten Stadt hin zu einer lebenswerten Stadt viel näher dran an Berlin, als Utrecht. Aus diesem Blickwinkel ist die Stadt sehr interessant für Berlin. Vieles der in Utrecht gelebten Realitäten scheint für Berlin unerreichbar, währenddessen Rotterdam sich in einem Zwischenstadium befindet, zwar ungefähr mit zwei Jahrzehnten Vorsprung zu Berlin, aber eben nicht drei bis vier Jahrzehnte, wie es in Utrecht der Fall ist.

Wie in Berlin finden sich in Rotterdam große Schneisen durch die Stadt, die in den vergangenen Jahrzehnten mit Kraftfahrzeugverkehr gefüllt wurden. Stück für Stück reduziert Rotterdam jedoch den motorisierten Verkehr in der Stadt und stellt mehr Fläche für Grün, für Flanieren und Radverkehr zur Verfügung. Ein schönes Beispiel ist der Coolsingel Boulevard – früher mit zwei Fahrstreifen pro Richtung, zusätzlich Parken, und in der Mitte eine Tramlinie. Man entschied sich, den Verkehr auf eine Seite der Tram zu legen, und die komplette andere Seite dem Rad- und Fußverkehr zur Verfügung zu stellen, sowie mehr Bäume zu pflanzen. Im Prinzip wurde dort bereits jenes umgesetzt, was für die Skalitzer Straße, die Schönhauser Allee oder das Hallesche Ufer diskutiert wird und hier in zehn bis zwanzig Jahren ebenfalls umgesetzt werden wird. Ein Blick dorthin lohnt also unbedingt! Beim Thema Fahrradparken ist die Stadt Rotterdam ebenfalls noch nicht ganz so weit, wie die Stadt Utrecht, aber immer noch unschlagbar im Vergleich mit allen deutschen Städten.

Beispielsweise ärgert man sich heute, dass das große Fahrradparkhaus im Untergeschoss unter dem Rotterdamer Bahnhofsvorplatz nur die -1 Ebene ausfüllt, und man beim Errichten des Bahnhofs nicht gleich eine 2 Ebene eingefügt hat. Nun müssen tausende weitere Fahrradstellplätze um den Bahnhof herum errichtet werden. Auch sammelt die Stadt erste Erfahrungen mit eigenen, kommunal betriebenen Fahrradparkhäusern, hat aber noch nicht wie Utrecht Check-In Systeme, automatische Erfassung der Belegung, etc. implementiert.

Hinsichtlich des Betriebs von Ampeln ist Rotterdam jedoch sehr weit und innovativ. Verbreitet sind Wartezeitanzeiger (Wachttijdvoorspeller), experimentiert wird mit grünen Wellen für den Radverkehr, rundum Grün für Fahrräder oder auch digitalen Anzeigen, die einem den kürzesten Weg über große Kreuzungen anzeigen (interessant, wenn es Zweirichtungsradwege über jeden Kreuzungsarm gibt). Wir haben uns auch vor Ort einen Verkehrsversuch angeschaut, bei dem mit massiven Betonelementen Fahrstreifen geschlossen wurden, um zu sehen, ob die Kreuzungen auch mit weniger Platz für das Kfz auskömmlich „funktionieren“. Auch diese Art von experimenteller „Operation am offenen Herzen“, auf das man im Nachhinein politische Entscheidungen wohlbegründet stützen kann, sind interessant für Berlin.

Die übrige Zeit der Woche habe ich damit verbracht, mich mit der Arbeit des Verkehrsmanagements und der Stadtingenieure von Utrecht zu beschäftigen. Ich habe beispielsweise einen Projektleiter auf eine seiner größten Baustellen begleitet und mich über Gemeinsamkeiten und Unterschiede bei Bauaufgaben in Deutschland und den Niederlanden ausgetauscht. Einem LSA Ingenieur habe ich beim Programmieren einer Ampel zugeschaut und exemplarisch zusammen mit ihm alle Schritte von Idee bis Umprogrammierung durchlaufen. Sehr interessant war, dass die allermeisten Vorgänge direkt aus dem Büro in Echtzeit vollzogen werden können. Über unser System in Berlin lächelte er und meinte, hier müsse er mich leider enttäuschen, aber dafür bekäme man in den Niederlanden seit 20 Jahren keine Ersatzteile mehr.
Als Fazit meines Aufenthalts kann man denke ich sagen, dass die Niederlande in vielen Bereich, von New Work bis Verkehr, ein Schaufenster in die Zukunft darstellen. Hinschauen und Lernen lohnt!

Natürlich kann das kein abschließendes Fazit sein, denn die vielen menschlichen Begegnungen, die vielen schönen Radtouren, das Leben in meinem kleinen Chalet auf dem Campingplatz, all das hat seinen ganz eigenen Wert und ich kann Jeder und Jedem empfehlen, regelmäßig über den Tellerrand hinaus zu schauen und nicht aufzuhören, zu Lernen.

Jens Blume

10.10.2022

Brüssel, erster Aufenthalt im Oktober
“Ach, Du gehst nach Brüssel zum Verwaltungsaustausch? Das ist ja eine riesige EU-Verwaltung dort.” So, oder so ähnlich waren die meisten Reaktionen vor meiner Abfahrt. Ich bin aber nicht in Brüssel als Hauptstadt der EU, sondern hier, um die Kommune Brüssel mit ihren Projekten in der Verkehrsverwaltung und der Aufgabe des klimaresilienten Umbaus kennenzulernen. Denn natürlich ist Brüssel von den intranationalen Organisationen EU und Nato geprägt. Natürlich prägt das auch das Stadtbild. Was dabei aber dabei manchmal aus dem Blick gerät ist, dass Brüssel eine Großstadt mit einer wirklich komplexen Vergangenheit und Gegenwart ist. Dabei ist Vieles sehr vergleichbar mit Berlin: Die Stadtstruktur, die Verwaltungsorganisation und die Art, wie Probleme angegangen (oder verschleppt) werden und wie in der Stadt mit den notwendigen Veränderungen der Verkehrsinfrastruktur und bei er klimarobusten Stadtgestaltung umgegangen wird.

Im Kern interessieren mich an meinem Aufenthalt drei Fragen, die aus meiner Arbeit im SGA Friedrichshain-Kreuzberg resultieren.
• Wie setzten die Kolleg*innen dort Verkehrsinfrastrukturen für Rad- und Fußverkehre um?
• Wie agiert Brüssel bei Projekten zur Verkehrsberuhigung?
• Wie arbeiten die Kolleg*innen im landschaftsplanenden und gestaltenden Bereich und welche Projekte zur Anpassung der Stadt an den Klimawandel gibt es?

Die vier Wochen des Verwaltungsaustausches mit LoGo Europe habe ich in zwei Phasen aufgeteilt: Zwei Wochen im Oktober und zwei Wochen im November.

Brüssel ist eine polyzentrische Stadt. Mit insgesamt 19 Gemeinden. In einer dieser Gemeinden habe ich in den ersten drei Tagen hospitiert: In Schaarbeek.
Danach war ich einige Tage in der Region Brüssel, die mit den 19 Gemeinden den gesamten urbanen Raum „Brüssel“ umfasst.

Schlussendlich hospitierte ich in der Stadtverwaltung Brüssel, die mit dem Innenstadtring, dem Fünfeck auch den klingenden Namen „Pentagon“ hat.
An den ersten Tagen in Schaarbeek habe ich zuerst den Dienstsitz der Verwaltung besucht. Das historische Rathaus liegt inmitten eines Jugendstil-Viertels auf einem sternförmig angelegten Platz de la Colignón. Dort sitzen auch die Kolleg*innen des Grünflächenamtes, mit denen ich mir einen der Parks in fußläufiger Nähe anschaute: Der Josaphatpark ist eine 1904 angelegte englische Gartenanlage mit Stadion, Spielwiesen, einem Zoo und Anlagen für Bogenschießen. Mir fällt bei dem ersten Begang auf, wie gut das Amt im Vergleich zu unserem Grünflächenbereich personell aufgestellt ist. Im Park liegen geräumige Gewächshäuser, die zur Anzucht von Stauden für Rabattenbeete genutzt werden. Im Viktoriapark in Kreuzberg haben wir eine auch in etwa die gleiche Zeit fallende Infrastruktur (errichtet 1886), allerdings fehlt uns mit einem Personalabbau von 90% des gärtnerischen Personals schon lange die Kapazität, die Stauden- und Beetbereiche so zu unterhalten, wie es der ursprünglichen Konzeption entsprechen würde. Im Josaphatpark ist aber noch etwas besonders, denn ähnlich wie bei uns im Görlitzer Park laufen hier auch Parkläufer*innen in Doppelstreife umher und sprechen – vor allem Hundehalter*innen – auf die Parkregeln an. Die Läufer heißen hier „Gardiens de la Paix“ also „Friedenswächter“ und haben ähnlich, wie bei uns in Berlin die Aufgabe, die Parkregeln zu verdeutlichen, ohne dabei wie das Ordnungsamt oder Polizei Ordnungswidrigkeiten zu verteilen. Was interessant ist: Die „Gardiens“ regeln auch – ähnlich Schullots*innen den Verkehr vor Schulen und geleiten Die Schüler*innen sicher über Fußüberwege. Vor allem gibt es in Brüssel schon das, was wir im Bezirk noch einrichten wollen: Schulstraßen, bei denen der Kfz-Verkehr vor Schulbeginn für Autos komplett gesperrt wird. Auch hier übernehmen die Gardiens die Aufgabe, die Sperrschranken zu bedienen und mögliche Konflikte zu lösen. Wenn ich im November wiederkomme, werde ich mir die Tätigkeit im „Wintereinsatz“ erneut angucken und tiefer in die Finanzierung der Friedenswächter einsteigen. Denn in Brüssel ist ebenso wie in Berlin bei den Parkläufern und den Kiezhausmeistern die Finanzierung nur zeitweilig gesichert.

Nach den Tagen in Schaarbeek traf ich mich mit der Nichtregierungsorganisation „BRAL“, die sich für die Verkehrswende in Brüssel einsetzen. 2021 hatte ich zusammen mit BRAL an mehreren Online-Konferenzen mitgewirkt, um die Berliner Pop-Up-Radwege mit den Ansätzen in Brüssel zu vergleichen.

Brüssel hat kein Mobilitätsgesetz wie Berlin, aber einen strategische Verkehrs-Gesamtplanungen für die Region Brüssel: Den Plan „GoodMove 2020 – 2030“, der für die gesamte Region und für alle Verkehrsarten Netz- und Planungsvorgaben macht. Entstanden ist dieser Plan in umfangreichen Planungs- und Beteiligungsverfahren. Die Mitarbeiter*innen bei BRAL sind mit dem Ergebnis durchaus zufrieden, sieht der Plan doch einen umfassenden Ausbau des Rad- Fuß- und ÖPNV-Netzes vor. Weiterhin sollen in insgesamt 50 Planungsebieten umfangreiche Verkehrsberuhigungsmaßnahmen unternommen werden. Inhaltlich findet der Plan also Zustimmung, aber – und auch hier gibt es große Parallelen zu Berlin – Die Umsetzung sollte aus Sicht von BRAL schneller und flächendeckender erfolgen. Dass dies durchaus passiert konnte ich mir dann bei den Kolleg*innen in der Planungsabteilung in der Region Brüssel anschauen. Der regionale Radverkehrskoordinator zeigte mir einige der insgesamt 45 Kilometer Pop-Up-Radwege, die Brüssel in der ersten Welle der Pandemie errichtete. Dabei konnten die Region auf die fertigen Netzplanungen des Fahrradroutennetzes zurückgreifen. Das hat vor allem bei der rechtssicheren Begründung geholfen. Weiterhin sperrte die Region in Zusammenarbeit mit den Gemeinden 10 Straßen für den Autoverkehr, um sie für Fuß- und Radverkehr zu öffnen. Dies fand insbesondere in der Nähe von Grünanlagen statt. Im „Bois de la Chambre“ einem Stadtwald, wurde drei hindurchführende Straßen gesperrt und dienen jetzt als hochfrequentierte Mobilitätsachsen auf denen Familien und Sporttreibende unterwegs sind. Einige dieser Straßen sind nach Rechtsklagen inzwischen wieder für den Autoverkehr geöffnet, viele jedoch als Erholungsstraßen geblieben. Auch die Pop-Up-Radwege sind inzwischen durch massiver Beton-Schrammborde zu dauerhaften Radverkehrsanlagen umgebaut. Hier waren die Kolleg*innen interessiert an unseren Ansätzen der Protektion, denn Diskussionen über das Stadtbild und die Ästhetik von Radverkehrsanlagen gibt es auch in Brüssel. Es war faszinierend, wie auch in Brüssel die Krise als Möglichkeitsfenster genutzt wurde, um zunächst Provisorien zu errichten, die in der Folgen dann zu dauerhaften Einrichtungen weiterentwickelt wurden. Überzeugt hat mich der umfassende Plan „GoodMove“, der für den gesamten Verkehrs-Umweltverbund einschließlich der Maßnahmen der Verkehrsberuhigung den Rahmen vorgibt, innerhalb dessen dann die beschriebene taktische Vorgehensweise (Ausprobieren, Beobachten, Verstetigen) greifen kann.

Allerdings gibt es dabei auch Rückschläge. In Anderlecht, einer der 19 Gemeinden scheiterte während meines Aufenthaltes eines der Verkehrsberuhigungsprojekte an zu starken Protesten. In Anderlecht waren zwei der insgesamt 50 Planungsgebiete für Verkehrsberuhigung relativ schnell umgesetzt worden. Gemäß den Prinzipien des GoodMove-Planes errichtete die Gemeinde dort ein System aus gegenläufigen Einbahnstraßen und Pollerreihen (Modalfilter), damit der Kfz-Durchgangsverkehr nicht mehr mit teils deutlich überhöhter Geschwindigkeit durch die Nebenstraßen stattfindet.
Teile der Bevölkerung vor Ort fühlten sich nicht informiert bzw. lehnten das Projekt grundsätzlich ab. Zum Abbruch des Projektes führten dann eine Vielzahl von vorsätzlichen Beschädigungen an Straßenschildern und Modalfiltern. Anderlecht ist ein armer Stadtteil und Ziel war es, gerade der Bevölkerung, die besonders auf den öffentlichen Raum angewiesen ist, einen besseren, gut gestalteten und sicheren öffentlichen Raum anzubieten. Im Gespräch mit den Kolleg*innen der Region gewann ich den Eindruck, dass die sozialen Nöte der Bevölkerung überprägend sind und Verkehrsprojekte als Maßnahmen wahrgenommen werden, die an dieser Realität nichts ändern und „von Außen“ kommen. In Schaarbeek und im „Pentagon“ laufen die GoodMove-Verkehrsberuhigungsprojekte hingegen weitaus reibungsloser. Ich werde im November tiefer in die Analyse einsteigen, um für das Verfahren der „Flächendeckenden Verkehrsberuhigung“ in Friedrichshain-Kreuzberg übertragbare Erkenntnisse zu sammeln.

Das Hauptprojekt der Region Brüssel in Fragen der Verkehrsberuhigung ist aber die Einführung von Tempo 30 Km/h für die gesamte Stadtregion. Das Projekt ist im November 2021 angelaufen und gilt mit Ausnahme für die Stadtautobahnen und einige Bundesstraßen im Brüsseler Stadtgebiet wirklich flächendeckend. Aus Deutscher Sicht ist das natürlich besonders interessant, weil nach der Straßenverkehrsordnung die Regelgeschwindigkeit von 50 Km/h innerorts nur in sehr konkret zu begründenden Ausnahmefällen (z.B. KiTa oder Schulstandorte) für Hauptstraße auf Tempo 30 Km/h reduziert werden kann. Inzwischen haben 130 Kommunen in Deutschland ihren Willen bekundet, Tempo 30 einzuführen, scheitern aber an der bundesdeutschen Vorgabe.
In Brüssel ist das Projekt nach einem knappen Jahr ein voller Erfolg. Zwar werden noch weitaus zu wenig stationäre oder mobile Geschwindigkeitskontrollen durchgeführt (wie in Berlin) und die stationären Anlagen haben noch sehr große Toleranzbereiche bzw. lösen teilweise erst bei über 45 Km/h aus, um die zentrale Brüsseler Bußgeldstelle nicht zu überlasten (ein Argument, das in Berlin auch genannt wird). Aber die Effekte sind dennoch beeindruckend: Die Durchschnittsgeschwindigkeit hat sich tatsächlich deutlich reduziert und die Anzahl von Unfällen im Stadtgebiet ist nachweislich gesunken. Der Verkehrsfluss ist besser, weil weniger Brems- und Beschleunigungsvorgänge ausgelöst werden und die Stickoxid-Emissionen, wie auch die Schallbelastung durch den fließenden Autoverkehr hat abgenommen. Diese Effekte stellen sich auch in anderen Städten, in denen die Richtgeschwindigkeit auf Tempo 30 reduziert wurde, ein. Leider waren die exakten Analysen in Brüssel noch nicht publiziert, aber ich werde den Aufenthalt im November nutzen, um dann eine gute Daten- und Argumentationsgrundlage für die Reduktion der Richtgeschwindigkeit auch in Berlin mitbringen zu können.

An den letzten zwei Tagen schaute ich mit zwei Ingenieuren der Stadt Brüssel die Projekte zur Anpassung des Straßenlandes an den Klimawandel an. Auch hier war ich von dem Mut und der Fortschrittlichkeit der Kolleg*innen beeindruckt. Der Boulevard Anspach, im Zentrum von Brüssel ist hier vielleicht das herausragendste Projekt: Direkt an der alten Börse gelegen war diese Straße bis vor drei Jahren eine vierstreifige Hauptverkehrsstraße. Nach Protesten wegen der hohen Verkehrsbelastung unternahm die Stadt Brüssel einige einschneidende Veränderungen: Die Straße und die meisten Nebenstraßen ist heute eine Zone für Fuß- und Radverkehr, der Seitenraum der Straße, dort wo vorher der Parkstreifen und eine Fahrbahn war, ist durch großflächige Beete entsiegelt. Der Charakter der Straße vorher / nachher ist komplett gewandelt, die kahle Straße von einst ist jetzt von einer zweireihigen Baumallee gesäumt. Die Bäume und Büsche aus klimaresilienten Baumarten (Amberbaum, Zerreiche) sind noch in der Anwachsphase, werden aber, wenn sie ausgewachsen sind, der quirligen Geschäftsstraße Schatten und Verdunstungskühle geben.

Der Lieferverkehr kann nur Vormittags bzw. mit Ausnahmegenehmigung in die Straße einfahren. Gesichert wird der Bereich durch versenkbare Poller, die mit Zahlencode zu öffnen sind. Die Gewerbetreibenden sind zu Beginn sehr skeptisch bis deutlich ablehnend gewesen, inzwischen ist auch hier in der Boulevard Anspach deutlich geworden, dass solche Projekte der Verkehrsberuhigung nach einer kurzen Übergangsphase den Gewerbetreibenen nutzen und in einer Straße, die zum entspannten Spazieren einlädt auch neue Geschäftsmöglichkeiten offeriert.

Mit den Projekten der Entsiegelung am Görlitzer Ufer, in der Bergmannstraße, am Halleschen Ufer und anderer Projekte der Klimaanpassung gehen wir im Bezirk ähnliche Wege. Die Ausführungsgeschwindigkeit in Brüssel hat mich beeindruckt, was zum Teil an den gut standardisierten Beteiligungsverfahren liegt und zum anderen Teil sicherlich auch darin begründet ist, dass – ausgelöst durch einen hohen politischen Handlungsdruck – das Planungsteam interdisziplinär zusammengesetzt war: Dort wurden die Kompetenzen von Landschaftsplaner*innen, Verkehrsplaner*innen und Verwaltungsleuten für das Straßenverkehrsrecht gebündelt. Dies sind Projektstrukturen, die wir in Berlin über alle Ebenen noch anstreben müssen, um wirklich schneller zu werden.
Ich habe auf meinem ersten Aufenthalt in Brüssel das Engagement der Kolleg*innen und die Geschwindigkeit mancher Prozesse dort schätzen gelernt. Interessant ist aber natürlich auch, aus den Fehlern zu lernen. Während meines zweiten Aufenthaltes werde ich die ersten Eindrücke vertiefen und insbesondere in den Bereichen Tempo 30, Schulstraßen und Klimaanpassungen im Straßenland die genauen quantitativen Ergebnisse und die Projektstrukturen dahinter genauer anschauen.

Felix Weisbrich

Milano

08.10.2022

Buongiorno,
mein Hinflug am Samstagnachmittag, von Berlin nach Mailand hatte gute 1,5 Stun-den Verspätung. Als Entschädigung dafür, begrüsste mich die Sonne und warme 24 Grad am Flughafen Linate. Der Weg, vom Flughafen zu meiner Unterkunft für die nächsten vier Wochen, im Stadtteil mit dem Namen NoLo dauerte nicht mal 45 Minuten. Das Ticket kostete mich gerade mal 2€. Generell lässt sich hier schon er-wähnen, dass das Nutzen der öffentlichen Verkehrsmittel hier günstiger ist als Zu-hause in Berlin. Maske trägt man oder trägt man nicht. Die Mehrheit verzichtet da-rauf.

Auch am nächsten Morgen, ist das Wetter wunderschön, strahlend blauer Himmel und die Sonne lachte mir schon entgegen. Von meiner Wohnung im 6. Stock kann ich sogar das Alpen Panorama sehen, welches mich ursprünglich aus Oberbayern stammend natürlich sehr freut.

Auf geht`s die neue Stadt erkunden. Wer noch nicht in Mailand war, man kann direkt die Treppen von der U-Bahn hoch zum Dom nehmen und steht vor diesen un-glaublichen Gebäude, dem Mailänder Dom.

Die neue Woche beginnt. Bei euch ist heute Tag der deutschen Einheit, ich hoffe ihr habt alle euren freien Tag genossen. Pünktlich wie ich bin, bin ich schon gute 10 Minuten vor der vereinbarten Zeit am Checkpoint. Um Punkt 10 Uhr klingele ich, doch niemand öffnet die Tür. Nachdem ich ein paar Minuten gewartet habe kontak-tiere ich meinen Anleiter per WhatsApp. Er ruft mich sofort an und entschuldigt sich (auf Italienisch) und ich verstehe fast nichts. Auf Englisch klappt es dann schon besser. Er hat mich leider vergessen und verspätet sich um gute 1,5 Stunden. Macht nichts, ich gehe ins nächste Café und bestelle mir erst mal einen Cappuccino und ein Croissant. Die Zeit nutze ich, um mir nochmal die Webseite des Checkpoints und den Social Media Auftritt (Instagram) anzusehen. Gerade die Instagram Seite ist sehr ansprechend gestaltet, hier der Link:

https://www.instagram.com/milano.checkpoint/?hl=de

Ich werde auch auf einen Post von vor ein paar Wochen aufmerksam, hier wird eine „Testnacht“ beworben, die der Checkpoint veranstaltete. Und zwar konnte man sich auf HIV, Hepatitis C und Syphilis (mit einem Schnelltest) testen lassen. Das alles abends/ nachts in einem beliebten Ausgehviertel der queeren Szene. Ein weiterer Post bedankt sich bei allen Teilnehmer*innen und es heißt an zwei Abenden wurden mehr als 300 Teste durchgeführt. Die Zeit ist auch schon fast um und ich gehe zurück zum Checkpoint.

Der zweite Anlauf klappt, mein Anleiter wartet schon vor dem Checkpoint auf mich. Er ist sehr sympathisch, wir verstehen uns auf Anhieb. Er zeigt mir die Räumlich-keiten und erklärt mir gleich, dass ab heute Nachmittag die ersten Klient*innen kommen. Davor muss er noch ein paar organisatorische Aufgaben erledigen, (Tele-fonate) mit Klient*innen die Interesse an der Prep (Prä-Expositions-Prophylaxe) haben, chatten, Termine koordinieren usw. Ich lerne einen weiteren Kollegen ken-nen, er arbeitet hier ehrenamtlich und ist eigentlich schon in Pension.

Heute Nachmittag findet die Prep Beratung statt, es ist eine Mischung aus Testung/ Beratung/ Rezept Verschreibung und natürlich der Prep Vergabe. Einen Termin dafür buchen die Klient*innen vorab online auf der Webseite, es gibt Klient*innen die zum ersten Mal die Prep bekommen (die Beratung fällt in diesem Fall ausführlicher aus) oder Klient*innen die eine Fortsetzung beziehungsweise Kontrolle der Prep bekommen.

Der erste Klient bekommt zum ersten Mal die Prep. Es wird nochmal der zuvor on-line ausgefüllte Fragebogen mit ihm durchgegangen, gefragt ob er die Prep durch-nehmen möchte oder Anlass bezogen, es wird ihm nochmal ausdrücklich erklärt was er dabei zu beachten hat. Heißt, die Prep rechtzeitig mindestens 2 Stunden vor dem Geschlechtsverkehr einzunehmen. Es wird nach Blutbild gefragt (die Klient*innen müssen ein aktuelles, umfassendes Blutbild mit relevanten Werten zum Checkpoint mitbringen) und Abfrage des Hepatitis AB Impfstatus, (es ist wichtig einen ausreichenden Schutz für Hepatitis A und B zu haben.) Es wird auf Wunsch auch eine Impfempfehlung ausgesprochen, (hier in Mailand für MSM kostenlos) und im jeweiligen Impfzentrums des Distrikts zu bekommen. Ob und wenn ja, wann die letzte Syphilis Infektion war. Es wird ein Schnelltest für HIV, HEP C und Syphilis gemacht. Im Anschluss bekommt der Klient das (Privat-) Rezept für die Prep aus-gestellt.

Da heute kein Arzt im Haus ist, kann bei Bedarf ein Arzt bei Zoom oder Skype zu-geschaltet werden. Das ist ein paarmal der Fall.

Das Ergebnis der Tests für HIV, Syphilis und HEP C sind in ca. 15 Minuten fertig, die Klient*innen warten so lange im Wartebereich. Die Chlamydien- und Gonorrhötestung findet mit Urin, rektal und oder oral Abstrich statt. Die Tests werden hier Vorort in einer Maschine ausgewertet. Mir wird erklärt, dass ca. 95% der Klient*innen für die Prep Männer sind, die Sex mit Männern haben. Eine weitere User Gruppe sind Trans-Sexarbeitende Personen.

Die Klient*innen bekommen für die Chlamydien und GO Testung die Ergebnisse am folge Tag auf ihr Telefon zugeschickt.

Es wird beim Beratungsgespräch auch immer nach der Impfung für MPX (Affenpo-cken) gefragt. Falls nötig helfen die Berater*innen den Klient*innen auch Termine für eine Impfung zu bekommen.

In der Beratung wird auch über Schutzmöglichkeiten gesprochen. Das kenne ich ja von Berlin, auch bei uns im Zentrum füllen die Klient*innen vor der Beratung bezie-hungsweise des Tests freiwillig einen Fragebogen aus.

Manch ein Klient*in erhält die Prep für 4 Monate hier vor Ort. Als Voraussetzung dafür, müssen sie an einer Studie teilnehmen. Nicht alle nehmen an der Studie teil. Die Prep muss man hier in Italien selbst bezahlen und kostet ca. 60€.

Der ausgefüllte Fragebogen (online), auch über Sexualverhalten der Klient*innen, dient gleichzeitig auch für die Statistik, alle Angaben sind natürlich anonym und nicht auf einzelne Personen zurückzuführen.

Im Laufe der Woche darf ich bei einigen Skype Interview mit Prep Interessent*innen dabei sein. Ich führe eine eigne Beratung auf Englisch :-)

Was ich selbst an mir die ersten Tage beobachten kann, da ich ja die Sprache nicht so gut verstehe, bin ich mehr offen für die Umgebung, beobachte noch genauer die Körpersprache der Menschen.

Mitte der Woche gibt es einen reinen Testtag. Die Klient*innen können sich dafür online auf der Webseite einen Termin buchen. Es gibt im 15 Minuten Takt ca. 30 Termine. Mein Anleiter erklärt mir das dieses Angebot auch überwiegend von Frauen genutzt wird, von jungen Frauen, da es in Italien unter 18 Jahren nicht ohne das Einverständnis der Eltern geht einen HIV Test zu machen. Zum vergleich ab 16 Jahren kann ein Mädchen ohne das Einverständnis der Eltern einen Schwanger-schaftsabbruch machen.

Die Klient*innen warten im Wartebereich, dort liegen immer Flyer zur Prävention zur Sexuellen Gesundheit, Werbung für Selbsthilfegruppen, Safer Use u.ä. aus, es gibt auch gratis Kondome zum mitnehmen.

Gemeinsam mit einem Mitarbeiter wird vor dem Test ein Fragebogen zum Sexual-verhalten ausgefüllt.

Die Test laufen ähnlich wie bei der Prep Vergabe ab, nur dass hier nicht auf Chlamydien und die Gonorrhö getestet wird weil diese Tests zu teuer sind. Haben Personen jedoch eine Verdacht oder Symptome werden sie gleich in die nächst mögliche Klinik verweisen.

Ich lerne eine weitere Mitarbeiterin des Checkpoints kenne, sie studiert Sexualpsy-chologie im Master und absolviert hier ihre Praxisstunden.

In der Woche ist ein HIV Schnelltest positiv, der Person wird erklärt, das diese um-gehend in der Klinik einen weiteren Test machen muss. Erst mit diesem Test kann man eindeutig feststellen ob eine HIV Infektion vorliegt. Der Arzt macht unmittelbar einen Termin für die Person in der Klinik. Die ganze Situation ist für die Person vor-stellbar schwierig, zum Glück ist eine Psychologin in Rufbereitschaft, auf Wunsch wird diese verständigt und ist auch kurze zeit später im Checkpoint und nimmt sich der Person an.

Zum Ende der Woche nimmt mich ein Mitarbeiter des Checkpoints mit in eines der größten Krankenhäuser Mailands, das Ospedale Niguarda. Zum ersten mal kann ich mit der bekannten kleinen Straßenbahn aus den 20er fahren. Ich staune nicht schlecht als wir vor diesem beeindruckenden Gebäude aussteigen. Dieser Kran-kenhauskomplex ist riesig, es quasi ein ein Dorf. Wir sind mit einem Facharzt für Infektiologie und 3 Studierenden der Bocconi Universität verabredet. Es ist ein ers-tes Treffen, mehr ein Austausch an Interessen und Ideen, gemeinsam wollen sie an einer Studie über die MPX arbeiten.

Um meine italienisch Kenntnisse zu verbessern, habe ich am Dienstag mit einem Kurs angefangen.

Die erste Woche verging wie im Flug.

Arrivederci, Gabriel Hinterdobler

Lausanne

08.10.22

Diese Woche war ich im Kompetenzzentrum HIV-STI eingeteilt. Dieses besteht aus 3 Bereichen: Checkpoint, Migration und Intimität und „Georgette in Love“. Letzteres ist ein Peers-to-Peers Programm, bei dem Jugendliche zu Multiplikatoren ausgebildet werden und dann im Nachtleben, Jugendclubs oder bei Veranstaltungen über sexuelle Gesundheit aufklären. Die Jugendlichen kommen, nachdem sie die Ausbildung mit mehreren Modulen durchlaufen haben, teils selbständig in die Räumlichkeiten, um diese zu nutzen und sich auf ihre Einsätze vorzubereiten.

Der Checkpoint ist ähnlich wie der Bereich Sexuelle Gesundheit, in dem ich in der ersten Woche hospitiert habe, nur liegt dort der Schwerpunkt auf Männern die Sex mit Männern haben (MSM, bzw. auf Französisch HSH) und auf Trans Personen. Auch hier gibt es Beratung, z.B. zur sexuellen Orientierung oder zur sexuellen Identität, sowie Testung und Behandlung. Ich war in verschiedenen Beratungsgesprächen dabei. Es gibt eine Gruppe extra für Männer, die früher mit einer Frau gelebt haben oder noch leben, aber für sich entdeckt haben, dass sie sich sexuell zu Männern hingezogen fühlen, sowie eine Gruppe zum Thema Chemsex, die von einem „Ehemaligen“ begleitet wird. Interessant ist, dass im Checkpoint wie in einer infektiologischen Praxis auch die Weiterbehandlung nach einem positiven HIV Befund durchgeführt wird, d.h. die Menschen können dort ihre feste Ärztin haben und kommen regelmäßig zu Verlaufskontrollen. Nach dem Erstbefund geht es dann darum, ein geeignetes Medikament auszusuchen, auszuprobieren und das Virus unter die Nachweisgrenze zu senken. Auch die Kommunikation über die Infektion mit dem Partner oder Partnerin, Sorgen über körperliche Veränderungen oder Nebenwirkungen können hier Thema sein.

Anschließend war ich 2 Tage im Bereich Migration und Intimität. Dieser Bereich weicht deutlich von den anderen ab, was Inhalte und Arbeitsweise angeht. Ich war am ersten Tag mit einer Kollegin eingeteilt, welche sowohl im edukativen als auch aufsuchenden Bereich arbeitet. Nachdem es vormittags um die Weiterentwicklung von Informationsmaterial ging, bin ich nachmittags mit ihr in ein Gemeindezentrum gegangen, welches quasi gleichzeitig Poliklinik, Waschsalon und Beratungszentrum ist. Dort bietet die Kollegin jede Woche niedrigschwellige Gespräche an und gibt Infomaterial, Kondome usw. heraus. Ihr Schwerpunkt ist Lateinamerika, sie berät aber natürlich auch Menschen aus anderen Regionen. Insgesamt sind die Gespräche von einem Ansatz geprägt, welcher Gesundheit als multifaktoriell betrachtet, wobei die soziale Komponente im Vordergrund steht. Solange jemand keine Wohnung hat oder einen Sorgerechtsstreit im Hintergrund, sind Themen wie sexuelle Gesundheit oft zweitrangig. Aber nicht nur aus diesem Grund wird das Thema oft nicht direkt angeschnitten: die Klient*innen kommen aus Kulturen, wo eine zu direkte Art häufig als Affront verstanden wird. Daher wird erst ein Vertrauensverhältnis aufgebaut und der Weg über weniger verfängliche Themen gewählt. Anschließend geht es aber doch um Verhütung oder wie man mit seinen jugendlichen Kindern über diese spricht. Am nächsten Tag war ich mit einem Kollegen eingeteilt, dessen Schwerpunkt auf afrikanischen Ländern liegt. Er geht neben Erstaufnahmeeinrichtungen von Geflüchteten häufig auch zu zentralen Treffpunkten der Gemeinden, zu Festen oder sogar Trauerfeiern. Häufig wird er bei diesen Gelegenheiten angesprochen und über mehrere Ecken dann an die Person vermittelt, die Beratungsbedarf hat. Mit ihm habe ich an einem Mittagessen teilgenommen, bei dem eine neue Kooperation mit einer anderen Partnerorganisation, welche in Afrika selbst tätig ist, aufgebaut werden sollte. Auch berät der Kollege andere Einrichtungen oder innerhalb von PROFA die Kollegen bei bestimmten Fällen. Insgesamt ist die Arbeit neben der Arbeit mit Klient*innen stark von Netzwerkarbeit, Wissenstransfer und Präsenz auf Kongressen, z.B. zum Thema international public health, geprägt.

05.10.2022

last but not least: Die Hospitation geht in die Endrunde und steht somit kurz vor dem Abschluss. Inzwischen freue ich mich riesig auf Zuhause, bin aber gleichzeitig froh, die Möglichkeit über den eigenen Tellerrand hinauszuschauen, gehabt zu haben. Ein bisschen schade ist, dass so langsam alles vertrauter geworden ist und nun auch schon mal private Gespräche zustande kamen. Kaum ist man richtig angekommen , muss man auch schon wieder weg. Aber so ist das nun mal mit Austauschprogrammen. Die Erfahrung und die Horizonterweiterung nehme ich natürlich mit.

Die letzte Woche steht den anderen in nichts nach. Ich lerne wieder neue Bereiche kennen. Diesmal den Fachbereich „family solutions“, hier wird, wie der Name schon sagt, nach Lösungen für Familien gesucht und das Team „children with disabilities“, also dem Team für Kinder mit Behinderungen. Den Bereich „familiy solutions“ besuche ich nicht persönlich, weil das Team an einem anderen Standort sitzt. Der Standortleiter bringt mir die Arbeitsweise in einer Videokonferenz näher. Neben dem „family solutions“ Team befindet sich auch noch das „family centre“, also das Familienzentrum, an einem anderen Standort. Diese räumliche Aufteilung soll signalisieren, dass es sich um eine niedrigschwellige Unterstützung handelt. Ausserdem sollen die Eltern sich bewusst sein, dass das Angebot „consent-based“, also freiwillig ist. Auch in England haben es Sozialarbeiter im Jugendamt mit vielen Vorurteilen zu tun. Die ganze Arbeit und Bemühungen rund um Familien mit Unterstützungsbedarf kommt auch hier in der Öffentlichkeit nicht immer richtig an.

Aber zurück zu den Fachbereichen: Im „family solutions“ Team bekommen Familien Unterstützung, die nicht im Kinderschutz angesiedelt sind. Die Methoden sind wie bei uns: Hier sind zum Beispiel der Systemische oder Ressourcen orientierte Ansatz zu nennen. Die Hilfekonferenzen nennen sich TAF (Team around the Family). Hier werden die Unterstützungsmaßnahmen geplant.

Neben den ambulanten Hilfen gibt es noch das Familienzentrum mit ähnlichen Angeboten wie in Deutschland. Einen großen Unterschied gibt es jedoch: Die Sozialarbeiter, die hier arbeiten, erstellen auch die vom Gericht in Auftrag gegebenen „parental ability assessments“, also Erziehungsfähigkeitsgutachten, nur psychiatrische Gutachten werden von Psychiatern durchgeführt.
Auch in das „children with disabilities“ Team konnte ich einen guten Einblick erhalten. In diesem Team bekommen sowohl Kinder mit körperlichen, aber auch mit seelischen Behinderungen Unterstützung. Die Sozialarbeiter gehen initial zum Hausbesuch und notieren, was die Familie als praktische Unterstützung benötigt. Bei körperlichen Behinderungen werden alle möglichen Hilfsmittel notiert und bewilligt. Das kann ein Spezialbett oder ein Rollstuhl sein. Wenn die Wohnung nicht behindertengerecht ist, dann wird nach einer passenden Wohnung gesucht. Während meiner Hospitation habe ich zwei Hausbesuche mitmachen können, beide Male bei körperlich und geistig behinderten Kindern. Die Familien werden sehr gut unterstützt. Für Kinder, die nicht in einer Regelschule beschult werden können, wird ausserdem nach einer alternativen Schule gesucht. Da die Nachfrage oft das Angebot übersteigt, ist das keine leichte Aufgabe. Das „children with disabilities“ Team ist übrigens das einzige Team, dass alle Bereiche abdeckt. Egal ob Kinderschutz ein Thema ist oder Gerichtsverfahren anhängig sind, hier ist immer ein einziges Team zuständig. Alle anderen Teams geben die Fälle an das jeweilige Team ab, sobald sich der „Level“, also der Gefährdungsgrad ändert.

Auch in der letzten Woche bin ich von dem Engagement und dem Einsatz der Kollegen beeindruckt. Auch wenn es Unterschiede gibt, sind auch einige Verfahrensweisen sehr ähnlich. Ein Vergleich der Fachbereiche ist lohnenswert und bietet für beide Seiten Potenzial für Verbesserungen. Insgesamt konnte ich meinen Erfahrungshorizont erweitern, daher bin ich wirklich froh, dass ich an der Hospitation teilnehmen konnte und möchte mich hiermit nochmals recht herzlich bei allen, die das auf deutscher und englischer Seite möglich gemacht haben, bedanken!

It was a great experience!
Thanks,
Johanna Scheller

Xunta de Galicia

05.10.2022

Die Fundación Meninos hat unterschiedliche Programme. Aktuell bieten sie 13 Angebote für Familien und Eltern an. Außerdem führen sie Weiterbildungskurse in anderen Städten und Regionen von Spanien an.
Im Programm PIF wird das Team supervidiert durch die Universität Madrid Comillas, wo sie einzelne Videosequenzen mit Eltern und Kindern aufnehmen und dazu ein Videofeedback des Uniteams erhalten. Im Folgenden stelle ich die einzelnen Angebote, die hier Programme heißen vor: Die familiäre Intervention: Damit geben sie erzieherische und psychosoziale Unterstützung und zeigen den Eltern die familiären Dynamiken auf um alternative Strategien zum Umgang mit ihren Kindern zu entwickeln.
1.Programm mit dem Fokus auf die pränatale Entwicklung der Kinder ab Schwangerschaft. Dadurch wollen sie eine gesundheitliche Entwicklung der Säuglinge erreichen mit psychologischer Unterstützung, Entwicklung von sicherer Mutter-Kind Bindung um persönliches Leid und Risikoentwicklung zu vermeiden und für das sichere u. gesunde Aufwachsen und den Schutz der Kinder zu gewährleisten.
2.Präventive Arbeit im Kinderschutz
Unterstützung in familiären Krisensituationen, Strategien und Methoden um die bisher eingespielten dysfunktionalen Dynamiken zu verändern um Kindeswohlgefährdungen abzuwenden oder erst gar nicht entstehen zu lassen.
Motivationsprobleme, persönliche Krisen, keine oder wenig Problemkongruenz, bei Schulabstinenz (Schuldistanz) und pubertärem Risikoverhalten.
3.Familienzentren
Zur Unterstützung von Familien und Entwicklung zur Orientierung in problematischen Familiensituationen um die Umsetzung der Kinderrechte zu gewährleisten.
Förderung der Eltern-Kind- Beziehung und um Methoden zur Normalisierung des Familienlebens zu entwickeln.
4.Programm für die Krisenunterbringung in Kurzzeitpflege
5. Programme zur Unterstützung von Adoptivfamilien
Unterstützung und Vorbereitung/Vermittlung in Adoptivfamilien
Therapeutische Interventionen
6.Intervention bei sexuellem Missbrauch
Die Möglichkeit der Verarbeitung des erlebten Übergriffes um die Wiedererlangung der bio-psychisch-sozialen Gesundheit
7.Intervention bei häuslicher Gewalt
Unterstützung bei erlebter Gewalt für Kinder und Jugendlich
als Zeuge von häuslicher Gewalt. Umgang mit Traumas und Verarbeitung der selbigen.
8.Programm zur Verhinderung von Fremdunterbringung
Wenn Kinder aufgrund von Kindeswohlgefährdung nicht weiter in der Herkunftsfamilie leben können, wird die Möglichkeit überprüft, ob ein Aufwachsen in einer Nichtverwandten oder Freundesfamilie möglich ist.
9.Erziehungs- und Psychologische Beratungsstelle
Zur Rückerlangung von persönlichen Ressourcen und Lebensqualität, Veränderung von eingespielten Verhalten um mit erlebten traumatischen Situationen um neue Verhaltensweisen zu erproben.
Soziale Inklusion
10.Projekt „Brújula“
Die Übersetzung von Brújula ist Kompass.
Das Projekt Kompass gibt Impulse an die Eltern um die soziale Inklusion zwischen Eltern und Kindern im Kinderschutz zu verbessern und Risikosituationen der Kinder abzuwenden. Dabei werden den Eltern alternative Handlungssituationen aufgezeigt.
11.Projekt CaixaProinfanicia
Dieses Projekt wird von der Bank aus Katalonien Caixa finanziert und entwickelt Angebote für sozialerzieherische Aktionen um für die Zukunft der Kinder und Jugendliche neue Möglichkeiten zu erschaffen. Das Projekt ist an mehreren Standorten in der Provinz in verschiedenen Gemeinden angesiedelt. Ähnliche wie Familienzentren, allerdings vom Hauptstandort aus, auch 3 Stunden entfernte Projektstandorte.
12.Entwicklung und Difusion von Kenntnissen
Die Stiftung Meninos investigiert in neue Aktivitäten um neue präventive Projekte zu entwickeln, alle mit dem Ziel, Kinderrechte durchzusetzen, und eine Kindeswohlgefährdung abzuwenden. Dabei werden sie durch unterschiedliche Programme der Universität unterstützt um innovative Projekte zu entwickeln. Dazu finden interne Weiterbildungen statt. Hauptaugenmerk liegt dabei immer auf die emotionale und mentale Gesundheit der Kinder.
13.Entwicklung von Projekten
Projekt „Colexio Do Benquerer“
Dieses Jahr wurde dieses Projekt für die Schule entwickelt um über sexuellen Missbrauch in Grundschulen aufzuklären.Dieses Projekt wurde für alle Grundschulen in der ganzen Provinz Galizien entwickelt.Die Projekte finden in der 5. und 6. Klasse statt. Dazu werden Unterrichtsmaterialien erschaffen, die sich mit Themen wie Gefühlen, Geheimnisse gute und schlechte, sowie anschließend der Umgang für das Lehrpersonal. Mit Hilfe von Büchern, Videos und Gefühlsmonstern werden die Schüleri*innnen animiert über ihren Alltag zu berichten und respektvoll mit sich und anderen umzugehen. Sie erhalten Hilfestellung. Das Lehrpersonal wird sensibilisiert für das Tabuthema sexueller Missbrauch.
14.Präventive Erziehung
„Viaxe ao reino das emocións“ Die Reise ins Innere der Gefühle
Dies ist ein Projekt, welches für alle Kindertagesstätten in Galizien entwickelt wurde. Dabei steht die Entwicklung von didaktischem Material zur Verbesserung der sozialemotionalen Fähigkeiten, wie Empathie und Respektentwicklung beinhalten. Die Kinder werden mit den verschiedenen Materialien angeleitet, welche Werte beim respektvollem Miteinander wichtig sind und erlernen Strategien um Gewaltsituationen zu vermeiden, auch das Thema bullying oder Missbrauch und Gewalt findet Eingang in das didaktische Material. Seit fünf Jahren besteht dieses Projekt und insgesamt 21.488 Kinder und 209 Kindertagesstätten haben daran teilgenommen. Es wurden dabei auch Online Spiele und Tischspiele neu entwickelt.
15.Proxecto „Lecxit“
Literatur für Erfolg in der Erziehung- dieses Projekt wird von der Stiftung „Bofill“ finanziert, Impulsgeber war das Team von Meninos.
Dieses Projekt basiert auf freiwillige Teilnahme der Grundschulen der 4-6. Jahrgangsstufe. Dabei wird das Lehrpersonal supervidiert, die Aktivitäten werden mit neuen Methoden umgesetzt, um eine soziale Inklusion und eine Verbesserung der sozialen Integration aller Kinder zu erreichen. Dabei werden Ehrenamtliche eingesetzt um mit den Kindern in der 1:1 Betreuung während des Unterrichts zu arbeiten. Dieser Ehrenamtliche soll eine kontinuierliche Beziehung zu den Schüler*innen aufbauen und ihn zugleich motivieren und neue Impulse beim Lernen zu setzen.Dies geschieht im Rahmen einer einstündigen Beschäftigung mit Büchern als Vorlesestunde pro Woche.
16.Weiterbildung
Es gibt sowohl interne als auch externe Weiterbildungsangebote die von verschiedenen Universitäten für das Personal Meninos angeboten werden.
Das Personal bietet darüber hinaus ebenfalls für andere Bundesländer Weiterbildungskurse an.

Nachmittags fanden diverse Hilfekonferenzen im Jugendamt statt. Das Jugendamt befindet sich seit Januar 2022 in einem Neubau und wirkt sehr steril, fast als sei es eine riesige Immobilienfirma oder eine große Bank.
Neben dem Pförtner sind auch Sicherheitsangestellte zu sehen.
Die Mitarbeiterin des Jugendamtes war auf meine Anwesenheit nicht vorbereitet worden, war trotzdem sehr offen und wollte, dass ich an der Hilfekonferenz teilnehme. Hierbei ging es um eine Familie, wo die Eltern und ihre beiden Söhne geistige Beeinträchtigungen haben. Die ambulante Hilfe sollte im Termin eingesetzt werden und konkrete Hilfeziele sowie der neuste Sachstand wurde von seitens der Eltern formuliert. Der Vater war gerade aus der Haft entlassen worden, da er in eine Messerstecherei verwickelt war, ansonsten sei er nie aggressiv auffällig geworden. Die Familie ist zurzeit ohne eigene Wohnung und hatte den Wohngeld Antrag schon gestellt, mit Hilfe der Schulsozialarbeiterin. Die Kinder würden laut Eltern keinen Respekt zeigen, der jüngste Sohn zeige massive Verhaltensauffälligkeiten und werfe in der Wohnung im Haushalt der Großmutter, wo die Familie seit Haftentlassung des Vaters Obdach gefunden habe. Vorher sei die Mutter mit ihren zwei Söhnen in ihrer Verwandtschaft in unterschiedlichen Haushalten umhergezogen.
Der nächste Termin war eine Helferkonferenz im Kinderschutz, wo der Vater vor kurzem verstorben war und kurz vorher ebenfalls aus der Haft entlassen war. Haftgrund war Drogenhandel. Den gemeinsamen Sohn, 13 Jahre mussten sie aus dem Haushalt aufgrund von Kinderschutz herausnehmen, die Eltern hatten den Sohn im Alter von 6 Jahren als Drogenkurier eingesetzt. Drogen und Waffenhandel ist hier öfter Thema und Indikator für Kindeswohlgefährdungen. Coruna gehört als Stadt mit seinem Hafen zu einer der größten Hafenstädte Europas und der Handel mit Drogen hat hier Tradition, was sich dann auch im Kinderschutz widerspiegelt.

Das Jugendamt hier unterscheidet sich in zwei wesentlichen Aspekten, die mir gestern sofort aufgefallen waren. Das Büro ist ein Großraumbüro, die Teams sitzen nach Abteilungen gemeinsam in 6-8 Plätzen zusammen. Das heißt: Kinderschutzteam, Jugendamt, Vormundschaften, Jugendgerichtshilfe, und administrative Abteilung (Bearbeitung von Anträgen und Kosten) sitzen je nach Abteilung in einer Gruppe von 6-8 Fachkräften zusammen. Außer der Regionalleitung hat niemand ein Büro. Die Regionalleitung sitzt dabei, wie ein Pförtnerbüro vor allen in einem Glasbürokasten. Die Teamzusammenstellung ist interdisziplinär, bestehend aus Psycholog*innen und Sozialarbeiter*innen und Sozialassistent*innen. Die Abteilung Vermittlung von Adaptionen oder Vermittlung in Pflegefamilien sitzt ebenfalls im Großraumbüro. Auf zwei Etagen gibt es einen Konferenzraum. In der unteren Etage befindet sich das Personalbüro vor einem der Konferenzsäle, welches sicherlich für die Eltern und Jugendlichen/Kinder unangenehm ist, wenn in konflikthaften Situationen oder bei Inobhutnahmen der „normale Büroverkehr“ vor dem Konferenzraum sich befindet.

Für meine letzte Woche des Aufenthalts werde ich eine kurze Vorstellung im Rahmen einer PowerPoint Vorstellung im Jugendamt präsentieren, um den Stand der Entwicklung im Berliner Jugendamt unseres Bezirks und die Angebotsstruktur der freien Träger vorzustellen. Die Fachkräfte sind sowohl im Jugendamt als auch hier in der Stiftung Meninos technisch auf höchstem Standard ausgerüstet, Computer, Internetzugang und Diensthandys.

Soviel zum gestrigen Tag…
Saludos Katja Werner

Bergdorf Château d’Oex

02.10.2022

Die 2. Woche in Lausanne war leider sehr verregnet. Dabei hängen die Wolken tief über dem See und man sieht oft die Berge und die französische Seite nicht mehr. Am ersten Tag der 2. Woche war ich bei einer der Ärztinnen eingeteilt. So konnte ich auch zum ersten Mal eine Beratung zur PREP miterleben. Es waren auch mehrere Ukrainerinnen in der Sprechstunde, wodurch nochmal deutlich wurde, wo sich der ärztliche Bereich mit psychosozialer Beratung überschneidet. Nachdem mir die Leitung des Fachbereichs éducation sexuelle (hier hat jeder Fachbereich eine eigene Leitung) nochmal den gesamten Bereich ausführlich gezeigt und erklärt hatte, inklusive Fachbibliothek und Elternabenden, hatte ich Gelegenheit, bei einer Sitzung teilzunehmen, bei der verschiedene Leitungen, Psychologen und Kolleg*innen, welche STI Beratung machen und welche in die Schulen gehen, alle 2 Wochen zusammenkommen. Dabei werden schwierige Fälle besprochen, insb. wenn abgeklärt werden muss, ob z.B. bei einem geschilderten Übergriff Handlungsbedarf besteht, um Minderjährige zu schützen oder wenn in der Schule eine unklare oder belastende Situation aufgetreten ist. Das Einbringen der Fälle ist obligatorisch und diese werden teils auch über mehrere Male begleitet. Die Sitzung fand hybrid statt, sodass sich immer wieder Kollegen in den Besprechungsraum dazu schalteten und ihren aktuellen Fall kurz oder auch etwas länger schilderten, wobei die Verantwortlichen Fragen stellten und entweder Handlungsbedarf festgestellt wurde, oder das bisherige Vorgehen abgesegnet wurde. Interessant fand ich hierbei vor allem die Abwägung zwischen Verschwiegenheit und Eingreifen, ob man die Eltern eines Mädchens benachrichtigen sollte, damit diese ihre Tochter schützen können. Das Highlight der Woche war sicher die weite und etwas abenteuerliche Fahrt in das Bergdorf Château d’Oex, welches selbst bei Regen eine tolle Landschaft hat, die man sogar aus den Klassenzimmern bestaunen kann (siehe Foto). Dort durfte ich in verschiedenen Klassen bei einem besonderen Schul-Workshop hospitieren, welcher sich „précarité menstruelle“ nennt. Dabei geht es darum, schon in den unteren Klassen, also idealerweise bevor die 1. Menstruation einsetzt, darüber aufzuklären, dass ca. 10 Prozent der Frauen sich auch in Europa keine Hygieneartikel leisten können. Deshalb sind an den Schulen Spender mit Binden und Tampons installiert. Alle möglichen Alternativen werden mit den Mädchen und Jungen genauer besprochen, wobei sehr ins Detail gegangen wird, was es alles zu beachten gibt. Neben Tipps und Tricks, Fakten und Wissenswertem, geht es v.a. um die Enttabuisierung und Normalisierung des Themas und eine gewisse Vorbildfunktion. In den unteren Klassen ist auch gleichzeitig die Klassenlehrerin sowie die Schulkrankenschwester anwesend. Zu letzterer wird also über das Projekt auch der Kontakt mit den Schüler*innen hergestellt, sodass diese sich anschließend eher trauen, mit Fragen zu ihr zu gehen.
Ein weiterer kurzer Einblick war diese Woche in den Bereich „couples und séxologie“ möglich. Dort arbeiten v.a. Psychologinnen und Psychotherapeutinnen, welche Paar- und Sexualtherapie anbieten. Zwei wesentliche Unterschiede zu Berlin bestehen darin, dass zum einen tatsächlich Therapie und nicht ausschließlich Beratung angeboten wird, zum anderen sind diese Sitzungen nicht kostenlos, sondern müssen je nach Einkommen selbst bezahlt werden (0-180€). Die Kolleginnen hatten alle sehr unterschiedliche Ausbildungen, von systemischer Therapie über Sexualtherapie hin zu Sexocorporel. Ich durfte auch an einer psychoanalytischen Supervision teilnehmen, bei der ein interessanter Fall besprochen wurde.

Zum Abschluss der Woche habe ich noch einen Einblick ins LAVI (Loi sur l’aide aux victimes d’infractions, also in etwa Gesetz über Opferhilfe nach Straftaten) bekommen, was dem Weißen Ring in Deutschland ähnelt, jedoch hier in die Fondation PROFA eingegliedert ist. Laut Gesetz muss jeder Kanton in der Schweiz über ein LAVI verfügen. Dort gibt es vielfältige Unterstützungsmöglichkeiten: von einfach nur zuhören und Informationsvermittlung, über psychologische und juristische Beratung, bis zu finanzieller Hilfe und Prozessbegleitung. Häufig wird von der Polizei an das LAVI vermittelt, es wird aber natürlich auch unabhängig von der Polizei gearbeitet. Es geht um Straftaten jeglicher Art bis hin zu Menschenhandel und Zwangsehen, aber auch medizinischen Behandlungsfehlern. Betreut werden Menschen, die sich davon entweder auf körperlicher, psychischer oder sexueller Ebene beeinträchtigt fühlen. Ca. 50% machen Fälle häuslicher Gewalt aus! Auch im LAVI arbeiten sehr unterschiedliche Berufsgruppen: Psychologinnen, Kriminologen, Sozialarbeiter und ein Jurist. Das Justizsystem ist hier auch anders aufgebaut als in Deutschland. Ich durfte dann noch bei einem Beratungsgespräch dabei sein und hoffe, dass ich nächste Woche nochmal die Möglichkeit zur Hospitation im LAVI haben werde. Vor dem Job, sich den ganzen Tag mit Gewaltdelikten zu befassen, habe ich großen Respekt. Den Sonntag konnte ich dann glücklicherweise noch dazu nutzen, bei Sonnenschein auf die französische Seite des Genfer See zu fahren und das malerische Örtchen Yvoire zu besichtigen.

Viele Grüße

Tamar Bloch

A Coruna

04.10.2022

Meine Ankunft am Samstag war pünktlich, die Unterkunft, so wie angegeben und mein erster Arbeitstag heute, voller neuer Informationen. Per email erhielt ich die Info, dass ich von Mónica eingearbeitet werde und um 9:30 Uhr kommen soll. Ich wurde von allen sehr willkommen geheißen, obwohl sie weder meinen Lebenslauf kannten noch sich freiwillig gemeldet hatten. Sie wurden von der Xunta angefragt und meine Bewerbungsunterlagen hatten es nicht zu meiner Anleiterin geschafft. Sie übernimmt formal und die ersten Tage meine Anleitung, ich werde aber mit allen Kolleginnen die Arbeit kennenlernen. Das Gebäude befindet sich in einem Conjunto, einem Gebäudekomplex, welches ein altes Kloster plus Schule war. Das Kloster wurde damals zum Kinderheim ausgebaut und war für ca. 60 Kinder umgebaut. Aktuell werden dort ca. 20 Kinder betreut. Als ich bereits am Sonntag meinen Arbeitsweg zu Fuß ablief, konnte ich die Kinder über den Zaun des Klostergartens auf dem Weg zum Spielplatz, welcher ebenfalls auf dem Gelände ist, sehen. Der Gebäudekomplex beinhaltet auch eine Pflegeeinrichtung, bzw. ein Alterspflegeheim, eine Beratungsstelle für Menschen mit Beeinträchtigungen, die Gewerkschaft der Xunta und das Projekt Meninos.

Die Fundación wird finanziert durch die Xunta und übernimmt Aufgaben des RSD, bzw. der freien Träger. Die Xunta hat per Gesetz die Aufgabe für das staatliche Wächteramt im Kinderschutz, sie können aufgrund von Überlastung und fehlendem Personal ihren Aufgaben jedoch kaum noch nachkommen und beauftragen die Fundación Meninos im Notfall auch für die Inobhutnahme. Meninos wurde vor 26 Jahren gegründet. Meine Praxiserkundung wird hauptsächlich in der Abteilung PIF stattfinden. PIF ist die Abkürzung für Programa de Integración Familiar /Programm für die Integration von Familien. Der Träger arbeitet ambulant und versucht stationäre Fremdunterbringungen zu vermeiden. Sie arbeiten im Kinderschutz, teilweise leben die Kinder schon Betreuungseinrichtungen, oder in Pflegefamilien auf Zeit. Meninos unterstützt die Eltern und Kinder u.a. dabei den Prozess der Rückführung in ihre Herkunftsfamilien zu begleiten. Insgesamt führt Meninos aktuell 13 verschiedene Programme zur Unterstützung von Kindern und Jugendlichen und deren Eltern durch. Zu den anderen 13 Programmen werde ich im Laufe der Woche noch kurz eingehen.

Das Team im PIF ist ein interdisziplinäres Team bestehende aus: drei Psychologinnen, einer Erzieherin und zwei Sozialarbeiterinnen. Das Team besteht nur aus weiblichen Fachkräften. Die Stellen sind bisher nur für ein Jahr bewilligt worden. Seit Beginn der Pandemie wurde dies geändert und ab dem Jahr 2023 werden die laufenden Programme für vier Jahre finanziert. Die Fallanfragen kommen von der Xunta: Servicios Sociales Protección de Menores/ Kinderschutz. Das gesetzliche Wächteramt obliegt dem Team des Kinderschutzes. Das Team nennt sich Equipo técnico del Menor (E.T.M.)
In der Region Galizien (Bundesland) gibt es insgesamt 4 Kinderschutzteams: für die Provinzen: Lugo/Orense/Pontevedra/ Coruna. Im Kinderschutzteam von Coruna arbeiten ca. sechs Beamte (funcionarios E.T.M.) mit verschiedenen Universitätsabschlüssen. Außerdem sind sie unterteilt in E.T.M. Nord und E.T.M. Süd.

Coruna hat ca. 244.850 (Stand 2018) Einwohner*innen und im Großraum 431.332. Das Team von Meninos muss auch die Versorgung im Umland vornehmen, sie arbeiten für die Sektion Nord und Süd. Lange Autofahrten für einen Termin mit der Familie kann zwischen 1-2,5 Stunden Anfahrt bedeuten. Krisenplätze für die Kinder werden nicht über die Xunta gestellt, sondern über das Rote Kreuz, Cruz Roja. Bei Falleingang erhält das Team von Meninos ein Informe (Fallanfragebogen, mit dem Auftrag und den Daten zur Familie und Kurzbeschreibung der familiären Situation). Die Arbeit von Meninos konzentriert sich auf drei Aspekte:

1.Preservación
2.Reunficación
3. Funcionalidad

1. Bewahrung und Schutz der Herkunftsfamilie
2. Rückführung aus der Fremdunterbringung in die Herkunftsfamilie
3. Funktionieren der Familie nach ambulanter Intervention durch Meninos.

Diese Hilfen werden für ca. 2 Jahre (oder im Einzelfall länger) eingesetzt. Alle Hilfen sind freiwillig. Der Träger arbeitet zwar im Kinderschutz, aber die Familien können nicht gezwungen werden die ambulanten Hilfen anzunehmen. In der Praxis ist das Angebot aber alternativlos, da sonst die Kinder fremduntergebracht werden müssten. Anfangs gibt es eine Hilfekonferenz, danach wird die Xunta nach vier Monaten ambulanter Intervention in einer erneuten Hilfekonferenz über den Hilfeplanprozess informiert. Der Freie Träger meninos entwirft ein Plan de Trabajo/Hilfeplan. Die Xunta hat 15 Tage Zeit dem Plan zuzustimmen oder Veränderungen vorzunehmen. Im Hilfeplan werden auch andere Hilfebeteiligte benannt, wie Lehrer, Kitapersonal, die Eltern und die Kinder selber. Der Träger entwickelt eine Arbeitshypothese zur familiären Problematik. Danach informiert alle drei Monate der Träger die Xunta über den weiteren Hilfeplanverlauf . Mit den Familien bzw. den Eltern oder alleinerziehenden Müttern (Väter nehmen kaum teil an den Beratungssequenzen, da sie oftmals die Familien schon verlassen haben oder aus beruflichen Gründen nicht vor Ort sind).

Der Träger befindet sich in einem zweistöckigen Neubau der 60 er Jahre und örtlich hinter dem Kloster. Das Gelände wird als Komplex der Xunta mit den einzelnen Trägern und Funktionen gesehen. Vom Flur des Trägers schaut man auf den Klostergarten, der sich im hinteren Gebäudeteil des Klosters befindet und auch das Schwimmbad des Kinderheims (ehemals Kloster) und des Altenpflegeheims. Das Leitbild des Trägers führt in seiner Broschüre auf: Sie arbeiten als ONG (Nicht Regierungsorganisation) für die Rechte der Kinder und Jugendliche, die sich in schwierigen sozialen Situationen befinden. Meninos entwickelt mit den Eltern eine Alternative zum Schutz der Kinder und Jugendlichen. Außerdem vertreten sie folgende Werte:
• Beachtung der Gesetze zum Schutz der Kinder
• Fokus liegt auf den Interessen der Kinder und Jugendlichen
• Familie als stabilen Bezugspunkt für die Kinder und Jugendlichen
• Erziehung und Kapazität der Veränderung
• Qualität und Verbesserung der Kontinuität
• Kreative Innovation
• Betreuung von Personen
• Transparenz und Unabhängigkeit
• Aushandeln von sozialen Kompromissen
• Gleichheit und Unterstützung
• Berücksichtigung der Gleichheit der Geschlechter

Morgen ist eine Hilfekonferenz mit Eltern und Jugendamt (Xunta /E.T.M.) terminiert. Am Ende der Woche/oder des Tages berichte ich mehr.

Diesen Freitag ist hier Feiertag, so dass der heutige Feiertag kompensiert werden kann.

Saludos
Katja Werner

Jugendzentrumseröffnung Wien

03.10.2022

Hallo aus Wien! Meine erste Woche in Wien brachte schon jede Menge Eindrücke.

Zunächst lernte ich in ersten Übersichten die Organisation und die Strukturen der Wiener Kinder-, Jugend- und Familienhilfe (WKJH) inklusive der entsprechenden Magistratsabteilungen (MA) kennen. Das ist gar nicht so einfach, denn das Jugendamt der Stadt Wien ist hier sozusagen unterteilt in drei Jugendämter, bzw eben Magistratsabteilungen. Die Zweigliedrigkeit, die wir in Berlin durch den Senat und die Bezirke kennen, gibt es hier nicht.
Die MA 10 ist zuständig für Kindergärten (Platzsuche, Förderung, frühsprachliche Förderung…), die MA 11 (das personell größte Amt) ist zuständig für die Kinder- und Jugendhilfe mit dem Bereich Sozialer Dienst, inkl. Kindeswohlgefährdung, Einleitung von ambulanten Kinder- und Jugendhilfemaßnahmen, Betreuung von Kindern und Jugendlichen in Wohngemeinschaften, aber auch Hilfestellung und Beratung bei Unterhalt und Begleitung von Pflegefamilien und die Zuständigkeit der MA 13 fördert, koordiniert und steuert das Angebot Bildung und Jugend und betreibt selbst einige Bildungseinrichtungen.

Natürlich ist die WKJH neben der zentralen Organisation auch regional aufgestellt. Es gibt sechs Regionen, jede Region untergliedert sich in: Regionsleitung, Familienzentren, Rechtsvertretung, soziale Arbeit, Wohngemeinschaften und Krisenzentren. Meine Hospitationsstation befindet sich in der Region Mitte-Ost, von hier aus nehme ich die verschiedensten Aufgaben während meiner Hospitation in der Wiener Jugendhilfe wahr.

Aber nun komme ich zu den ganz praktischen Lernerfahrungen in dieser Woche, die in der Unterschiedlichkeit gleichzeitig auch die Vielfalt der Jugendhilfe abbilden. Zum Beispiel konnte ich an einem sehr schwierigen Gespräch mit einer Mutter teilnehmen, deren Kinder (6 und 8 Jahre) aus der Familie genommen worden sind und ich war Teil einer Zusammenkunft in einem Krisenzentrum, wobei es um den weiteren Aufenthalt eines Jugendlichen in dem Krisenzentrum ging. Bei beiden Gesprächen war ich nicht nur „stille“ Zuhörerin, sondern konnte in der Reflexion im Team meine Erfahrungen, meine Eindrücke und meine fachlichen Gedanken einbringen. Es fand also stets ein reger fachlicher Austausch statt.

Darüber hinaus besuchte ich den Verein Wiener Jugendzentren, der mit 28 Jugendzentren ein großer Träger der offenen Kinder- und Jugendarbeit in der ganzen Stadt ist und sehr sozialräumlich arbeitet. Dieser Verein eröffnete am Freitagnachmittag unter Anwesenheit von Regionalpoliter*innen und mit vielen Jugendlichen ein neues Jugendzentrum in einem sogenannten „Gemeindebau“ im 10. Bezirk. Als Gemeindebau wird in Österreich, speziell in Wien, ein Wohnblock des kommunalen sozialen Wohnungsbaus bezeichnet, der Anteil beträgt 25% vom allgemeinen Wohnungsbau. Die Häuser sind immer entsprechend gekennzeichnet, man findet also überall in der Stadt diese sozialen Wohnblöcke.

Um die Stadt weiter zu erschließen und eigenständig zu erkunden habe ich mir in dieser Woche selbstverständlich auch sehr viele historische Plätze und Gebäude angeschaut, z.B. das Belvedere, das Schloss Schönbrunn, die Hofburg… . Aber Wien hat auch eine neue moderne Seite, die allerdings noch nicht so lebendig wirkt, weil noch vieles gebaut wird und am Entstehen ist. Na gut, wie man so sagt: es ist für jede/n was dabei.

Ich wünsche allen Kolleg*innen in Berlin einen entspannten Feiertag und verbleibe mit den besten Grüßen und mit einem freundlichen: baba aus Wien
Birgit Bosse

28.09.2022

Hello everybody,

inzwischen habe ich die 3.Woche der Hospitation abgeschlossen. Jede Woche kommt mir wie das Kapitel eines Buches vor, nicht zuletzt, weil ich die Erlebnisse jeweils in einem Blog verarbeite. Diese Form der Vogelperspektive dient nicht nur als Wissenstransfer, sondern hilft mir auch zu reflektieren und zu integrieren, was ich gelernt und erfahren habe. Hier ist inzwischen wieder Ruhe eingekehrt nach den Ereignissen der letzten Wochen rund um die Causa Queen. Back to normal, wie es hier so schön heißt.

In dieser Woche habe ich wieder die Gelegenheit genutzt, neue Bereiche und Arbeitsfelder kennenzulernen. Auf der Agenda stand diesmal das „child in care“ Team und der Fachbereich „D-Bit“. Aber hierzu später. Vorher möchte ich noch von einem interessanten Meeting berichten, an dem ich teilnehmen konnte. Das sogenannte MACE-Meeting. Wofür dir Abkürzung steht, habe ich nicht herausgefunden, aber da es hier nur so von Abkürzungen wimmelt, habe ich aufgegeben, hinterher zu kommen. Wichtig ist ja nur zu wissen, um was für ein Meeting es sich inhaltlich handelt. Und das ist spannend und wiederum ein Ansatz, den ich nicht kenne. In diesem Meeting geht es um child exploitation. Also eine Ausbeutung von Kindern auf irgendeine Art. Allen Themen wird hier mit dem sogenannten „multi-agency-approach“ begegnet was sich in diesem Meeting mehr als widerspiegelt. Im MACE-Meeting werden Fälle vorgestellt und es werden Lösungsansätze bearbeitet. In einem Fall habe ich 25 geladene Teilnehmer gezählt! Es geht hier um junge Menschen, meistens Jugendliche, die ausgebeutet werden. Es kann sich hierbei um kriminelle oder sexuelle Ausbeutung handeln. Da es hier viel Bandenkriminalität gibt, ist das oft ein Thema. Auch sind die Jugendlichen selbst häufig abgängig und werden dann als „missing“ child geführt. Je nachdem, was das Thema ist, sind verschiedene Parteien involviert. Die Polizei ist aber eigentlich fast immer dabei. Teilnehmer sind daneben auch „child exploitation officer“, „safeguarding officer“ oder „missing co-ordinator“. Oftmals sind tatsächlich Leib und Leben der Jugendlichen in Gefahr, die Bedrohungen sind real. Dadurch, dass alle an einem Strang ziehen und der Informationsfluss sehr gut funktioniert, kann diesem ernsthaften Problem bestmöglich begegnet werden. Wenn Bedrohungen zu groß werden, wird auch schon mal eine ganze Familie umgesiedelt, um die Kinder zu schützen. Der multy-agency-Ansatz hat mich wirklich überzeugt.

Nun aber zum „child in care“-Team. Diesem Team sind Kinder zugeordnet, die stationär in der Jugendhilfe untergebracht sind. Wie schon vorher erwähnt, handelt es sich überwiegend um Unterbringungen in Pflegefamilien. Eigentlich ist das Prozedere ähnlich wie in Deutschland. Es gibt regelmäßig Hilfekonferenzen. Die Intervalle sind jedoch nach Altersgruppen eingeteilt. Für unter 5- jährige wird alle 3 Monate eine Konferenz abgehalten, für ältere Kinder alle 6 Monate. Außerdem werden die Kinder alle 4 Wochen in den Pflegefamilien besucht. Da das auch die Kollegen des Social Service machen, ist hier eine Fallzahl von höchstens 20 Fällen die Norm, meistens sind es weniger.

Im „D-Bit“ Team konnte ich daneben noch einen ambulanten Ansatz kennenlernen, der verhindern soll, dass Kinder stationär untergebracht werden müssen. In diesem Team arbeiten die Kollegen mit einem Lösungs-und Ressourcen orientierten Ansatz. Die Familie soll gestärkt werden, um eine Unterbringung zu vermeiden. Es scheint eine hohe Erfolgsquote seit Einführung des Ansatzes zu geben. Die stationären Unterbringungen sind zurück gegangen. Daneben gibt es im ambulanten Bereich noch sogenannte „support worker“. Eigentlich ähnelt die Arbeit der von Familienhelfern jedoch hat keiner der Mitarbeiter Sozialarbeit studiert.

In England wird die Qualität der Sozialarbeit regelmäßig von einer unabhängigen Agentur geprüft. Essex schneidet hier sehr gut ab mit seiner „outstanding performance“. Nicht zuletzt auch deshalb, weil hier Bindungsarbeit einen großen Stellenwert hat und auch andere Instrumente der Sozialarbeit erfolgreich implementiert sind. Das ist in England keine Selbstverständlichkeit. Deshalb fahren die Manager hier regelmäßig in andere Gegenden in UK und vermitteln ihren Ansatz und ihr Wissen weiter.
Insgesamt gibt es in England zu wenige „skilled Socialworker“, weshalb es ein Programm ins Leben gerufen wurde, indem Sozialarbeiter innerhalb kurzer Zeit einen Bachelor Degree erreichen können. Neu eingestelltes Personal, teilweise Quereinsteiger, bekommen ein 6-wöchiges Training, dürfen danach anfangen zu arbeiten und erreichen ihren Bachelor in Sozialarbeit nach einem Jahr Studium neben dem Job. Not macht erfinderisch.

Das Fazit der 3.Woche: Es bleibt spannend und ich bin froh, in Harlow, der westlichsten der insgesamt 4 Standorte, eingesetzt zu sein. Denn: Hier gibt es eine großes Gemeinschaftsgefühl, was sich auch in den eigens kreierten Slogans widerfindet: „West is the best“. Oder:“Simply the West“. Selbst auf den Kaffeetassen im Büro finden sich die Slogans wieder.
Zu Recht, wie ich finde!

So, jetzt geht es in die Endrunde, see you next week!

Johanna Scheller

Rathaus Wien

26.09.2022

Nach einer ziemlich entspannten Zugfahrt – ja ich muss sagen, die DB war wirklich rundherum sehr zuverlässig- bin ich am Samstagabend in der schönen Stadt Wien angekommen. Der Sonntag war dann ein guter Tag zur ersten Orientierung, zum Ankommen, zum Einstimmen in die Stadt. Ich konnte mir z.B. die Zeit nehmen, um die Wege zu meiner Dienststelle abzufahren.
Man möchte ja auf alle Fälle pünktlich sein, also ich möchte das.

Montag früh um 8 Uhr es dann so weit. Zunächst wurde ich im Rathaus vom Referenten der Gruppe Personalorganisation und –entwicklung und zuständig für internationalen Wissensaustausch –Magistratsdirektion (MD) sehr herzlich begrüßt und mit einem guten Kaffee (die Betonung liegt auf den beiden ee ) in Empfang genommen. Es folgten einige Formalitäten, u.a. die wichtigen Unterzeichnungen bezüglich des Datenschutzes. Danach ging es auch schon in die Wiener Kinder- und Jugendhilfe –Magistrat 11- (MA 11 Kanzlei WKJH-S 1/4/5). Dort arbeiten eine Leiterin, eine stellv. Leiterin (beide Sozialarbeiterinnen), dreizehn Sozialarbeiter*innen in der direkten Arbeit mit den Klient*innen, eine psychologische Beraterin, vier Kolleg*innen für die „mobile Arbeit mit Familien“ und ein Schulkooperationsteam zusammen. Unterstützt werden die Mitarbeiter*innen von zwei Kolleg*innen im Sekretariat und zwei Kolleg*innen für die Auskunft und von Auszubildenden verschiedener Professionen.

Ich wurde sehr freundlich erwartet. Gemeinsam mit meiner Ansprechpartnerin, entwickelte ich eine erste Orientierung und einen ersten Terminplan für die Woche. Dabei wurde bereits nach kurzer Zeit deutlich, dass ich auf Grund meines Aufgabengebietes der Koordinierung der Sozialraumorientierung und der damit verbundenen Schnittstellenaufgaben im Jugendamt ein sehr breit aufgestelltes Interessengebiet bearbeiten möchte. Deshalb werde ich bspsw an einer Krisensitzung teilnehmen, zum Tag der offenen Tür in einem „Mutter Kind Haus“ vorbeischauen, den Kontakt zu dem Verein Wiener Jugendzentren aufnehmen und mich zu Besuch bei zwei Familienzentren anmelden. Gleichzeitig hat die stellv. Leitung des MA 11 meine besonderen Interessen der Schnittstellen- und Gremienarbeit aufgenommen, so dass wir dahingehend in den kommenden Wochen aktiv sein können.

Außerdem fand dann noch ein Fototermin im Rathaus Wien statt. Daran nahmen insgesamt 20 Hospitat*innen teil, die z.Zt. in der Wiener Verwaltung tätig sind und aus den verschiedenen europäischen Ländern und aus unterschiedlichen Bundesländern kommen. Dabei lernte ich dann noch zwei nette Kolleginnen aus dem BA Mitte und aus dem BA Steglitz-Zehlendorf kennen, die in den jeweiligen Steuerungsdiensten der Bezirke arbeiten.
Ich sage nur: Vernetzung, Vernetzung.

In diesem Sinne verbleibe ich mit diesen ersten Eindrücken und einem freundlichen: Baba aus Wien

Birgit Bosse,

Lausanne

26.09.2022

Für meine Hospitation hat es mich nach Lausanne zur Fondation PROFA verschlagen, welche ähnliche Schwerpunkte wie unser Zentrum für sexuelle Gesundheit und Familienplanung in Berlin hat. Nach der Ankunft in Genf konnte ich direkt bei der Zugfahrt nach Lausanne einen Blick auf den See erhaschen. Das ist schon toll, im Hintergrund immer eine Bergkulisse zu haben. Der nächste Tag war erstmal ein lokaler Feiertag, was ich nicht wusste, so hatte ich Zeit, die Region mit ihren Weinbergen zu erkunden und mich in meiner Unterkunft einzurichten.

Am ersten Arbeitstag wurde ich dann gleich in eine andere Stadt geschickt (Morges), wo ich sehr herzlich von einer Mitarbeiterin von PROFA empfangen wurde, welche auch Psychologin ist, allerdings nicht als Psychologin in der Beratungsstelle arbeitet. Das Team in Morges ist sehr klein und besteht nur aus wenigen Mitarbeiterinnen. In den Beratungsgesprächen ging es vor allem um STI/HIV, allgemeine Gesundheitsfragen, aber auch Kindererziehung u.ä. Leider fielen auch ein paar Termine aus, weil die Klienten nicht erschienen. Auf dem Heimweg habe ich einen Teil zu Fuß zurückgelegt, um den Sonnenuntergang am See und den Blick zu genießen und bin erst dann wieder in den Zug gestiegen. Am nächsten Tag war ich dann in Lausanne in der Zentrale, wo ich auch meinen bisherigen Ansprechpartner getroffen habe. Bei ihm habe ich dann einen Tag hospitiert und am nächsten Tag bei einer Kollegin von ihm. Alle sind sehr nett und offen. Die Beratungsthemen waren neben der STI-Beratung die Themen ungeplante Schwangerschaft sowie Notfallverhütung, wobei mehrmals jugendliche Mädchen zu PROFA kamen, um sich die „Pille danach“ zu holen. Diese bekommen sie nach einem Gespräch sofort vor Ort in der Beratungsstelle, wo sie diese auch einnehmen. 3 Wochen später findet dann ein Follow-Up inklusive Schwangerschaftstest statt. Die meisten Klient*innen wirken sehr aufgeklärt, informiert und gesundheitsbewusst. Interessant ist, dass sich die Aufgaben- und Verantwortungsbereiche teils anders aufteilen. Zum Beispiel sieht mein Anleiter Klienten aus der STI-Beratung auch mehrmals in Folge, wo es dann auch um Beziehungsthemen o.ä. geht. In der Test-Beratung werden sich auch viele Notizen gemacht und ein Standard-Fragenkatalog teilweise abgearbeitet, was einerseits der Statistik dient, andererseits auch als Info für Termine in der Zukunft, z.B. wenn jemand nächstes Jahr wieder zum Test kommt (egal ob mit echtem Namen oder anonym). Dabei wird z.B. der Beziehungsstatus erfragt, oder bei jüngeren Klient*innen auch die Beziehung zu den Eltern und die Wohnverhältnisse. Die Tests auf HIV und Syphilis werden direkt vor Ort per Schnelltest gemacht, was bei uns in Berlin anders ist. Auch machen die Klient*innen für die Tests auf andere STI ihre Abstriche selber. Das hat sich wohl während der Pandemie so etabliert. Während dem Warten auf die Schnelltestergebnisse füllen die Klient*innen noch einen längeren anonymen Fragebogen am Tablet aus und es gibt Zeit für weitere Fragen. Es arbeiten hier viele verschiedene Berufsgruppen als „conseiller/conseillère sexuelle“, wofür sie eine eigene Ausbildung mit längerer Hospitation gemacht haben: Sozialpädagoginnen, Krankenschwestern, Psychologen und sogar eine Komikerin. Ein weiterer Unterschied ist, dass die Tests hier nicht kostenlos sind, sondern selbst bezahlt werden müssen, wobei es verschiedene Tarife gibt (u.a. Jugendtarif, Sozialtarif), sodass diese zwischen 0 und 180 Franken kosten. Insgesamt ist hier alles unglaublich teuer, egal ob öffentliche Verkehrsmittel, Einkäufe oder ein Kaffee, aber das ist eben die Schweiz.
Am letzten Tag habe ich in der Schule im Sexualkundeunterricht hospitiert (in Lausanne und Nyon). Dabei kann man hier wirklich von Unterricht sprechen, es wird betont, dass es sich um Unterricht wie jeder andere handelt, die Schüler sitzen diszipliniert an ihrem Platz (dürfen aber auch ihre Fragen anonym auf Zettel schreiben, wobei es kein Tabu gibt, alles wird besprochen und selbst die 10-jährigen kennen Begriffe wie LGBTIQA, Konsens, o.ä.). Den Bereich „éducation sexuelle“ machen hier bestimmte Mitarbeiterinnen von PROFA, welche nur für diesen Bereich zuständig sind und durch den ganzen Kanton reisen, um dort an Schulen zu gehen, auch in weiter entfernte Dörfer. Die französische Sprache ist hier auch ein wenig anders als in Frankreich, z.B. gibt es für die Zahlen teils andere Wörter: huitante statt quatre-vingt. Auch der Genfersee wird hier nicht etwa „lac de Genève“ genannt, sondern „lac léman“.

Am Wochenende war hier Lange Nacht der Museen, wobei ich die Stadt nochmal ein wenig mehr kennenlernen konnte und was sich bei dem Regenwetter, das leider seit gestern und für die nächsten Tage hier herrscht, gut angeboten hat. Dabei habe ich auch ein paar locals kennengelernt. Ich bin gespannt, was die nächste Woche so mit sich bringen wird!

A bientôt!

Fahrradweg

26.09.2022

Goede dag,

meine dritte Woche des Austauschprogramms „LoGoEurope“ ist gerade zu Ende gegangen, ich sitze bei einem Kaffee in meinem gemütlichen Chalet und schaue durch die großen Glastüren den Regentropfen beim Regnen zu…

In der vergangenen Woche habe ich einige Exkursionen zu interessanten Orten unternommen – glücklicherweise bei Sonnenschein – und habe mit besonderem Augenmerk auf Fahrradinfrastruktur, Knotenpunktgestaltung und Verkehrsberuhigungsmaßnahmen geachtet. Viele Anregungen konnte ich dabei sammeln und werde sie nach Berlin mitnehmen. Die hier geltenden Grundsätze, Verkehrsarten unterschiedlicher Geschwindigkeit und Masse voneinander räumlich oder zeitlich zu separieren, machen das Fortbewegen im Straßenverkehr sehr entspannt, für alle. Viele meiner deutschen KollegInnen meinen, die NiederländerInnen wären einfach per se entspannter, und deswegen funktioniere der Verkehr auch entspannter. Doch ich denke, es ist genau anders herum: Hier wird eine derartige Infrastruktur geschaffen, die das sorglose Fortbewegen erst möglich macht.

Durch geschicktes Planen und Managen des Verkehrs werden Konflikte nicht dem Individuum zugemutet, sondern schon vorher weitestgehend aufgelöst. Beispiel: Radwege werden grundsätzlich hinter Tankstellen entlanggeführt, so dass sich motorisierter Verkehr und Radverkehr erst gar nicht kreuzen. Währenddessen wird der Radweg in Deutschland üblicherweise exakt neben der Fahrbahn geführt, so dass Kfz sowohl beim Einfahren in die Tankstelle als auch beim Ausfahren den Radweg kreuzen, wodurch leicht Unfälle entstehen. Dasselbe gilt für Ampelkreuzungen: Die abbiegenden Kfz-Ströme haben in den Niederlanden in der Regel nicht gleichzeitig grün mit den geradeausfahrenden Fahrrad- und Fußgängerströmen. So wird der Abbiegekonflikt systematisch und nicht durch den einzelnen Verkehrsteilnehmenden gelöst. In Deutschland wird diesen Strömen in der Regel gleichzeitig grün gegeben. Das führt dazu, dass mit großer Zuverlässigkeit Zu-Fuß-Gehende und Radfahrende in Deutschland durch abbiegende Fahrzeuge erfasst und getötet werden. Für Radfahrende ist dieses Szenario Todesursache Nr. 1. Schon vor vielen Jahrzehnten haben die NiederländerInnen erkannt, dass diese Abbiegesituation viel zu komplex ist, um den Kfz-Führenden zuzumuten, auf die Vorfahrt der Radfahrenden und Zu-Fuß-Gehenden zu achten. Daher haben sie das Problem verkehrsorganisatorisch gelöst und die Komplexität für das Individuum reduziert.

Das sind nur zwei Beispiele dafür, wie in den Niederlanden Bedingungen geschaffen werden, die das stressfreie freundliche Miteinander im Straßenverkehr ermöglichen. Meiner Meinung nach kann man den einzelnen Individuen in Berlin gar nicht die Schuld für das dort herrschenden hohe Stress- und Aggressionslevel geben. Ich denke –aus verschiedensten Gründen – hat es die Verkehrsverwaltung in den letzten Jahrzehnten versäumt, Konflikte durch organisatorische und bauliche Maßnahmen zu reduzieren, in vielen Fällen werden sogar Verkehrsarten konfliktreich bewusst miteinander verwoben (etwa Bushaltestellen auf Radwegen oder Fahrrad-Schutzstreifen mit rechts davon liegenden Park- oder Lieferbereichen) Hier kann Berlin noch sehr viel von den Niederlanden lernen um den Menschen ein besseres Miteinander möglich zu machen.
Passend zu dieser Thematik hatte ich Austausch mit der Leitung des Verkehrsmanagements der Stadt Utrecht und mit den Stadt-Ingenieuren. Wieder einmal beeindruckt mich die Arbeit und Fortschrittlichkeit sehr: Beispielsweise sind alle Ampelanlagen der Stadt (bis auf eine einzige) verkehrsabhängig geschaltet. Und dabei wird in der Regel – anders als in Deutschland – der Radverkehr frühzeitig schon vor dem Knoten durch induktionsschleifen detektiert. Gerade experimentiert Utrecht auch viel mit neuen Technologien. Zusätzlich zur Schleife wird beispielsweise an einigen Orten durch Kameras detektiert, um wie viele Radfahrende es sich handelt (durch eine Schleife kann man nicht eine Gruppe von einem einzelnen Radfahrenden unterscheiden). Oder mit Radar wird der Rückstau von Kfz überwacht, um die Ampel mit hoher Präzision und Qualität zu steuern.

Bei den Stadtingenieuren – die ein eigenes Department darstellen – habe ich mich über deren Arbeit und einige Projekte informiert. Besonders interessant: Durch die verschiedenen Disziplinen unter den Stadtingenieuren kann ein Bauprojekt vollständig durch In-House Arbeit realisiert werden. Es gibt Spezialisten für jede Fachrichtung, die dann, geführt durch den Projektmanager, gemeinsam an einem Vorhaben, beispielsweise die vollständige Sanierung einer Straße von Hauskante zu Hauskante, zusammenarbeiten. Jede Person ist Spezialist und hat einen konkret definierten Arbeitsbereich. Zusätzlich zum Projektmanagement, das eher technisch ist und bei den Ingenieuren liegt, gibt es auch die Position des Prozessmanagers oder der –managerin (auf Ebene des Departments mit den BeraterInnen), die zur Aufgabe hat, die vielen verschiedenen Ziele, die durch Agenda, politische Beschlüsse, Strategien, etc. bestehen, innerhalb des Projekts zu realisieren, die notwendigen Personen in das Projekt einzukaufen (ja, die Stadtingenieure müssen intern eingekauft werden!) und nicht zuletzt das notwendige Geld für ein Vorhaben aufzutreiben und die Planung der politischen Ebene vorzulegen und sich entsprechende Zustimmung einzuholen.

Nächste Woche begleite ich dann die Bauleitung und schaue mir live den Fortschritt bei einem 36 Mio. Euro Straßenumbauprojekt an, bei dem eine lange, ehemals vierstreifige Straße auf jeweils einen Streifen pro Richtung reduziert wird, um Platz zu schaffen für mehr Bäume, breitere Radwege, und mehr Platz für Fußverkehr.Ich werde auch davon berichten.

vriendelijke groeten

Jens Blume

Foto: Typische Szene aus Utrecht. Jugendliche radeln heiter und sorglos durch die Stadt – selbstverständlich nebeneinander, bei einer entspannten Unterhaltung, nicht selten Hand in Hand oder auf eine spezielle Art „untergehakt“

22.09.2022

Hi there, I’m back, jetzt geht es in die 2.Runde.
Die zweite Woche war mindestens genauso ereignisreich, wie die erste. Natürlich ist damit das Arbeitsumfeld gemeint, aber nicht nur. Es ist schon ein ganz besonderes Gefühl in England zu sein, wenn die Identität der Engländer, die so eng mit der britischen Krone verbunden ist, ins Wanken gerät. Ganz Großbritannien trauert und ich muss sagen: Mich berührt es auch. Immerhin bin auch ich mit der Queen aufgewachsen. Es war ja gar nicht zu vermeiden. Komischerweise scheine ich ein Talent dafür zu haben, immer in den intimsten britischen Momenten vor Ort zu sein. Schon 2007 habe ich eine ähnliche Stimmung in London miterlebt: Damals hat England gegen Deutschland beim Fußball verloren. Wieder mal. Torkelnde, trauernde, weinende Männer auf leergefegten Straßen, das war damals das Stadtbild. Was für englische Männer der Fußball ist, ist für das weibliche Pedant die Krone. Das Ergebnis ist aber dasselbe: Eine Identitätskrise ungeahnten Ausmaßes. Dabei kennt man ja den Engländer nicht wirklich gefühlsnah. Nicht umsonst heißt es schließlich: stiff upper lip, also die steife Oberlippe. Naja, so ganz stimmt es eben doch nicht. Aber gut, nun mal zurück zur eigenen Identität, also zur beruflichen.

In dieser Woche konnte ich neben dem Family Support und Protection (FSP) Team noch Einblicke in weitere Bereiche erhalten. Im FSP Team bearbeiten die Kollegen ebenso schwere Fälle, wie im Assessment und Intervention Team. Der Unterschied ist, dass bereits eine Einschätzung zur Gefährdung erfolgt ist und es jetzt darum geht, die vermutete Kindeswohlgefährdung abzuwenden. Solange die Kindeseltern mitwirken und kooperativ sind, handelt es sich um eine Hilfe, die dem Level 3 zugeordnet wird. Wenn ein Kind auf dem sogenannten „child protection plan“ ist, gibt es viel zu beachten. Ob das Kind diese Zuordnung erhält, wird auf einem sogenannten „strategy meeting“, wieder mit ganz vielen unterschiedlichen Professionen, entschieden. Sobald das der Fall ist, wird ein strukturiertes Prozedere in Gang gesetzt. Nach einer fest vorgeschriebenen Anzahl von Tagen wird ein „initial child protection meeting“ einberufen. Das erste von mehreren im Abstand von 6 Wochen. Die Sitzung wird von einem unabhängigen Konferenzleiter moderiert, was einen neutralen Blick auf die Dinge gewährleisten soll. Der zuständige Sozialarbeiter ist also nur Teilnehmer, wie alle anderen auch. Diesmal sind auch die Eltern dabei. Es werden Sorgen formuliert und Ziele gesetzt, die es zu erreichen gilt. Ähnlich wie bei uns wird auch der Weg dahin, also die Handlungsschritte, definiert. Alle Beteiligten, auch die Eltern, geben am Ende eine Bewertung über das bestehende Risiko ab. Es werden Punkte von 1-10 vergeben. 1 ist das größtmögliche Risiko und bei 10 wäre das Problem gelöst. Auf den nächsten Konferenzen wird die Bewertung wiederholt. Zwischendurch finden alle 4 Wochen sogenannte „core-meetings“ statt. Alle Handlungsgrundlagen für diese Verfahrensweisen finden sich im childrens act von 1989 wieder. Dieses Gesetz wird regelmäßig überarbeitet. Immer dann, wenn ein Kind ernsthaft zu Schaden kommt, was leider auch hier passieren kann, findet eine Aufarbeitung in sogenannten „saveguarding practice reviews“ statt. Diese Reviews haben manchmal eine Änderung der Gesetzgebung zur Folge. In einem dieser Fälle wurde herausgefunden, dass die mangelnde Kommunikation zwischen den unterschiedlichen Fachkräften maßgeblich am tragischen Verlauf Schuld waren, hier wurde nachgebessert. Der Gesetzgeber achtet daher inzwischen stark darauf, dass alle Professionen in regelmäßigem Austausch stehen.

Neben den vielen Meetings haben es die Kollegen in Harlow noch mit anderen zeitaufwändigen Umständen zu tun. Da die Verwaltung in Harlow für einen flächenmäßig sehr großen Landkreis zuständig ist, leben die Klienten teilweise sehr weit weg. Eine Stunde Fahrt für den einfachen Weg ist keine Seltenheit. Oft holen die Sozialarbeiter die Klienten sogar von Zuhause ab. Ein Service, der bei uns so nicht üblich ist. Aber es finden auch sehr häufig Hausbesuche statt. Im Kinderschutz ist hier auch die Anzahl der Besuche genau definiert und festgelegt. In jedem Kinderschutz-Meeting wird erneut entschieden, ob es sich weiter um einen Kinderschutzfall handelt. Wenn die Gefährdung weiterhin besteht und nicht abgewendet werden kann, wird, wie bei uns, das Gericht eingeschaltet. Wenn die Probleme weitestgehend gelöst werden konnten, wird die Familie vom protection plan genommen, Zugang zu freiwilligen Leistungen gibt es aber immer noch.

In dieser Woche habe ich noch etwas ganz Neues kennengelernt : Ich durfte an einem Funding-Meeting teilnehmen. Hier werden alle Ausgaben rund um die Familie beantragt. Während in Deutschland nur Kinder, die stationär untergebracht sind, Dinge wie Schul-, Fahr- oder Kleidergeld bekommen, kann in England im Social Services neben anderen Sozialleistungen, wie Universal Credit (vergleichbar mit Hartz 4), jedes Kind weitere Unterstützung erhalten. In den Meetings beantragt der zuständige Sozialarbeiter Leistungen für seine Klienten, er muss das aber gut begründen. Das können auch Essensgutscheine oder Haushaltsgegenstände sein. Durch die Energiekrise werden immer mehr Essensgutscheine beantragt. Ganz spannend, aber auch traurig war ein Tag, den ich im „Specialists Team“ begleiten durfte. In diesem Team liegt die Zuständigkeit bei den unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen. Wie mir berichtet wurde, kommen immer mehr junge Menschen mit dem Boot in Kent im Süden Englands an. Die Jugendlichen werden dann im ganzen Land verteilt. Ausserdem liegt in Essex der Flughafen Stansted. Viele reisen auch auf dem Flugweg ein. Während meines Hospitationstages kam ein junger männlicher Flüchtling in Stansted an. Ich durfte die zuständige Kollegin und den Jugendlichen in die ausgewählte Unterkunft begleiten und habe auch am Aufnahmegespräch teilgenommen. Sehr praktisch ist, dass es eine sogenannte „Language-Line“ gibt. Braucht man einen Dolmetscher, ruft man die Nummer an und bekommt sofort einen Übersetzer für die benötigte Sprache. Der Übersetzer wird einfach per Telefon dazugeschaltet. Das ist super praktisch und vereinfacht diesen Prozess enorm! Wenn angenommen wird, daß der Jugendliche ein falsches Alter angegeben hat, findet ein sogenanntes „age assessment“ statt. Das machen hier die Sozialarbeiter mittels eines vorgegebenen Fragebogens und anhand von Beobachtungen. Glaubwürdigkeit ist hier das zentrale Thema. Was auch immer wieder ein Thema ist, ist das sogenannte „child trafficking“, also Kinderhandel. Leider gab es in dem Fall, den ich miterlebt habe, diese Vermutung. Eine wirklich traurige und für die Behörden fast unlösbare Geschichte.
Mein Fazit von der zweiten Woche: Die britischen Kollegen leisten unglaublich viel, haben viele Herausforderungen zu meistern und sind dabei doch sehr positiv, zuversichtlich und humorvoll. Es ist toll zu sehen, dass es auch hier Menschen gibt, die sich für andere einsetzen, die im prozesshaften und mit Bindungsarbeit versuchen, einen positiven Weg für Familien in Krisen zu ebnen, wie bei uns in Deutschland auch. Das allein reicht meiner Ansicht nach schon aus, eine gemeinsame Identität, einen gemeinsamen Nenner zu finden. Die Menschlichkeit ist das bindende Glied, auch ohne Krone und den Fußball. Selbst der Brexit vermag das nicht zu verhindern.

So, nun aber genug für heute! Enough for today! To be continued next week….

God save the King and everyone else!

Viele Grüße
Johanna Scheller

137. Geburtstag der Maliebaan. Links: der ehrenamtliche Fietsbürgermeister Jelle Bakker, rechts die Bürgermeisterin für Mobilität, Lot van Hooijdonk, Mittte: ein Sammler von sehr alten Fahrrädern, der zur Feier des Tages ein funktionierendes Hochrad aus dem 19. Jahrhundert mitbrachte. Jeder der wollte, durfte drauf fahren!

19.09.2022

Guten Morgen aus Utrecht,

die letzte Woche verging wie im Flug. Höhepunkte waren zum Beispiel die Geburtstagsfeier des weltältesten Radwegs (der Radweg Maliebaan wurde 137 Jahre alt) oder eine Exkursion des Fietsberaad nach Maastricht. Der Fietsberaad ist ein Gremium im CROW, welche wiederum eine Stiftung ist, die ähnlich wie die Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen in Deutschland (FGSV) Regelwerke und Empfehlungen für das Verkehrswesen schreibt. Fietsberaad ist dabei ein Arbeitskreis, der sich im speziellen um die Belange des Radverkehrs kümmert. Vertreten sind darin Verwaltung, Politik, Privatwirtschaft und Zivilgesellschaft.

In Maastricht wurden wir zunächst vom Bürgermeister begrüßt und haben wir uns anschließend per E-Bike aktuelle Projekte angeschaut. Interessant fand ich ein Projekt, welches zum Ziel hatte, ein besonders problematisches Viertel aufzuwerten. Eine vierstreifige Straße wurde dazu in einen doppelstöckigen Tunnel verlegt, so dass darüber Platz entstand für ein grünes Band aus Rad- und Fußwegen, hunderten neuen Bäumen und einer Erschließungsstraße mit Tempo 30. Die Lebensqualität der anliegenden Wohnbebauung hat sich nach Abschluss der Maßnahme drastisch durch die Lärm- und Schadstoffreduktion und das nunmehr angenehmere Umfeld erhöht. Aus Brandschutzgründen ist es hier übrigens nicht zulässig, die Tunneldecke von Autostraßen mit Gebäuden zu bebauen. Das macht die Refinanzierung solcher Projekte ein wenig schwieriger, da sich neu ausgewiesenes Bauland dann höchstens bis eng an die Tunneldeckengrenze erstrecken kann. Jedenfalls wurde aus einem Viertel, dass vor einiger Zeit zu den „40 problematischsten Vierteln der Niederlande“ gekürt wurde, zu einer begehrten Wohnadresse.

Weiter ging es mit den Rädern gen Stadtgrenze entlang eines neuen Radschnellwegs. Bezüglich der (Fahrrad-)Infrastruktur konnte ich die Unterschiede zwischen stark entwickelten Städten wie Amsterdam oder Utrecht und weniger entwickelten Regionen wie jener um Maastricht deutlich spüren. Die kleinen Kommunen im Umfeld von Maastricht waren sehr vergleichbar mit Deutschland. Hier gab es wie bei uns Tempo 30-Zonen, die gut mit 50 Km/h oder schneller befahrbar wären (es fehlten z.B. Aufpflasterungen, Drempel oder Schikanen vollständig) und auch gab es Landstraßen ohne separaten Radweg. Im Unterschied zu Deutschland ist die Höchstgeschwindigkeit auf Landstraßen hier übrigens 80 Km/h. Es wurde berichtet, dass es hier – wie auch in Deutschland – schwierig sei, die auskömmliche Finanzierung für viele Vorhaben, die man eigentlich durchführen möchte, zu erhalten. Ich stellte daher die Frage, wie Utrecht den umfassenden Umbau des Gebiets im Stadtzentrum um den Hauptbahnhof finanziert hatte. Die Antwort lautete, man habe u.a. durch die Reduktion von Verkehrsflächen Bauland für Hochhäuser schaffen können, welches zu sehr hohen Preisen verkauft werden konnte. Eine interessante Idee. Weiterhin erfuhr ich, dass die Einnahmen aus den Kfz-Parkhäusern, den Parkscheinautomaten und den Parkausweisen für AnwohnerInnen in Utrecht direkt in die Finanzierung des Fahrradparkens fließen, welches allein monetär betrachtet, immer ein Zuschussgeschäft für Kommunen ist.

Zum Schluss der Exkursion wurde uns ein weiteres interessantes Projekt aus Maastricht vorgestellt, welches das Ziel hatte, das Bewusstsein dafür zu stärken, dass man mit dem Abstellen seines Fahrrads nicht den Gehweg oder Bereiche für mobilitätseingeschränkte Menschen verstellt. Neben verschiedenen Kampagnenelementen gab es auch einen mobilen Parcours, den man mit Langstock und verbundenen Augen begehen konnte, um selbst zu fühlen, wie problematisch falsch abgestellte Fahrräder sein können. Bei den Kampagnen wird immer auf eine bessere Alternative hingewiesen, die kann zum Beispiel das nächste Fahrradparkhaus oder die nächste Nachbarschaftsgarage sein.

So verging die Woche mit Exkursionen, Besprechungen und einigen Einzelinterviews, die ich zu bestimmten Themen führte, um besser zu verstehen, wie die Stadtverwaltung genau arbeitet. In dieser Woche werden die Schwerpunkte auf den Themen Verkehrssicherheit und Verkehrsmanagement liegen, außerdem werde ich einen Kollegen in Rotterdam besuchen und mir von seiner Tätigkeit in der dortigen Stadtverwaltung berichten lassen.

Beste Grüße
Jens Blume

Bild: 137. Geburtstag der Maliebaan. Links: der ehrenamtliche Fietsbürgermeister Jelle Bakker, rechts die Bürgermeisterin für Mobilität, Lot van Hooijdonk, Mittte: ein Sammler von sehr alten Fahrrädern, der zur Feier des Tages ein funktionierendes Hochrad aus dem 19. Jahrhundert mitbrachte. Jeder der wollte, durfte drauf fahren!

The Queen

13.09.2022

Dear colleagues,

nach 2 Jahren Wartezeit aufgrund der Pandemie ist es endlich soweit: England ruft. Die Planung vorab war schon ein bisschen aufregend, gibt es doch einiges zu beachten nach dem Brexit. Nachdem mit viel Unterstützung und Recherche aller Beteiligten die Einreisemodalitäten geklärt sind, geht es Anfang September los in Richtung UK. Nach einem kurzen Flug und folgendem easy going Self-Check-In mit Reisepass und nettem Blick in die Kamera bin ich drin, im Land, das eigentlich draußen ist, zumindest aus der EU.
Mein Hospitationsziel Harlow steuere ich nicht sofort nach meiner Ankunft an. Vorerst checke ich in meinem, für unsere Verhältnisse, sündhaft teuren Airbnb ein. Hier bin ich Gast bei einer jungen Familie mit 2 Hunden und dem 6 Monate alten Baby Leo. Leo nenne ich heimlich den kleinen „Happy Baby Buddha“. Sehr genügsam, immer lächelnd, wenig laut: Ein Traumkind also. Ohne natürlich meine Sozialarbeiter-Maßstäbe anzusetzen. Der größere der beiden Hunde, Lara, ist ein Rescue -Hund, wer weiß, woher. Lara ist mal aus dem Fenster gestürzt, hat sich die Vorderbeine gebrochen, die dann schief wieder zusammen gewachsen sind. Ihrer Lebensfreude hat das keinen Abbruch getan. Aber genug von meiner Unterkunft, die, das sei noch erwähnt, sehr schön in der Nähe eines Flusses und beliebten Pubs liegt. Bei der Ankunft habe ich noch nicht geahnt, dass ich diese pristine Umgebung später sehr zu schätzen wissen würde. Denn: Harlow ist anders. Die Bewohner dieser Stadt in Essex sind eher unterprivilegiert, mit all den Problemen, die das mit sich bringt. Die Stadt ist erst nach dem zweiten Weltkrieg gebaut worden, mit dem Ziel, staatlich unterstützten Wohnraum für Familien zu schaffen, die sich Wohnraum auf dem ersten Wohnungsmarkt nicht leisten können.

Ich bin im Goodman House eingesetzt, das ist der Name des Gebäudes, indem die öffentliche Verwaltung untergebracht ist. Hier bin ich in der ersten Woche dem Assessment & Intervention Team des Jugendamtes, welches hier Social Services heißt, zugeordnet. Da Duty-Woche ist, d.h. das Team nimmt alle Meldungen entgegen und bearbeitet sie kurz nach deren Eingang, ist hier viel los. Die Bewohnerstruktur spiegelt sich in den Meldungen wieder. Es werden schwere Fälle von vermuteten Kindeswohlgefährdungen gemeldet. Bei den meisten Meldungen liegt die Vermutung ohne weitere Prüfung bereits nahe, dass es sich um eine Kindeswohlgefährdung handelt. Die Einschätzung und Indikatoren sind in etwa dieselben wie in Deutschland. Die Bearbeitung der Fälle läuft aber anders ab. Im englischen System ist die Einschätzung, die Verantwortung und die Sicherstellung des Kinderschutzes auf viele Schultern verteilt. An den Konferenzen nehmen alle beteiligten Professionen, die mit der Familie zu tun haben oder hatten, teil. Neu ist für mich, dass selbst die Polizei mit am Tisch sitzt und eine Einschätzung zum Kinderschutz abgibt. Auch Ärzte, Hebammen, Lehrer, Psychiater und andere Professionen sind geladen. Nicht selten sitzen 10 oder mehr Personen am Tisch oder tagen in hybrider Form. Die Entscheidung, ob der Fall im Kinderschutz geführt wird, treffen alle Beteiligten zusammen. Ebenso haben alle Professionen gleichermaßen die Verantwortung, den Kinderschutz sicherzustellen. Im besten Fall ziehen alle am gleichen Strang. Sozialarbeiter bearbeiten in Großbritannien viel weniger Fälle als in Deutschland, so etwa 10-15 sind es in meinem Team auf Zeit, dafür sind die Aufgaben aber umfassender. Viele Aufgaben, die bei uns an Träger ausgelagert sind, erledigen die Kollegen selbst. In Kinderschutzfällen ist klar festgelegt, wie oft die Familie besucht wird. Es gibt ein strukturiertes Ablaufschema und es erfolgt eine Triage, wie im Krankenhaus. Die Familie wird dann in Level 1, 2,3 oder 4 eingeteilt. Level 4 ist akuter Kinderschutz. Sozialarbeiter, die das Wächteramt ausüben, dürfen in Großbritannien, anders als in Deutschland, kein Kind Inobhut nehmen. Das ist der Polizei vorbehalten. Im akuten Kinderschutz wird eine Police Protection angestrebt. Letztendlich entscheidet aber die Polizei, ob sie das Kind aus der Familie nimmt, oder nicht. Fast alle Kinder, auch Jugendliche, werden, wenn möglich, in Pflegefamilien untergebracht, wenn eine Fremdunterbringung indiziert ist. Andere Unterbringungsformen sind nicht weit verbreitet. Vorab wird immer im familiären Umfeld geprüft, ob es Möglichkeiten innerhalb der Familie gibt. Sehr oft werden Familienräte vorgeschaltet, damit die Familie eine eigene Lösung finden kann. Gearbeitet wird in England in Großraumbüros. Kein Mitarbeiter, bis auf die Leitungskräfte, haben einen eigenen Platz. Im „Hotdesk-Prinzip“ wird jeden Tag von einem anderen Platz aus gearbeitet. War man auf einem Hausbesuch, kann es sein, dass der Platz von morgens weg ist. Festnetztelefone habe ich nirgends gesehen, jeder hat ein Mobiltelefon. Es gibt hier keine Akten mehr, schon seit Jahren. Das Equivalent zu unserem Programm Sopart heißt hier Mosaic. Alles, was in Papierform kommt, wird eingescannt. Braucht man einen Ausdruck, wird dieser nach Gebrauch geschreddert. Aufgrund von Datenschutzrichtlinien werde ich hier keine Fallkonstellationen schildern. Nur soviel: Die erste Woche war interessant und aufregend, aber auch sehr anstrengend. Ich konnte an einigen Konferenzen teilnehmen und war auch mit auf verschiedenen Hausbesuchen. Die Kollegen sind sehr freundlich und verhalten sich sehr kollegial. Harlow County Council ist als sehr guter Arbeitgeber bekannt und alle, mit denen ich gesprochen habe, arbeiten gerne hier. Dennoch sind alle sehr beschäftigt. Ich werde, so gut es geht, eingebunden in Prozesse und lerne viel Neues kennen, was spannend ist. Insgesamt ein guter Start!

In der zweiten Woche hospitiere ich in einem anderen Team, dem „Family Support und Protection“ Team. In diesem Bereich werden Fälle bearbeitet, die im Kinderschutz angesiedelt sind und die Kindeseltern zur Mitarbeit bereit sind. Hierüber werde ich nächste Woche berichten.

And by the way: Natürlich bin ich am Wochenende nach London gefahren, habe der Queen Tribut gezollt und vor dem Kensington Palace eine Schweigeminute eingelegt. Vielleicht schaffe ich es nächste Woche auch zum Buckingham Palace. Rest in Peace.

Bis nächste Woche,
Johanna Scheller

Bahnhof Utrecht

Bahnhof Utrecht

12.09.2022

Hallo allemaal!

Ich bin nun seit ein paar Tagen in der Stadt Utrecht und hospitiere im Referat für Mobilität. Die Begrüßung und Aufnahme waren herzlich. Gleich am ersten Tag wurde ich mit allen notwendigen Berechtigungen ausgestattet, um das zentral gelegene Rathaus direkt über dem Hauptbahnhof mit allen zugehörigen Einrichtungen nutzen zu können. Auch habe ich gleich eine persönliche Mailadresse mit Zugang zum Intranet erhalten, um leicht mit dem Team kommunizieren zu können.
Anders als gewohnt, gibt es hier im Rathaus ein „offenes Konzept“. Man sitzt und arbeitet, wo man gerade möchte: Ob im 16. Stock mit Blick bis Amsterdam, im 11. Stock an der Bar oder an den unzähligen anderen Orten. Für jede Gelegenheit gibt es das Passende: Orte für gemeinsame Besprechungen, ruhige Bereiche, Bereiche mit Doppelbildschirmen, gemütliche Sessel, geschlossene Besprechungsräume, Fokusräume, Sofas, etc.

In der ersten Woche geht es viel um Fahrradparkhäuser, da dieses Thema Teil meiner Mission ist. Ich besuche verschiedene Fahrrad-Tiefgaragen, erhalte Einblick in Betreiberkonzepte, Einblick in Bau- und Operationskosten und technische Details. Das Team selbst arbeitet intensiv an der Ausweitung von Fahrrad-Abstellanlagen, da es die Aufgabe hat, in den kommenden Jahren 11.000 weitere Abstellplätze in Fahrradgaragen zu errichten. Dafür werden neue Standorte gesucht und bestehende Standorte erweitert. Der Platz in der Innenstadt ist sehr begrenzt, daher ist es nicht selten, dass Autoparkplätze zu Gunsten von Fahrradparkplätzen entfallen müssen. Bei einem Außentermin geht es genau darum: Kann eine Kfz-Tiefgarage ca. 1600 m² entbehren, mit denen man direkt nebenan liegende Fahrradgarage erweitern könnte? Es liegt auf der Hand, ist aber nicht ganz einfach: Es gibt Verträge mit einzelnen Nutzenden und Abmachungen aufgrund der Bauverordnung, dass ein bestimmter Teil der Autoparkplätze für ein neu zu entwickelndes Grundstück zur Verfügung steht. Am Ende der Besprechung ist klar: Ca 25 % der Auto-Tiefgarage kann einer anderen Nutzung zugeführt werden. Das ist ein gutes Ergebnis, mit dem alle zufrieden sind. Die Stimmung und Atmosphäre untereinander bei solchen Besprechungen ist gut, wenig emotional und zielgerichtet. Es wird sogar gelacht! Auf meine Frage, wie stark interne Konflikte präsent sind, erhalte ich eine überraschende Antwort: Allgemein gibt es keine harten Konflikte oder verfeindete Abteilungen. Man fühlt sich als Team, das zum Wohle der Stadt zusammenarbeitet und sich gegenseitig bei der Erreichung der Ziele unterstützt. Konfliktreicher sei es auf Ebene der nationalen Regierung, wo die verschiedenen Ministerien untereinander die ein oder andere Meinungsverschiedenheit hätten. Möglicherweise läuft es auch so harmonisch, da die Politik klare Ziele vorgibt: Jährlich sollen 1 % der Kfz-Parkplätze im öffentlichen Raum entfallen und durch Spielplätze, Begrünung, Fußverkehr und Fahrradabstellanlagen ersetzt werden. Dieses Ziel hat zur Konsequenz, dass nicht über jeden einzelnen Parkplatz gestritten wird und die Verwaltung im Zweifel auf die politischen Beschlüsse verweisen kann. Außerdem ist Partizipation hier gesetzlich vorgeschrieben: Jede größere Planung bedarf einer Beteiligung. Das Handeln der Verwaltung ist also sehr transparent und von der Bevölkerung getragen.
Manchmal gibt es sogar ein Referendum, wie zum Beispiel für die Umgestaltung des zentralen Bereichs um den Hauptbahnhof. Entschieden haben sich die BewohnerInnen für einen Plan, der das Wasser in den zentralen Kanal zurückholt und die dortige Autobahn, die in den 60ern geplant worden war, wieder zurückbaut. Dieser Kanal wurde vor zwei Jahren wiedereröffnet und mit Wasser geflutet. Da Corona bislang eine große Einweihungs-Party verhinderte, wird diese just an diesem Wochenende nachgeholt. In der ganzen Altstadt sind Bühnen aufgebaut, es gibt ein großes kulturelles Programm, viel Musik und lange Nächte. Das Wochenendprogramm ist also gesichert…

Damit verabschiede ich mich bis zur nächsten Woche und verweise auf twitter (@jens_blume), wo ihr täglich einige persönliche fotografische Eindrücke meines Aufenthalts findet.

Vriendelijke groeten
Jens Blume