Mehr Teilhabe in der Arbeitswelt für Menschen mit Behinderung

Team in Interaktion

Mehr Teilhabe in der Arbeitswelt für Menschen mit Behinderung

Riesige Kachelfenster, meterhohe Decken, gestützt von massiven Streben, und sehr viel Platz – mehr erinnert nicht an die Vergangenheit des einstigen Fabrikgebäudes. Erst knapp ein Jahr ist es her, doch seitdem wurde alles geputzt, weiß gestrichen, ein paar Wände wurden eingezogen, Holzböden verlegt, Lampen installiert, Tische aufgestellt und moderne Kunst verleiht den neuen Räumlichkeiten eine farbige, persönliche Note. Die lichtdurchflutete Halle wird seit Beginn 2017 als Großraumbüro, als sogenannter Coworking-Space, genutzt. Keine Besonderheit? Nur scheinbar. Denn das schöne Loft bietet Arbeitsplätze für Menschen mit Behinderung.

“HIER HAT ALLES EINE FUNKTION“

„Wir sind deutschlandweit die ersten und bisher einzigen, die ein Gemeinschaftsbüro mit ganzheitlicher Barrierefreiheit aufgebaut haben“, erzählt Stefanie Trzecinski, Initiatorin des Projekts und Gründerin der Kopf, Hand und Fuß gGmbH, der Trägergesellschaft, welche sich auf verschiedenen Wegen für Menschen mit Behinderung einsetzt. „Hier schaut zwar alles ganz normal aus, aber das ist es nicht. Hier hat alles eine besondere Funktion“, erklärt Trzecinski das Konzept des Büros. Und tatsächlich: Der Konferenztisch besteht nicht aus einer ebenen, „normalen“ Tischplatte, sondern weist unterschiedliche Höhen auf, sodass verschieden große Menschen problemlos nebeneinander und miteinander konferieren und arbeiten können. Die Einzeltische hingegen sind höhenverstellbar, sodass auch Rollstuhlfahrerinnen und Rollstuhlfahrer oder Rückenkranke einen individuell an die Bedürfnisse angepassten Arbeitsplatz bekommen. Farbliche Markierungen an den Türen erleichtern Menschen mit Lernschwierigkeiten und funktionalen Analphabeteninnen und Analphabeten die Orientierung. Und auch die Kunst an den Wänden und
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Streben ist natürlich schön, dient aber in erster Linie nicht als Dekoration, sondern zur Kennzeichnung von Wegbarrieren für Sehbehinderte.

Virtueller Tutor

DIE GRÖßTE HÜRDE: FUNKTIONALER ANALPHABETISMUS

„TUECHTIG” heißt das Projekt, das ein wenig mehr Gleichberechtigung in einen Arbeitsalltag bringt, der für einige Menschen aufgrund von Barrieren unmöglich zu führen ist. Dass Menschen mit Behinderung in vielerlei Hinsicht in der Gesellschaft noch immer benachteiligt sind, weiß Stefanie Trzecinski aus eigener Erfahrung. „Ich komme selbst aus einer gehörgeschädigten Familie“, erzählt die gelernte Sonderschulpädagogin. Hörgeschädigte haben oftmals große Schwierigkeiten, das Lesen und Schreiben zu erlernen, da sie weder die Buchstaben, noch die Wörter lautieren, das heißt aussprechen, können. So sind rund 80 Prozent der 16- bis 64-Jährigen mit Gehörschädigung funktionale Analphabeten, wohingegen etwa 13 Prozent der Gesamtbevölkerung nicht oder nur kaum lesen und schreiben kann.

EINE INITIATIVE GEGEN DIE SOZIALE UNGERECHTIGKEIT

Das grenzt die Gehörgeschädigten von der Gesellschaft aus. Nicht nur erschwert funktionaler Analphabetismus die Wissensvermittlung, auch wird dadurch die Arbeitssuche erheblich beeinträchtigt. Denn in so gut wie jedem Beruf wird schlichtweg erwartet, lesen und schreiben, und natürlich hören zu können. Doch aufgrund der Behinderung nicht arbeiten zu dürfen, das fand Trzecinski ungerecht und gründete die gemeinnützige Einrichtung Kopf, Hand und Fuß, die sich dafür einsetzt, dass ausnahmslos jede/r an der Gesellschaft teilhaben kann. Im Zuge verschiedener Projekte geht sie gemeinsam mit ihrem Team und der Unterstützung von Partnern der Einrichtung diese Probleme an, um das Leben von Menschen mit Behinderung ein wenig einfacher zu gestalten. Und da sie nicht jedes vernachlässigte Bedürfnis kennt, arbeitet sie eng mit ihrer Zielgruppe zusammen: „Wir fragen Menschen mit Behinderung, wo ihre Schwierigkeiten im Alltag liegen, und dann formen wir daraus ein Projekt“ – wie zum Beispiel das Großraumbüro „TUECHTIG“, oder auch „Aitame“, ein Online-Angebot, das Gehörlose bei der Jobvermittlung unterstützt. Via Skype und Gebärdensprache oder auch nur per Mail können sich Bedürftige an eine Kommunikationsassistentin oder einen -assistenten wenden, die bzw. der hilft, eine Bewerbung zu schreiben, auf Mails zu antworten oder eine/n Dolmetscher/in zu finden. Aitame ist estnisch und heißt “wir helfen“, und genau das tun Trzecinski und ihr Team. „Momentan sind wir noch in der Startphase und nur berlinweit aufrufbar. Aber online sind uns ja keine Grenzen gesetzt“, die Gründerin und Projektinitiatorin plant schon jetzt die Ausweitung des Hilfsangebot auf ganz Deutschland.

Diskussionsrunde

FÜR EINEN BERUF, DER FREUDE BEREITET

Bei ihren Projekten finanziell unterstützt wird Stefanie Trzecinski vom Europäischen Sozialfonds (EFS), der mit der Förderung die Arbeitswelt für Menschen mit Behinderung öffnen und verbessern will. Mithilfe des knapp fünfstelligen Betrags können die Kommunikationsassistentinnen und -assistenten von „Aitame“ bezahlt werden. Außerdem ist mittels der bereitgestellten Gelder ein Bewerbungsleitfaden in Gebärdensprache in Planung. Das Ziel ist, dass jede/r einen Beruf ausüben kann – und am besten einen, der Freude bereitet. „Neulich kam ein Gehörgeschädigter zu uns, weil ihn seine Tätigkeit in der IT-Branche nicht erfüllte und er unbedingt Koch werden wollte“, erinnert sich Trzecinski an eine besonders herausfordernde Aufgabe, „als Koch muss man aber Anweisungen geben, oft mal laut rufen, doch das brachte ihn nicht von seinem Wunsch ab.“ Also machte sie sich auf die Suche nach einer Lösung und stieß auf das SOS Kinderdorf, das dem Mann ein Praktikum anbot. Jetzt darf er bald in die Lehre gehen und endlich das tun, was er schon immer so gerne wollte – und das trotz seiner körperlichen Einschrän-kung. So eine Erfahrung zeigt Trzecinski, aber auch den Fördernden, dass sich die Investition lohnt, und dass doch sehr Vieles ermöglicht werden kann. „Wir wissen nichts“, sagt die Gründerin von Kopf Hand und Fuß, „aber wir sind offen, Neues zu lernen.“

Überblick

  • Begünstigter
    Kopf, Hand + Fuss gGmbH

    Ansprechpartnerin
    Stefanie Trzecinski

    Internetauftritt
    http://www.kopfhandundfuss.de/

    Projektlaufzeit
    01.10.2016 – 30.09.2017

    Prioritätsachse
    B – Soziale Inklusion, Bekämpfung von Armut und Diskriminierung

    Investitionspriorität
    b.i – Aktive Inklusion, nicht zuletzt durch die Förderung der Chancengleichheit und aktiver Beteiligung, und Verbesserung der Beschäftigungsfähigkeit

    Spezifisches Ziel
    SZ B.1 – Stärkung der sozialen Integration und der Beschäftigungsfähigkeit von Personen mit besonderem Unterstützungsbedarf am Arbeitsmarkt

    Förderinstrument
    Qualifizierung und Integration von Menschen mit Behinderungen

    Finanzierung
    Gesamte öffentliche Mittel:
    19997,37 EUR

    Davon EU-Mittel
    9998,69 EUR

    EU-Programm
    Europäischer Sozialfonds (ESF)

    Online
    www.berlin.de/strukturfonds

  • ESF Reportage über Kopf, Hand und Fuß

    PDF-Dokument (403.1 kB)