Die Dampflok hört auf den Namen „Else“. Als sie sich am 9. Oktober 2022 gleich zweimal – morgens und nachmittags – auf große Fahrt begab, machte sie einmal mehr ordentlich Dampf. Viel Dampf um nichts, könnte man vermuten. Mitnichten. Der historische Sonderzug, der sich am Bahnhof Lichterfelde-West auf der Trasse der traditionsreichen Wannseebahn in Bewegung setzte, hatte dazu einen guten Grund: Es galt schließlich den 150. Geburtstag des Traditionsbahnhofs nach allen Regeln der Kunst zu feiern. Wie die Annalen berichten, wurde die einstige Haltestelle „Lichterfelde“ am 15. Dezember 1872 aus der Taufe gehoben. Damals verkehrten pro Tag bescheidene sieben bis acht Personenzüge, ergänzt um einen Güterzug in jeder Richtung. An der Schwelle zur Jahrhundertwende, am 1. Januar 1899, erhielt der Bahnhof den Namen, den er auch heute noch trägt: „(Groß-)Lichterfelde-West“. Das Attribut „groß“ entfiel im März 1925.
Ein seltener Anblick bot sich den zahlreichen Schaulustigen, die das Dampfross auf seinem Rundkurs durch Stadt und Umland vorbeirollen sahen. Zugegeben: Das ganze Spektakel schien ein bisschen wie aus der Zeit gefallen, war aber gerade deshalb für alle, die es miterleben durften, umso beeindruckender. Das lag vor allem an den reizvollen Aussichten beim Blick aus dem Fenster: An den Wassern des Wannsees vorbei führte die Fahrtstrecke durch herbstliche Wälder. In westlicher Richtung ging es nach Potsdam und von dort weiter hinaus in die brandenburgische Havelland-Provinz. Bei der Rückkehr nach Berlin gab es fast keinen Bezirk, der nicht zumindest einmal kurz touchiert worden wäre: ein buntes und abwechslungsreiches Panorama-Kaleidoskop der an optischen Reizen so reichen Stadt.
Förderverein chartert Nostalgie-Sonderzug
Aber alles der Reihe nach: Der Förderverein des Bürgertreffpunkts Bahnhof Lichterfelde West e.V. (https://www.lichterfelde-west.net/) hatte die Idee, aus Anlass des Bahnhofsgeburtstags einen Nostalgie-Sonderzug zu chartern. Da solche Nostalgiefahrten ein klein bisschen anders ablaufen als es moderne Alltags-Bahnfahrer gewöhnt sind, durften auch Livemusik und leiblich-kulinarische Bord-Beköstigung nicht fehlen. Praktisch, dass die Organisatoren auf die „hauseigene“ Dixieland-Band zurückgreifen konnten, die ihre Proben regelmäßig in den Räumlichkeiten der Freizeitstätte abhält. Kein Wunder, dass bei schmissigen Rhythmen im Speise- und Abteilwagen auch das eine oder andere Tanzbein geschwungen wurde. Gesichtet wurden mehrere Damen und Herren, die ihre Garderobe ganz auf den eleganten Modestil des
Dampfross-Zeitalters abgestimmt hatten. Digital war an diesem denkwürdigen Sonntag nichts. Nicht einmal das Arbeitsmaterial des Schaffners, der das schicke Ticket-Lesegerät moderner Zugbegleiter durch eine herrlich altmodische Kontrollzange ersetzte: eine Zange, mit der er zur Entwertung ein Loch in ebenso herrlich analoge Fahrkarten aus Karton stanzte.
Jubiläumsausstellung zu 150 Jahren Bahnhofgeschichte
Rund drei Stunden waren die Fahrgäste der beiden Nostalgie-Zugfahrten unterwegs. Flankiert wurden die Fahrten durch eine kleine, aber feine Jubiläumsausstellung in den Räumen des Bürgertreffpunkts, gestaltet mit viel Liebe zum Detail. Gäste der Freizeitstätte hatten Exponate aus ihrem Privatbesitz zur Verfügung gestellt und damit die Vitrinen und Ausstellungswände mit wahren Schätzen bereichert: Die an die Wand drapierte Spielzeugeisenbahn aus nachhaltigem Holz ist darunter, der bemützte Berliner Schaffner als Plüsch-Bärenfigur, das Notenblatt der „lieben kleinen Schaffnerin“, ein ganz im Eisenbahn-Spiel versunkener Peter Alexander, Vinyl-Single-Schallplatten von Udo Jürgens oder Howard Carpendale („Nimm den nächsten Zug“), auf denen das Thema Eisenbahn besungen wird. An anderer Stelle findet sich ein Hauch Kursbuch-Lyrik, gipfelnd im Dichterwort von Kurt Tucholsky (1890-1935): „Das
deutsche Schicksal: vor einem Schalter zu stehen. Das deutsche Ideal: hinter einem Schalter zu sitzen“.
Ergänzt wurde die Ausstellung durch eine Reihe von großformatigen Hinweistafeln, die im Außenbereich des Bahnhofs aufgestellt wurden. Wie schon vor zehn Jahren, bei der Feier des 140. Bahnhofsgeburtstags, informierten sie über die wichtigsten Eckdaten der Bahnhofshistorie: über den langen Weg vom Dampfantrieb zur Elektrifizierung, über die Einbettung des Bahnhofs in die Geschichte der Lichterfelder Villenkolonie aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, über die Ära der Ost-West-Konfrontation mit dem berühmten „Amibahnhof“, der während der Jahrzehnte amerikanischer Truppenpräsenz eine große Rolle spielte. Nicht fehlen durfte eine historische Einordnung des Bahnhofsbrandes vom Juli 1965.
Noch bis zum 18. November ist die Jubiläumsausstellung in den Räumen des Bürgertreffpunkts zu bewundern. Am bequemsten und umweltfreundlichsten zu erreichen ist sie natürlich mit der S-Bahn. Die Linie 1 (Richtung Wannsee) hält direkt am Bahnhof Lichterfelde-West. Im Alltagsbetrieb darf es dann auch gerne mal ein elektrifizierter S-Bahn-Zug sein. Zwar hat „Bahnhofsvorsteher“ Andreas Ohrt, der Leiter der Freizeitstätte, seine Dienstwohnung wie etliche seiner Vorgänger nicht mehr im Bahnhof, steht aber zu den Öffnungszeiten des Bürgertreffpunkts den Gästen der Ausstellung und allen Besucherinnen und Besuchern mit Rat und Tat zur Seite. Dabei wird er von seinem freundlichen Team aus Ehrenamtlichen unterstützt.
Ein gutes Team: Förderverein und Ehrenamtliche
Neben dem geglückten Bahnhofsjubiläum gibt es einen weiteren Grund zur Freude: Erst vor wenigen Wochen wurde der Weiterbetrieb des Bürgertreffpunkts im Bahnhof Lichterfelde-West als Freizeitstätte der „Generation 55 plus“ gesichert. In diesem Zusammenhang stehen demnächst umfassende Umbaumaßnahmen im Erdgeschoss der Freizeitstätte an. Das erste Obergeschoss, in dem sich einst die Dienstwohnung des Bahnhofsvorstehers befand, steht Gruppen und Besuchern künftig nicht mehr zur Verfügung. Andreas Ohrt sieht es gelassen und nimmt die Dinge, wie sie kommen. Gemeinsam mit Harald Hensel, dem Vorsitzenden des Fördervereins, laufen schon die Planungen für die nächsten 150 Jahre des Bürgerbahnhofs in Lichterfelde.
Anlässlich der Feierlichkeiten zum 150. Geburtstag des Bahnhofs konnte der Bürgertreffpunkt viele neue Gäste begrüßen. Sie gilt es nun dauerhaft zu gewinnen. Die Freizeitstätte steht nämlich auch im Alltag für generationsübergreifende Gastfreundschaft. In diesem gemeinsamen Ziel ist und bleibt der Förderverein ein unverzichtbarer Partner, auf dem man sich stets hundertprozentig verlassen kann. Hinzu kommt das Engagement der ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer, das im Gesamtgefüge des Freizeitstätten-Betriebs nicht hoch genug einzuschätzen ist.