Blog – Schreiben über Berlin

Schreiben über Berlin

Von Herbst 2021 bis Frühjahr 2023 lief der Kurs „Textredaktion Deutsch – Schreiben über Berlin“. In dem Kurs haben Menschen mit Migrationsgeschichte über Berlin, aber auch über andere Themen, geschrieben. Der von Angela Hsu moderierte Salon „Leben in Berlin“ ist eine Fortsetzung der mit dem Kurs verfolgten Ziele in einem anderen Format. Mit den Texten, die im Rahmen dieses Salons entstehen, wird der Blog kontinuierlich ergänzt.

Lockdown

Lockdown

Ich bin Halb-Berlinerin

Man sagt: Ein Berliner zu werden, dauert sieben Jahre.

Ich wohne schon dreieinhalb Jahre in Berlin, deshalb bin ich Halb-Berlinerin. Ich habe mich an viele Dinge gewöhnt, aber nicht an alles.

Ich bin im Jahr 2020 aus familiären Gründen nach Deutschland gezogen. Es war der Anfang des Corona-Lockdowns. Das war eine ruhige Zeit in Berlin, fast alles war geschlossen. In den schlimmsten Monaten waren nur Supermärkte und Apotheken noch geöffnet.

Draußen war nichts los, aber ich habe schnell herausgefunden, was ich online machen konnte: Ich meldete mich zu einem Online-Deutschkurs an. Jeden Morgen, traf ich mich mit anderen Deutschlernenden über Zoom. Ich bestellte mein Essen bei Wolt, schaute Filme auf Netflix, und kaufte etwas Schönes von Amazon. Manchmal kaufte ich auch Lebensmittel online, es dauerte nur 15 Minuten, bis sie geliefert wurden. Bevor ich nach Berlin kam, hatte ich gehört, dass die digitalen Angebote in Deutschland nicht so beliebt wie in Asien sind. Aber mein erster Eindruck war ganz anders. Alles funktionierte super! Na ja, fast alles.

Kein Google

Kein Google

Meine Erfahrung mit deutschen Behörden ist ein anderes Kapital der Geschichte. Alle Information kommen immer per Post. In China hatte ich schon seit Jahren keine Briefe mehr bekommen. Aber jetzt öffne ich fast jeden Tag den Briefkasten, um wichtige Briefe nicht zu verpassen. Warum braucht man heutzutage noch Papierbriefe? Warum können wir nicht für alles eine digitale Lösung finden?

Inzwischen habe ich ein wichtiges Wort gelernt – Datenschutz. Ich finde, dass das ein wichtiges Thema in Deutschland ist. Hier hat man immer Sorgen, ob die Privatinformationen richtig behandelt werden.

Letztes Jahr habe ich meine Familie in China besucht und bin zwei Wochen in Shanghai geblieben. In den ersten Tagen habe ich schon gemerkt, wie einfach andere meine Daten stehlen können. Hier zwei Beispiele: Nachdem ich den QR-Code im Restaurant gescannt habe, bekomme ich täglich Werbung von dort. Im Supermarkt bezahle ich nicht mit meinem Handy, sondern mit meinem Gesicht. Die Kunden sind an Gesichtserkennung gewöhnt. Klar, die Technologie ist innovativ und einfach zu nutzen. Aber ich war nicht begeistert, sondern sofort besorgt: Ist es wirklich sicher? Ich hätte gerne mit Bargeld zahlen wollen, um meine Daten zu schützen. In diesem Moment fühlte ich mich schon nicht mehr als eine Halb-Berlinerin, sondern wie eine hundertprozentige Deutsche.

Cindy Fan, April 2024
cindyfxy@gmail.com

Im Kleinen Grosz Museum, v.l.n.r. Eun Joo Nam, Bussaraporn Thongchai und Eduard Jan Ditschek

"Die Hässlichkeit der Deutschen"

Vor kurzem im George Grosz Museum in der Berliner Bülowstraße sah ich einen Satz, der mich überraschte: „Die Hässlichkeit der Deutschen“. Und ich fragte mich, wie man – besonders als Künstler – sowohl sich selbst als auch sein Volk und seine Gesellschaft so unmittelbar und scharf kritisieren konnte, ohne ernste Konsequenzen befürchten zu müssen.

Meine Frage führte mich in eine turbulente Zeit der deutschen Geschichte, die Weimarer Republik. Alles schien möglich, vor allem in der Kunst. Schönheit und Hässlichkeit, die hellen und die dunklen Seiten deutscher Gegenwart und Geschichte wurden dargestellt. Kein Thema war Tabu, bis das Licht der „Goldenen Zwanziger“ durch die Machtübernahme der Nationalsozialisten unterging und die „Hässlichkeit der Deutschen“ nicht die Kunst, sondern die Realität dominierte.

In der Weimarer Republik profitierte die Kunst von einer politischen und sozialen Realität, die Meinungsfreiheit garantierte. In einer Diktatur ist die Kunst nicht frei. Sie offenbart nicht die soziale Realität ihrer Zeit, sondern sie ist ein Mittel der Macht, sie dient den Zielen von Personen, Gruppen und Institutionen.

Es geht für mich also nicht darum, ob die Deutschen in den 1920er Jahren wirklich schön oder hässlich waren. Entscheidend ist, ob die Politik die Kunst gewähren ließ oder ob sie versuchte, die Kunst zu beeinflussen. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Weimarer Republik als eine Zeit des Übergangs von der Monarchie, in der der Kaiser das letzte Wort hatte, zur parlamentarischen Demokratie, in der eine Verfassung Recht und Gesetz garantierte.

Auch die Freiheit der Kunst war gesetzlich verankert. Dies führte zu Vielfalt in Kunst und Kultur, zu einem Klima, in dem sich Künstler:innen frei äußern konnten. George Grosz‘ langjährige künstlerische Beschäftigung mit der „Hässlichkeit der Deutschen“ war eines der Beispiele, wie ein Künstler die Gesellschaft, in der er lebte, darstellte, so wie sie war, sie widerspiegeln und gleichzeig kritisieren konnte. Zweimal wurde er zu Geldstrafen verurteilt, aber er verlor seine Freiheit nicht, denn die Freiheit der Kunst war ein Teil der demokratischen Gesellschaft.

Meiner Meinung nach sollten wir uns deshalb nicht darauf konzentrieren herauszufinden, was die Wahrheit der Geschichte oder des Inhalts der Kunst ist. Vielmehr müssen wir uns die Frage stellen: Inwieweit haben wir eigentlich Zugang zur Suche dieser Wahrheit in der Kunst oder überhaupt in der Gesellschaft?

Bussaraporn Thongchai, November 2022
bluedermond@gmail.com

Dada. Jetzt passiert’s.

“Jene Trottel, die als geistige Arbeiter dem Kapitalismus hinten hineinkriechen und sich daraufhin für notwendig und für Repräsentanten der Kultur halten, freut es uns, durch unsere Unverständlichkeit in ihre kläglichen Bestandteile zersetzen zu können.“ (Raoul Hausmann: Dadaistische Abrechnung. 1919)

I Dada wurde 1916 mitten im Ersten Weltkrieg in Zürich geboren. In Berlin erfuhr die Bewegung nach dem Krieg ihre politische Radikalisierung. Man war gegen den Kapitalismus, gegen die Bourgeoisie. Die historische Bewegung lebte nicht lange. Aber der Geist des Dada ist heute so aktuell wie damals. Dieser Geist ist radikale Gegenwartskritik.

Ich frage mich: Ist Dada in Taiwan gewesen?

Ich habe “Dada“ und „Taiwan”, diese zwei Worte, bei Google eingegeben. Und ich fand einen Mann, Mei Dean-E (*1954), der als „Vater des Dada aus Taiwan” bezeichnet wird.

“Der Vater des Dada aus Taiwan?!’‘
“Echt jetzt?”

Ich habe mir die Werke im Internet angeschaut.

Herr Mei hat sich mit der Zeit des Kriegsrechts, 1949–1987, beschäftigt. Über die Identität der Taiwaner und die Vergangenheit Taiwans hat er formal sehr gute Kunst gemacht. Aber der Geist des Dada verlangt meiner Meinung nach, sich mit der Gegenwart auseinanderzusetzen, den Status Quo zu reflektieren, zu hinterfragen und das Publikum zu konfrontieren.

Karikatur: Angela Hsu

II Im März 2022 reiste ich von Deutschland nach Taiwan. Ich war dreimal gegen das Corona-Virus geimpft, dennoch wurde ich zwei Wochen in einem Quarantäne-Hotel isoliert und durfte danach sieben Tage keinen öffentlichen Ort besuchen.

Zu Beginn der Pandemie war Taiwan der Covid-Musterschüler der Welt. Schon 2021 waren fast alle Bürger zweimal geimpft. Trotzdem galten für Besucherinnen und Besucher aus dem Ausland auch im Frühjahr 2022 noch immer diese verschärften Einreisebestimmungen. Die Regierung sagte, dass das für die Gesundheit und die Sicherheit des Landes notwendig sei.

Warum, fragte ich mich. Ich bin dreimal geimpft. Die Bürger Taiwans sollten mal darüber nachdenken und kritisch nachfragen?

Damals im März, als ich im Quarantäne-Hotel war, habe ich eine Karikatur gezeichnet (siehe oben).

Ob das Dada ist, weiß ich nicht. Aber es war meine Art, mit der Quarantäne-Situation kreativ und kritisch umzugehen.

Jetzt, fast sieben Monate später, hat Taiwans Regierung das Land endlich geöffnet. Aber in China gibt es die die Null-Covid-Strategie bis heute. Ich frage mich: Gibt es Dada in China?

Angela Hsu, Oktober 2022
hsu.pingfen@gmail.com

Denkmal für die Negev-Brigade von Dani Karavan (1963-1968)

Zwischen Beer Scheva und Berlin

Zwei Denkmäler von Dani Karavan

In der Wüste Negev, in der Nähe von Beer-Scheva, liegt auf einem Hügel die Gedenkstätte „Andartat Chativat haNegev“ für die israelische Negev-Brigade. Das Denkmal wurde zwischen 1963 und 1968 gebaut, um die Erinnerung an die im ersten arabisch-israelischen Krieg 1947 bis 1949 gefallenen israelischen Kämpfer wach zu halten.

Das Monument besteht aus 18 Teilen, die aus Sichtbeton hergestellt wurden. Jede geometrische Figur symbolisiert ein Ereignis im Wüstenkrieg oder gibt die Interpretation einer Schlacht zwischen den israelischen Palmach-Soldaten und der ägyptischen Armee.

Ehrlich gesagt, zum Inhalt des Denkmals habe ich keinen richtigen Bezug. In dieser Hinsicht erzeugt es bei mir gemischte Gefühle. Doch als Bauwerk finde ich die Gedenkstätte großartig, weil sie hohe ästhetische Qualitäten hat. Die Komposition gefällt mir sehr gut und auch der armierte Beton ist, nach meiner Meinung, sehr eindrucksvoll. Dieses Denkmal wurde von dem weltbekannten israelischen Bildhauer Dani Karavan (1930–2021) entworfen, zu dessen berühmtesten Werken der Habima-Square und das Weiße-Stadt-Denkmal in Tel-Aviv gehören, und ebenso die Skulptur „Ma’alot“ auf dem Heinrich-Böll-Platz in Köln. Zumeist besteht Karavans Bildsprache aus geometrischen Formen und abstrakten Rauminhalten im Großformat.

Gedenkstätte für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas von Dani Karavan (2012)

Auch in einem seiner Alterswerke, dem Mahnmal für die von den Nationalsozialisten ermordeten Roma und Sinti im Berliner Großen Tiergarten, ist die künstlerische Handschrift Karavans leicht zu erkennen. Schon 1992 hatte die deutsche Regierung entschieden, diese Gedenkstätte zu bauen, doch erst 2012 wurde sie fertiggestellt und feierlich eingeweiht. Das Denkmal erinnert an den nationalsozialistischen Völkermord an den sogenannten „Zigeunern“ – der europäischen Roma- und Sinti- Bevölkerung – mit bis zu 500.000 Opfern, die in Konzentrationslagern und Vernichtungslagern ermordet wurden. Karavan entwarf ein kreisrundes Wasserbecken mit schwarzem – „endlos tiefem“ – Grund. Im Zentrum des Kreises liegt ein Dreieck, das an den „Winkel“, den braunen Stoffaufkleber, erinnert, den die Sinti- und Roma-Häftlinge tragen mussten. In den Steinteppich, der das Wasser einschließt, sind die Namen von Konzentrationslagern eingraviert.

Yael Peri, Juli 2022

Fort Zeelandia im Jahr 2015

Fort Zeelandia

Um den Handel mit Ländern in Ostasien und im pazifischen Raum abzusichern, errichtete die niederländische Ostindien-Kompanie (Vereenigde Oostindische Compagnie – VOC) im frühen siebzehnten Jahrhundert in Tainan auf der Insel Formosa (heute: Taiwan) einen ihrer wichtigsten Stützpunkte. 1628 wurde im Hafen von Tainan Fort Zeelandia gebaut, um Schiffe mit Süßwasser zu versorgen und um sich gegen Chinesen und Indonesier zu verteidigen. Der Name Zeelandia ist wahrscheinlich von der niederländischen Provinz Zeeland abgeleitet. Das Fort und seine unmittelbare Umgebung entwickelten sich schnell zu einem internationalen Handelszentrum.

Allerdings verloren die Niederlande das Fort schon 1663 bei der Invasion und Belagerung durch den chinesischen Feldherren Koxinga, der mit Unterstützung der Ming-Dynastie auf Taiwan das Königreich Tungning gründete. Damit endete nach 38 Jahren die niederländische Kontrolle über den Hafen von Tainan.

Angela Hsu, Juli 2022
hsu.pingfen@gmail.com

Invalidenfriedhof

Auf dem Invalidenfriedhof trifft man auf viele interessante Denkmale. Ich würde diesen ganzen Friedhof als eine echte Sehenswürdigkeit bezeichnen. Mit großer Aufmerksamkeit muss man alle Grabsteine anschauen und ihre Namen überprüfen. Dann erfährt man viel über die deutsche Geschichte.

In der Mitte des Friedhofs befindet sich eine große Grabanlage für den preußischen General Gerhard von Scharnhorst. In den Befreiungskriegen führte er seine Armee zum Sieg über Napoleon, und danach war er maßgeblich für die Heeresreform in Preußen verantwortlich.

Dabei ging es um eine Reform des Militärs für die neue Zeit. Andererseits hat sich auf der Grundlage des sogenannten Volksheeres auch der preußische und später der deutsche Militarismus des frühen 20. Jahrhunderts entwickelt.

Grabdenkmal Julius von Groß genannt von Schwarzhoff (1850–1901)

Auf dem Invalidenfriedhof treffen wir auch auf einen anderen preußisch-deutschen Generalmajor, auf das Grabmal von Julius Karl von Groß genannt von Schwarzhoff. Er war um 1900 Chef des Generalstabes des Ostasiatischen Expeditionskorps. Deshalb zeigt die Skulptur auf seinem Grab, wie ein westlicher Engel auf einen chinesischen Drachen tritt. Mit diesem Grabmal zeugt der Friedhof also nicht nur vom Militarismus, sondern auch vom deutschen Kolonialismus.

Nicht zuletzt beherbergt der Ort auch einige „Helden“ des Nationalsozialismus, wie z.B. Werner von Fritsch, der in der Zeit des Nationalsozialismus Generaloberst war. Er wurde wegen Homosexualität angeklagt, später freigesprochen aber nicht vollständig rehabilitiert, und kam beim deutschen Überfall auf Polen ums Leben. Neben denen, die im Zweiten Weltkrieg Schlachten befehligt haben, liegen deutsche Widerstandskämpfer wie z.B. die Offiziere Fritz von der Lancken und Wilhelm Staehle, die an dem gescheiterten Attentat auf Adolf Hitler im Juli 1944 beteiligt waren.

Eun Joo Nam, Juli 2022
eunjoonam@web.de

Grabstein von Götz Herbig auf dem Invalidenfriedhof in Berlin

Friedhofsgedanken

“Ist es Zufall, dass an diesem Ort, dem Invalidenfriedhof, wo all die Militärs liegen, die letzten Kämpfe stattfanden? Ein Ort der Gewalt.” (Uwe Timm: „Halbschatten“)

Es war ein sonniger Nachmittag im Frühling 2022, als ich zusammen mit einigen Freunden den Berliner Invalidenfriedhof besuchte. Seit Mitte des 18. Jahrhunderts wurden hier 235 teilweise monumentale Gräber errichtet. Mein Blick fiel auf das Grab von Götz Herbig und seinem Sohn Götz-Ehrhardt Herbig. Der Vater war ein Major und sein Sohn war Cand. med., am 25.07.1920 geboren und am 12.01.1941 gestorben. Ich war schockiert: Hier lag ein junger Mann, der im Alter von 21 Jahren im Krieg getötet wurde. Er hatte Medizin studiert. Dann kam der Zweite Weltkrieg. Er kämpfte für sein Land und verlor sein Leben.

Der Blick auf dieses Grab war wie eine Zeitreise zum Russisch- Ukrainischen Krieg. Im Juni meldete die ukrainische Regierung etwa 10.000 getötete Soldaten. Sie waren Angehörige der regulären Streitkräfte, der Nationalgarde oder der Freiwilligenarmee. Wenn wir uns die Anzahl der Toten auf beiden Seiten der Front des Russisch-Ukrainischen Kriegs vergegenwärtigen, dann gibt es mehr als hundert “Invalidenfriedhöfe” innerhalb von wenigen Monaten. Ich frage mich, warum die Menschen jetzt wieder einen Krieg erleiden müssen. Wofür lohnt es sich zu sterben – für die Machtphantasien eines Mannes?

Der ruhende Löwe über dem Fries des Grabmals für Gerhard von Scharnhorst (1755 – 1813)

Ein schlafender Löwe zieht meine Augen auf sich. Er gehört zu dem Grabmal von Gerhard Johann David von Scharnhorst, der der erste Chef des preußischen Generalstabs war. Der Löwe ist der König aller Tiere, und es ist angemessen, Scharnhorst als Löwen zu bezeichnen. Der schlafende Löwe hat in seiner Zeit getan, was ihm aufgetragen wurde. Hier schläft er in aller Ruhe. Das erinnert mich an ein biblisches Wort: „Denn ich werde schon geopfert, und die Zeit meines Abscheidens ist vorhanden. Ich habe einen guten Kampf gekämpft, ich habe den Lauf vollendet, …“ (2. Timotheus, 4,6-7)

Stimmt. Alte Soldaten sterben nie! Den ganzen Nachmittag waren wir auf dem Friedhof. Aber ich war nicht traurig, sondern im Frieden.

Angela Hsu, Juli 2022
hsu.pingfen@gmail.com

Kindheit im Krieg

Im zweiten Golfkrieg 1990/91 hatte ich mein erstes Kriegserlebnis. Ich war fünf Jahre alt und verstand noch nicht so recht, was los war. Im Kindergarten sprachen wir ein wenig über den Krieg, und zuhause mussten wir alle Fenster mit einer Kunststofffolie abdecken, um uns vor chemischen und biologischen Waffen zu schützen, die eventuell zum Einsatz hätten kommen können. Als Kind hasste ich Gasmasken. Sie hinderten mich daran, frei zu atmen, aber noch schlimmer waren die Auswirkungen auf meine Haare. Ach, die verdammte Maske hatte etwa sechs bis acht Befestigungsbänder, die sich ständig mit meinen lockigen Haaren verknoteten. Das war eine Folter, die ich niemals vergessen werde. Vielleicht ist es für mich auch einfacher, von diesem Schmerz zu sprechen, den ich damals als Kind empfand. Die Angst, Furcht und Traurigkeit, die ich als Erwachsene während der nachfolgenden Kriege verspürte, sind weitaus schwieriger zu beschreiben.

Als Jugendliche und Erwachsene erlebte ich viele weitere kriegerische Auseinandersetzungen. Doch wenn ich ehrlich bin, hatte ich das beängstigendste Erlebnis nicht in Israel, sondern an einem Silvesterabend in Leipzig – wegen der kreuz und quer durch die Luft fliegenden Feuerwerkskörper.

Yael Peri, Juli 2022

Kriegsrecht in Taiwan

Seit dem sechzehnten Jahrhundert gab es auf Taiwan keinen Krieg, aber die Insel hat eine lange Kolonialgeschichte. Beispielsweise war Taiwan zwischen 1895 und 1945 japanische Kolonie. Meine Großeltern mussten in der Schule Japanisch lernen, der Unterricht fand auf Japanisch statt und in der Verwaltung wurde nur Japanisch als Amtssprache akzeptiert.
Seit dem sechzehnten Jahrhundert gab es auf Taiwan keinen Krieg, aber als der Zweite Weltkrieg 1945 endete, verlor Japan Taiwan an die Regierung von Jiang Kai-shek. Kurze Zeit später verlor allerdings Jiang den chinesischen Bürgerkrieg gegen Mao Zedong. Jiang Kai-shek floh mit seiner Armee und seinen Anhängern nach Taiwan. Aber die alteingesessene Bevölkerung auf der Insel respektierte die neue von Jiang und seiner Partei errichtete Herrschaft nicht.

Am 28. Februar 1947 verübte Jiangs Partei in Südtaiwan ein Massaker. Viele Oppositionelle, unter ihnen Ärzte, Professoren und Schriftsteller, wurden getötet. Nach diesem schrecklichen Ereignis wurde über ganz Taiwan das Kriegsrecht verhängt, das erst 1987 aufgehoben wurde. Ich war damals ein sehr junges Mädchen und musste in der Schule Mandarin, die Sprache der Han-Chinesen, sprechen, die mein Großvater überhaupt nicht verstand.

Angela Hsu,
hsu.pingfen@gmail.com

„Falsche Sirene“

Es war Sonntagnachmittag. Ich war noch ein Kind und saß zusammen mit der ganzen Familie am Tisch im Wohnzimmer. Plötzlich heulte die Sirene und über alle Medien und öffentlichen Lautsprecher wurde die Nachricht verkündet, ein nordkoreanisches Militärflugzeug habe die Grenze überquert und nähere sich unserer Hauptstadt Seoul. Wir waren aufgefordert, die Wohnung zu verlassen. Also stürzten wir hinaus und gesellten uns zu den Nachbarn vor unserer Wohnung.

Damals führten wir einmal im Monat eine solche Evakuierungsübung durch, um uns auf einen nordkoreanischen Luftangriff vorzubereiten. Unsere Angst war real. Aber wohin sollten wir gehen?

Da kam auch schon die Mitteilung, dass es nur ein Alarm zu Übungszwecken war. Wir sahen einander an und brachen in Gelächter aus. Einer von uns hatte keine Schuhe an, andere trugen eine Decke, um sich gegen die Bomben zu schützen.

Damals glaubten wir wirklich, dass Nordkorea uns bald angreifen würde. Die Regierung schürte absichtlich die Angst vor dem Krieg, um die Opposition im Land besser unter Kontrolle halten zu können. Was für eine „falsche Sirene“!?

Nach der Demokratisierung Südkoreas Ende der 1980er Jahre hörte die Regierung auf, ständig den bevorstehenden Angriff aus dem Norden zu verkünden, und die Evakuierungsübungen wurden eingestellt.

Eun Joo Nam, Juli 2022
eunjoonam@web.de

HumboldtForum-ESch-2022

Humboldt-Forum

Wenn man Wahrzeichen einer Stadt benennt, bringt man damit eine persönliche Vorstellung von dieser Stadt zum Ausdruck. Man wählt unter vielen Dingen, die eine Stadt zu bieten hat, die persönlichen Lieblingsmerkmale. In diesem Sinne will ich über das Berliner Humboldt-Forum schreiben.

Die Erwartungen an das Humboldt-Forum waren groß: Humboldt‘sche Weltbürgerlichkeit im wiederaufgebauten Schloss, die Verknüpfung der Sammlungen zur europäischen Kunst und Kultur auf der Museumsinsel mit den außereuropäischen Museen im Humboldt-Forum und der gleichberechtigte Dialog der Kulturen. Doch es gibt eine deutliche Diskrepanz zwischen dem Konzept und seiner Verwirklichung.

Vor drei Wochen öffneten die Sammlungen des Ethnologischen Museums und des Museums für Asiatische Kunst im Humboldt-Forum. Es wurde schon öffentlich kritisiert, dass ein Großteil der Sammlungen aus kolonialer Gewaltherrschaft stammt und also als koloniales Raubgut gelten muss. Das trifft auch auf die koreanische Sammlung zu, aber hier ist die Sache besonders kompliziert, weil es nicht allein um den europäischen Kolonialismus geht, sondern auch um den japanischen Kolonialismus und die in Europa vorherrschende Unkenntnis darüber. Die koreanische Abteilung befindet sich zwischen der japanischen und chinesischen, und sie nimmt nur ein Zehntel der Fläche der beiden anderen Sammlungen ein. Zudem besteht die koreanische Sammlung nur aus wenigen Keramiken, während die anderen Sammlungen mehr als hundert verschiedene Werke zeigen. Das Humboldt-Forum sagt, das liege daran, dass es nicht viele gesammelte Werke aus Korea gibt. Aber bei anderen Ausstellungsflächen nehmen nicht nur einzelne antike Gegenstände, sondern auch die vom Forum aufgebauten Rekonstruktionen wie ein japanischer Teeraum oder ein chinesisches altes Haus großen Raum ein. Der Kurator für Asiatische Kunst im Humboldt Forum, so habe ich gehört, studierte und arbeitete in Japan und in China.

Darüber hinaus habe ich festgestellt, dass sogar einige von Japanern gesammelte Objekte in den koreanischen Pavillons ausgestellt sind. Vor und nach dem Zweiten Weltkrieg wurden viele koreanische Antiquitäten von Japan geraubt oder zerstört. Deshalb gehören diese Objekte zum kolonialen Raubgut. Dass sie im Humboldt-Forum kommentarlos ausgestellt werden, zeugt einmal mehr von der mangelnden Beschäftigung mit dem japanischen Kolonialismus.

Trotz all dieser Probleme ist das Humboldt-Forum mein neues Wahrzeichnen von Berlin, weil das ein Versuch ist, der mich sehr optimistisch stimmt und der intensiv weiterentwickelt werden muss, um die kritische Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus zu motivieren und zu fördern. Bis jetzt überwiegt beim Humboldt-Forum leider noch die Diskrepanz zwischen dem Anspruch und der konkreten Umsetzung.

Eun Joo Nam, Dezember 2021
eunjoonam@web.de

2022 Angela Hsu Fersehturm

Vor dem Tor

Ein Tor ist eine Öffnung in einer Mauer, so definiert es der Duden. Das heißt, dass es zwei Welten gibt: eine Welt vor und eine Welt hinter dem Tor. Wenn man durch das Tor tritt, erlebt man die Welt von einer anderen Seite. Das heutige Frankfurter Tor hat zwei Türme, wie zwei Wächter im Osten der Stadt Berlin. Vor mehr als 300 Jahren verlief hier die Stadtmauer und das Tor war aus Holz. Damals begann die Industrialisierung, es war das Jahrhundert der Französischen Revolution und des Amerikanischen Unabhängigkeitskrieges. Es war auch die Epoche der Aufklärung. Die Idee der Demokratie wurde geboren. Ich stelle mir vor, dass damals ein Tor in eine neue Epoche geöffnet wurde.

Ich sehe das Frankfurter Tor fast jeden Tag aus meinem Fenster, ich wohne ungefähr 100 Meter davor. Durch die Straßenschneise zwischen den beiden Tortürmen kann ich den Fernsehturm am Alexanderplatz sehen. Von Osten sehe ich in Richtung Westen, so wie ich aus Fernost nach Westen, nach Europa, gekommen bin. Was suche ich hier? Ich befinde mich geradewegs vor dem Tor, am Eingang.

2022 Dadong Men -Tor im Südwesten Taiwans

Dadong Men heißt das große Tor im Ostteil meiner Heimatstadt Tainan, die im Südwesten Taiwans liegt. Das Tor wurde 1725 in der Epoche der Ching Dynastie erbaut. 70 Jahre später wurde die Republik Formosa gegründet. Als ich ein Mädchen war, schaute ich durch das Tor hindurch nach draußen. Ich fragte mich: Was wird mich erwarten, wenn ich durch das Tor gehe?

Vom Dadong-Tor bis zum Frankfurter Tor sind es 9000 km. Wenn ich zwischen den beiden Wächtertürmen des Frankfurter Tores hindurchschaue, kommt mir wieder die Frage in den Sinn, die ich als kleines Mädchen gehabt habe: Was wird mich erwarten, wenn ich durch das Tor gehe?

Angela Hsu, Dezember 2021
hsu.pingfen@gmail.com

vanessa brandenburger tor 2022

Wahrzeichen in Berlin – Brandenburger Tor

Stellen Sie sich vor, Sie kommen aus Brasilien und Ihre erste Reise nach Europa führt Sie nach Berlin. Aber Sie machen die Reise nicht nur, um die Stadt kennenzulernen, sondern um dort zu leben. Dies ist meine Geschichte.

Als ich im Jahr 2017 nach Berlin kam, war ich von vielen Orten und von vielen Dingen begeistert. Aber meine größte Sehnsucht war, das Brandenburger Tor zu sehen. Das war mein Berlin, d. h. das Bild, das ich mir aus der Ferne von der Stadt gemacht hatte. Als ich das Bauwerk dann zum ersten Mal sah, war ich von seiner Größe und Schönheit beeindruckt.

Nicht selten entwickelt man zu Orten eine persönliche Beziehung, die man nur aus Büchern oder aus dem Fernsehen kennt. Wenn man dann die Gelegenheit hat, einen dieser Orte zu besuchen, ist es an der Zeit, präzise Informationen einzuholen.

Das Brandenburger Tor wurde 1734 als Stadttor erbaut. Auf Wunsch des preußischen Königs Friedrich Wilhelm II. wurde der Bau in seiner heutigen Form nach Plänen von Carl Gotthard Langhans errichtet. Es sollte ein Symbol des Friedens werden, architektonisches Vorbild war das “Stadttor von Athen“.

Nicht von ungefähr spricht man vom klassizistischen Stil. Das Brandenburger Tor besteht aus zwölf dorischen Säulen, sechs auf jeder Seite. Die Säulen bilden zusammen fünf Durchgänge. Ursprünglich durften die Bürger nur die äußeren zwei Durchgänge auf jeder Seite verwenden. Das Monument ist das einzig erhaltene von zuletzt achtzehn Berliner Stadttoren. Es ist 26 m hoch, 11 m tief und 65 m breit.

Das Brandenburger Tor war Zeuge wichtiger historischer Ereignisse. Im Oktober 1806 marschierten die französischen Truppen Napoleons durch das Tor und besetzten Berlin, die preußische Hauptstadt. Um seine Herrschaft über das besiegte Preußen zu demonstrieren, ließ Napoleon die Quadriga, die das Bandenburger Tor krönende Bronzeskulptur, abbauen und schickte sie nach Paris. Erst 1814, nachdem die antifranzöische Allianz unter Führung von Russland und Preußen gegen Napoleon siegreich war, kehrte die Quadriga wieder nach Berlin zurück.

Viele Jahre später, während des Kalten Krieges, stand das Brandenburger Tor isoliert, nur DDR Soldaten hatten Zugang. Als dann im November 1989 die Mauer fiel, wurde das Denkmal zum Zeichen der deutschen Wiedervereinigung.

In den letzten Jahren bin ich ein wenig durch Europa gereist, und mir sind Ähnlichkeiten zwischen dem Triumphbogen in Paris und dem Brandenburger Tor aufgefallen. Der Arc de Triomphe ist jünger und sehr viel höher, aber beide Bauwerke wurden im klassizistischen Stil errichtet und beide sind herausragende und geschichtsträchtige Wahrzeichen ihrer Stadt. Ich bewundere die einzigartige Schönheit beider Bauten, aber als Neu-Berlinerin fühle ich mich doch zu meinem Lieblings-Wahrzeichen, dem Brandenburger Tor, immer wieder besonders hingezogen.

Vanessa Hartmann-Kusowski, Dezember 2021
vanessa.kusowski@gmail.com