Nachbarschaftshaus Urbanstraße

Markus Runge und Bettina Bofinger im Garten des Nachbarschaftshauses Urbanstraße

Das Nachbarschaftshaus Urbanstraße ist der Oldie unter den Stadtteilzentren. Seit über 70 Jahren findet am Standort Nachbarschafts- und Gemeinwesenarbeit statt. Das Gebäude in Kreuzberg wurde 1913/14 als Offizierscasino erbaut, aber schon in den 1920er Jahren als Kulturhaus der Berliner Liedertafel genutzt. 1949 begann dann hier die Nachbarschaftsarbeit. US-amerikanische Mennonit*innen bauten dort im Rahmen ihres Freiwilligendienstes ein Nachbarschaftszentrum auf und betrieben dieses bis Mitte der 1950er Jahre. Ihr Ziel war die Re-Demokratisierung der deutschen Bevölkerung. Das Nachbarschaftshaus wurde zu einem Ort der Begegnung, an dem es Sportangebote, eine Bibliothek, eine Nähstube, aber auch Chöre und Musikkreise gab.

Als die amerikanischen Freiwilligen 1954 Berlin verließen, ging das Nachbarschaftshaus in lokale Trägerschaft über. Finanziert wurde die offene Tagesstätte mit kostenlosen Mahlzeiten und anderen Angeboten für die Nachbarschaft bis 1969 von der Klassenlotterie. Umgangssprachlich hieß das Nachbarschaftshaus im Kiez daher lange Zeit „Lotto-Heim“. Es gab Kinder- und Jugendangebote, aber auch Veranstaltungen für Erwachsene.
„Das Nachbarschaftshaus war von Anfang an ein Haus für alle Generationen“, erklärt Geschäftsführer Markus Runge. Der studierte Sozialarbeiter ist seit 1998 in verschiedenen Funktionen für den Verein tätig, seit zwei Jahren in seiner aktuellen Tätigkeit. „Je mehr Angebote es gab, desto enger wurde es natürlich im Haus – und es kam auch immer mal wieder zu Interessenskonflikten zwischen verschiedenen Nutzergruppen.“

Also wächst das Nachbarschaftshaus Urbanstraße über das ursprüngliche Gebäude hinaus. Es gibt neue Standorte und Ausgründungen, erst nur in Kreuzberg 61, dann auch in anderen Teilen Kreuzbergs und inzwischen gehören auch Einrichtungen und Projekte im ganzen Bezirk zum Verein, viele mit dem Fokus auf Nachbarschafts- und Gemeinwesenarbeit.

Nachbarschaftshaus Urbanstraße

„Es ist unsere Aufgabe in der Gemeinwesenarbeit, hinauszugehen in die Kieze und dort mit den Leuten zu sprechen. So erfahren wir, welche Themen die Menschen in der Nachbarschaft beschäftigen“, erzählt Bettina Bofinger, die im Nachbarschaftshaus Urbanstraße e.V. die Öffentlichkeitsarbeit betreut. Die gelernte Bibliothekarin ist 2012 über die FreiwilligenAgentur Willma zum Nachbarschaftshaus gekommen.

Durch die räumliche Nähe zu einer temporären Geflüchtetennotunterkunft in einer Turnhalle in der Geibelstraße arbeitet das Nachbarschaftshaus seit 2015 viel mit geflüchteten Menschen zusammen. „Wir haben viel von den Bedürfnissen und Sorgen dieser Menschen erfahren und so sind einige neue Angebote und Projekte entstanden“, sagt Bettina Bofinger. Auf diese Weise entstand 2018 etwa das Projekt Wohnscouting, das Geflüchtete bei der Wohnungssuche unterstützt.

Ganz neu ist das EmpowermentCafé für Frauen aus Westafrika , das an diesem Nachmittag im Mai pandemiebedingt im Garten stattfindet. „Die Idee für dieses neue Angebot ist aus unserem Eritreischen FrauenCafé heraus entstanden, das es schon einige Jahre gibt. Dabei kristallisierte sich heraus, dass auch Menschen aus den westafrikanischen Staaten das Bedürfnis nach gemeinsamem Austausch mit anderen haben, die aus der gleichen Region stammen. Wie man sieht, wird das neue Angebot gut angenommen – auch weil es parallel eine Betreuung für die Kinder gibt“, erläutert Markus Runge.

Die Zielgruppen der Angebote im Nachbarschaftshaus sind heute vor allem Erwachsene und ältere Menschen. Außerhalb der Pandemie gibt es Chöre und Singkreise, intergenerative Theatergruppen, Nähkurse und Gruppen für biografisches Schreiben. Außerdem zeigt das Nachbarschaftshaus regemäßig Ausstellungen. „Vor allem Künstler*innen aus den umliegenden Kiezen bekommen hier die Möglichkeit, erstmals ihre Werke zu präsentieren“, erzählt Bettina Bofinger. Dienstagnachmittags gibt es eine Selbsthilfefahrradwerkstatt, die von einem Mann geleitet wird, der als Geflüchteter nach Berlin kam. Auch eine niedrigschwellige Sozialberatung gibt es im Haus. Viele der Angebote und Projekte sind seit einem Jahr wegen der Infektionsschutzbestimmungen kaum oder gar nicht möglich. „Corona ist für uns eine echte Zäsur und wird unser Programm sichernachhaltig verändern. Wir werden danach schauen, was weitergeführt wird und was Neues entsteht“, stellt Markus Runge fest.

Da der Trägerverein auch Eigenmittel in die Finanzierung einbringen muss, kann der ehrwürdige Saal des ehemaligen Offizierscasinos, sofern gerade keine Pandemie herrscht, auch für private Feiern wie Geburtstage, Trauerfeiern, Weihnachtsfeiern, Hochzeiten oder Henna-Abende gemietet werden.

Das Nachbarschaftshaus wird aber auch von vielen anderen Initiativen, Vereinen und Gruppen für Vernetzungstreffen oder als Proberaum genutzt. Eine langjährige Nutzerin ist im Vorjahr ausgezogen: die Tanzschule Taktlos. „Generationen von Kreuzberger*innen aus den umliegenden Kiezen haben diese Tanzschule besucht und kannten das Nachbarschaftshaus vor allem über ihren Tanzunterricht!“, erinnern sich Bettina Bofinger und Markus Runge. Ein trauriger Abschied, aber auch Raum für Neues.

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Mehr über die Nachbarschaftszentren im Bezirk erfahren Sie auch in unseren Porträts des RuDi im Friedrichshainer Rudolfkiez und des Stadtteilzentrums Familiengarten in Kreuzberg.