1997 - 125-jähriges Jubiläum der Zehlendorfer Gemeindeversammlung

Bezirksverordnetenvorsteher Günter Schulz (1924 - 1999)

Bezirksverordnetenvorsteher Günter Schulz (1924 - 1999)

Die Gemeindeversammlung als Vorläuferin der BVV

Am 02.12.1872 trat die Zehlendorfer Gemeindeversammlung, d.h. die Vorläuferin der Bezirksverordnetenversammlung, erstmals zusammen. Auf Beschluss der BVV Zehlendorf wurde das 125-jährige Jubiläum dieses Ereignisses am 3. Dezember 1997 mit einem Festakt begangen, zu dem der damalige Bezirksverordnetenvorsteher Günter Schulz einen Vortrag hielt. Darin schilderte er die obrigkeitlichen Zustände, die in den Jahrhunderten davor in Zehlendorf herrschten, die Entwicklung, die zu dieser ersten demokratischen Vertretung der Einwohnerschaft hinführte, sowie die Veränderungen im kommunalen Leben und Bewusstsein, die durch sie bewirkt wurden.

Das Rathaus Zehlendorf ist Sitz der Bezirksverordnetenversammlung Steglitz-Zehlendorf

Das Rathaus Zehlendorf ist Sitz der Bezirksverordnetenversammlung Steglitz-Zehlendorf

125 Jahre kommunale Selbstbestimmung

In letzter Zeit konnte man des Öfteren den Medien entnehmen, dass von Seiten des Senats mit dem Gedanken gespielt wird, im Sinne einer Verwaltungsvereinfachung die Kompetenzen der Berliner Bezirksversammlungen zu beschneiden.

Dies würde bedeuten, dass auf immer mehr Gebieten an den lokalen Vertretungen des Berliner Bevölkerung vorbei entschieden würde, ohne dass diese ihre Interessen und Belange in dem bisherigen Maße geltend machen könnten.

Solche Zukunftspläne sind jedoch eher ein Schritt in die Vergangenheit, denn auch in früherer Zeit wurden über viele Jahrhunderte die Geschicke der Zehlendorfer Bevölkerung nicht von dieser selbst bestimmt, sondern von außen gelenkt.

Daher möchte ich ein Jubiläum zum Anlass nehmen, um darauf hinzuweisen, wie sich diese ersten Jahrhunderte von den letzten 125 Jahren unterschieden und welcher Fortschritt dadurch erzielt wurde, dass vor 125 Jahren, am 2. Dezember 1872, die erste Zehlendorfer Gemeindeversammlung zusammentrat.

Kloster Lehnin um 1500 (Foto: Wikipedia)

Kloster Lehnin um 1500 (Foto: Wikipedia)

Wie wurden kommunale Angelegenheiten vor 1872 geregelt?

Seit vor etwa 800 Jahren Ur-Zehlendorf auf dem Gebiet des heutigen Museumsdorfs Düppel gegründet wurde, befand es sich immer im Besitz und in der Verwaltung Dritter: Zunächst gehörte es den askanischen Markgrafen, die es 1242 aus Geldnot an das Zisterzienserkloster Lehnin verkauften. Genau 300 Jahre später, 1542, fiel Zehlendorf mit der Einführung der Reformation an die brandenburgischen Landesherren.

Mit einer Selbstverwaltung war es in dieser Zeit nicht weit her; dafür war die Verwaltung aber auch um einiges kleiner als heute: Zur Zeit der Askanier bestand sie nur aus zwei Personen, die die landesherrliche Gewalt ausübten: Ein Vogt sorgte kraft seines Amtes für die Aufrechterhaltung von Ordnung und Sicherheit, und ein Landreiter bildete die Polizei. Zugleich zog er die Steuern ein und vollstreckte gerichtliche Urteile.

In den drei Jahrhunderten Kirchenherrschaft oblag den Lehniner Mönchen über einen sogenannten Schulzen die Verwaltung und die Gerichtsbarkeit.

Diese ging mit der Reformation in kurfürstliches Recht über, wurde vor Ort aber weiterhin vom Dorfschulzen wahrgenommen.

Die kommunale Versammlung aller Zehlendorfer erfolgte einmal jährlich beim sog. Dingetag, der um Martini herum stattfand. Dann kam der Domänenamtmann aus Berlin nach Zehlendorf, um fällige Steuergelder entgegenzunehmen, den Zehlendorfern Maßregeln für das kommende Jahr zu erteilen und Streitigkeiten zu schlichten. An eine Mitbestimmung der Zehlendorfer bei der Regelung ihrer Angelegenheiten dachte zu dieser Zeit niemand.

Ein Protokoll des Zehlendorfer Dingetags von 1759 berichtet, wie sich die gesamte Bevölkerung im Lehnschulzengericht einfinden und als allererstes ein Jeder vortreten und seine Pacht-, Zehnt-, Dienst- und Schutzgelder entrichten musste. Man sieht, auch damals pflegte die Staatskasse schon ein differenziertes Denken, um auf möglichst viele Arten an das Geld der Untertanen zu kommen.

Bezahlt werden durfte nur in sächsischen Achtgroschenstücken; Kleingeld sowie mecklenburgische oder gar schwedische Münzen wurden nicht angenommen. Auf dieser kommunalen Versammlung wurde jede einzelne Münze bei Abgabe vom Amtmann geprüft und dann in den Geldbeutel gelegt.

Daraufhin musste der Prediger sein Urteil über den Lebenswandel der Zehlendorfer abgeben, wobei er ausweislich des Protokolls beruhigenderweise erklärte, „dass die Untertanen sowohl als deren Kinder sich eines guten Wandels befleißigen“, so dass er gegen sie keine Beschwerde zu führen habe.

Als nächstes wurden die Zehlendorfer von dem aus Berlin angereisten Amtsmann nachdrücklich angehalten, ihre Felder gut zu bestellen, sie nicht versanden zu lassen und die Bäume ordentlich abzuraupen. Der Zweck, der dahinter steht, ist natürlich die Intensivierung der Wirtschaft; wir dürfen nicht vergessen, dass sich Preußen 1759 bereits im dritten Jahr des Siebenjährigen Krieges befand.

Ebenfalls im Zusammenhang mit dem Krieg steht eine Beschwerde, die die Zehlendorfer als nächstes vorbrachten und die dramatische Formen annehmen sollte. So kritisierten sie die tagtägliche starke Belastung durch die Stellung von Vorspannpferden für durchziehende Kriegsfuhren bis hin nach Potsdam. Hierdurch, so klagten sie, fielen die Pferde durch Abwesenheit oder vor Erschöpfung für die eigene Landwirtschaft fast ständig aus. Zwar sei ihnen durch Allerhöchste Königliche Ordre bereits Linderung versprochen worden, doch halte sich kein Offizier daran.

Wie auf ein Stichwort trat in diesem Augenblick ein Militärkommando aus Berlin in den Raum und verlangte die Stellung von Pferden für einen Militärtransport nach Potsdam. Diesmal hatten die Zehlendorfer noch Glück, denn der Amtmann konnte mit Hinweis auf die Königliche Ordre verhindern, dass die Pferde kurzerhand requiriert werden. (Allerdings ist wohl zu befürchten, dass an den anderen 364 Tagen im Jahr, an denen kein königlicher Amtmann zugegen war, die Belange der Zehlendorfer weniger Gehör bei den Militärs fanden.)

Als letztes musste der Domänenamtmann noch die Anliegen von zwei Zehlendorfer Untertanen entscheiden: Der Lehrer bat um mehr Holz, um die Schulstube zu heizen, und der Müller forderte, ihm mehr Land zur Verfügung zu stellen, da er nur so in der Lage sei, die hohen Abgaben zu erwirtschaften. Beide Anliegen wurden vom Amtmann abschlägig beschieden, und die beiden Zehlendorfer mussten sehen, wie sie mit der unbefriedigenden Situation weiterhin zurecht kamen. Damit war der Dingetag vom 21. November 1759 beendet.

Wie wir sehen, hatten die Zehlendorfer in diesen ersten Jahrhunderten ihrer Existenz, als sie Kloster- oder Amtsdorf waren, in kommunalen Dingen nicht viel mitzureden, sondern durften nur in vollkommener Abhängigkeit die Entscheidung von oben entgegen nehmen und erfüllen.

Erste Preußische Eisenbahn 1838

Erste Preußische Eisenbahn 1838

Das Selbstbewusstsein der Zehlendorfer wächst

In der Zeit des Feudalismus und des Absolutismus mochte eine solche Abhängigkeit der Untertanen von ihrer Obrigkeit noch als ein natürlicher und gottgewollter Zustand angesehen werden, und für ein kleines Kloster- oder Amtsdorf wäre damals nichts Anderes vorstellbar gewesen.

Im 19. Jahrhundert jedoch, d.h. in der Zeit des Bürgertums, erschien eine solche Abhängigkeit nicht mehr akzeptabel, und der Staat sah sich gezwungen, dem Selbstbewusstsein und den Forderungen des Bürgertums nach demokratischer Mitbestimmung nachzugeben. Auf gesamtstaatlicher Ebene geschah dies u.a. durch die Einführung des Wahlrechts, wenngleich es auch noch ein Dreiklassenwahlrecht war, und im kommunalen Bereich durch die Selbstverwaltung der Gemeinden.

Zwar wurden in Preußen die gesetzlichen Grundlagen hierfür schon bald nach der Märzrevolution von 1848 geschaffen; die Zehlendorfer brauchten dann aber noch mehr als zwei Jahrzehnte, bis sie ihre kommunalpolitischen Angelegenheiten in die eigene Hand nahmen.

Es dauerte vermutlich deshalb so lange, weil die Zehlendorfer erst noch in ein neues Selbstbewusstsein hineinwachsen mussten. 1850, als die neue „Gemeinde-Ordnung für den Preußischen Staat“ erlassen wurde, war der Ort weiterhin nicht mehr als ein kleines Bauerndorf, das sich von Dutzenden anderen märkischen Dörfchen nur dadurch unterschied, dass seit zwölf Jahren, d.h. seit 1838, die erste preußische Eisenbahn durch es hindurchführte und an der Bahnwärterbude 25, dem heutigen Bahnhof, sogar einen Halt einlegte.

Doch die Bude 25 war für die Zehlendorfer zugleich die Chance für ihren Einstieg in die Zukunft, denn nun begannen sich auch zahlreiche Berliner für das per Bahn leicht zu erreichende Fleckchen Erde zu interessieren, das so idyllisch in der Teltowschen Heide gelegen und von einem halben Dutzend Seen gesäumt war. Hier konnte man, so hieß es schon damals, „die Freuden des Landlebens genießen, ohne die Annehmlichkeiten der Großstadt zu entbehren.“

Die Folge dieser Attraktivitätssteigerung durch einen eigenen Bahnhof war ein rasches Anwachsen des Ortes. Die Einwohnerzahlen stiegen, Villen und Landhäuser entstanden, die einheimische Wirtschaft boomte, und Bude 25 musste einem schmucken neuen Bahnhof weichen, der seinerseits schon bald durch einen dritten, noch größeren ersetzt wurde (der dann 1943 bei einem Fliegerangriff zerstört wurde).

Die Zehlendorfer Bauern, die in der ersten Hälfte des Jahrhunderts infolge der Stein-Hardenbergschen Reformen in den Besitz des zuvor von ihnen nur bewirtschafteten Landes gekommen waren, nutzen das neue Interesse an ihrem Ort, und verkauften ihr Land an Villen- und Landhaus-Bauer und Wohnungsbaugesellschaften zu guten Preisen.

Damit einher ging eine Steigerung des Selbstbewusstseins der alten wie neuen Bürger, die nun nicht länger vom Amt Mühlenhof in Berlin verwaltet werden mochten, sondern ihre Geschicke selbst in die Hand nehmen wollten.

Der erste Gemeindevorsteher Wilhelm Haupt (Foto: Heimatverein Zehlendorf)

Der erste Gemeindevorsteher Wilhelm Haupt (Foto: Heimatverein Zehlendorf)

Zehlendorf wird selbständige Landgemeinde - Die erste Gemeindeversammlung am 2. Dezember 1872

Daher griff man auf die in der „Gemeinde-Ordnung“ von 1850 festgelegte Möglichkeit zurück, durch die Wahl einer kommunalen Vertretung zu einer selbständigen Landgemeinde zu werden.

Dies war allerdings auch nötig, denn, so schreibt der Leiter des Berliner Landesarchivs, Jürgen Wetzel, in seinem Buch über Zehlendorf: „Die kaum noch überschaubare Gemeinde konnte nun nicht mehr in altväterlicher Weise durch den auf Vorschlag der Lehnschulzenwitwe vom Amt Mühlenhof ernannten Schulzen verwaltet werden. Das „Gesetz betreffend die ländlichen Obrigkeiten in den sechs östlichen Provinzen der Preußischen Monarchie“ vom 14. April 1856 hatte es im § 8 den Ortsverwaltungen freigestellt, an Stelle der bis dahin üblichen Gemeindeversammlungen eine Vertretung durch gewählte Verordnete herbeizuführen. Zehlendorf stellte aber erst achtzehn Jahre später einen entsprechenden Antrag, der am 28. Juni 1872 durch das Ministerium des Inneren genehmigt wurde.“

Die Wahl der ersten Zehlendorfer Gemeindevertretung wurde am 24. Oktober 1872 durchgeführt, und die erste Gemeindesitzung fand am 2. Dezember 1872 statt, so dass in unserem Bezirk auf kommunaler Ebene das demokratische Prinzip und die Selbstverwaltung nunmehr genau 125 Jahre alt sind.

Wie diese recht komplizierte Wahl im Einzelnen durchgeführt wurde, kann hier nicht näher beschreiben werden. Einzelheiten werden aber in einem Artikel geschildert, den der Bezirksverordnete Herr Klaus-Peter Laschinsky im 2. Zehlendorfer Heimatbrief dieses Jahres verfasst hat. Ich will daraus nur eine Passage zitieren:

„Gewählt wurde nach dem bis zum Ende des Ersten Weltkriegs geltenden Drei-Klassen-Wahlrecht. Diesem Wahlrecht waren unsere heutigen Grundsätze – allgemeine, gleiche, geheime und direkte Wahl – fremd. Es begünstigte Gutsbesitzer, und zwar nicht nur den in Zehlendorf lebenden, sondern auch auswärtige. Fabriken und gewerbliche Anlagen berechtigten als ‘Forenser’ ebenfalls zur Wahl. Hingegen waren Frauen von der Teilnahme ausgeschlossen.

Gleiches Stimmengewicht und gleicher Erfolgswert, heute Kennzeichen einer ‘gleichen’ Wahl, wichen in den drei Klassen entsprechend den unterschiedlichen Steuerzahlungen stark voneinander ab. Und geheim waren die Wahlen ebenfalls nicht: Verdeckte Stimmzettel und Wahlkabinen waren nicht vorgesehen. Wahlberechtigt waren alle volljährigen männlichen Einwohner, die einen eigenen Hausstand und Wohnhaus in der Gemeinde hatten, keine Armenunterstützung erhielten, ihrer gemeindlichen Steuerpflicht nachkamen und im Besitz der bürgerlichen Rechte waren. So war in Zehlendorf auch die ‘Berlin-Potsdam-Magdeburger-Eisenbahn-Gesellschaft wahlberechtigt.“

Mit seiner ordentlich gewählten Gemeindevertretung war der Ort preußische Landgemeinde geworden, und ein neuer Abschnitt in der Geschichte Zehlendorfs begann.

Das Alte Schulhaus als Sitz der Gemeindeversammlung (Foto: Heimatverein Zehlendorf)

Das Alte Schulhaus als Sitz der Gemeindeversammlung (Foto: Heimatverein Zehlendorf)

Wie nutzten die Zehlendorfer die Möglichkeit der Selbstverwaltung?

Den Zehlendorfern, die damals zur Wahl gingen, war durchaus bewusst, dass mit dem Entstehen der Landgemeinde Zehlendorf für sie ein neues Kapitel in der Geschichte ihres Ortes aufgeschlagen wurde. Dass dieses Kapitel bis heute reicht und dass die kommunale Selbstverwaltung auch eine Erfolgsgeschichte sein würde, konnte damals allerdings keiner absehen.

Wenn wir das Entstehen der Landgemeinde Zehlendorf und der kommunalen Selbstverwaltung heute als eine wichtige Zäsur in der Geschichte des Ortes betrachten, die die sieben Jahrhunderte Fremdverwaltung davor von der kommunalen Selbstverwaltung danach trennt, so schien man diese Änderung damals eher mit Gleichmut hinzunehmen. Bei Durchsicht der einzigen Tageszeitung, die damals in unserem Bereich erschien, dem Teltower Kreisblatt, findet sich weder im Monat davor noch im Monat danach auch nur ein Hinweis auf dieses denkwürdige Ereignis!

Was die Leser in Nah und Fern stattdessen bewegte, stand in der folgenden Ausgabe des Teltower Kreisblatts (vom 4. Dezember 1872) auf Seite 1: Als sensationelle Neuerung im Postwesen gab es jetzt Postkarten zu vermelden, auf denen sich bereits eine Briefmarke befand, so dass, wie die Zeitung ihre Leser informierte, „es des Aufklebens der Freimarke nicht erst bedarf.“

Des Weiteren berichtete das Teltower Kreisblatt über eine Schlägerei zwischen zwei Kutschern sowie über eine saftige tätliche Auseinandersetzung zwischen mehreren Angehörigen der gebildeten Stände. Zehlendorf kam in dieser Ausgabe wie auch in den nächsten Wochen ausschließlich mit der Kleinanzeige von Fa. Kienast von der Neuen Fischerhütte vor, die wohlfeile „Kiefern, Kloben, Stubben, Tanger ( – was immer das sein mögen – ), Rüststangen, Netzriegel und Zaunstangen“ anbot.

Wir sehen, dass die Bedeutung, die die Zehlendorfer Gemeindevertretung einmal erlangen sollte, damals in der Öffentlichkeit noch nicht in dem Maße wahrgenommen bzw. gewürdigt wurde, wie wir es heute erwarten würden.

Im Rückblick kann man aber auch sagen, dass damals der Keim für etwas gelegt wurde, das sich schon bald entwickeln und gedeihen sollte. Denn wenn ihre neue Gemeindevertretung der Umwelt auch keine Nachricht wert schien, so wussten die Zehlendorfer sie doch durchaus zu nutzen.

In ihrer praktischen Arbeit erkannte die Zehlendorfer Gemeindevertretung schon bald, dass die vorgegebene Landgemeinde-Ordnung letztlich unbefriedigend war, da sie nur eine Zusammenfügung aller möglichen Gesetzesbestimmungen war. Daher modifizierte sie diese nach einiger Zeit und gab dem Ort eine maßgeschneiderte eigene Zehlendorfer Gemeindeordnung.

Wie gut die Zehlendorfer Gemeindevertretung die ihr gegebenen Möglichkeiten zu nutzen verstand, geht aus einer Zusammenstellung ihrer Arbeit hervor, die sie zwölf Jahre später, 1884, veröffentlichte. Die dort genannten 36 Punkte zeigen, wie durch die Arbeit der Gemeindevertretung das Leben im vormals ländlichen Zehlendorf den Anforderungen angepasst wurde, denen sich der boomende Vorort der Hauptstadt des deutschen Kaiserreichs stellen musste. Hier seien nur einige dieser drei Dutzend Erfolgsmeldungen genannt:

- Aufstellung eines Bebauungsplanes
- Verschönerung der Dorfaue durch Anpflanzungen
- Bildung einer freiwilligen Feuerwehr
- Ankauf des Gemeindewäldchens
- Aufstellung eines Orts-Status für den Bau von Straßen und Plätzen
- Einrichtung eines Wochenmarkts
- Verhinderung der Anlegung von Rieselfeldern unweit des Ortes
- Pflasterung von Straßen
- Vertrag mit den Charlottenburger Wasserwerken zur Lieferung von Wasser
- Einführung eines Regulativs betreffs Zahlung von Abgaben für öffentliche Lustbarkeiten

Durch die Gemeindevertretung und ihre Arbeit, so schrieb unser Ortschronist Paul Kunzendorf damals, ergaben sich „Jahre ruhiger und steter Entwicklung für Zehlendorf, und der Ort konnte sich in allen Erscheinungen des Verkehrs und des öffentlichen Lebens, vor allem in der Konkurrenz mit anderen Vororten Berlins, sehen lassen.“

Dennoch darf man sich die Kommunalpolitik nicht so durchstrukturiert und politisiert wie heute vorstellen. Gleich in der ersten Sitzung wurde von der Gemeindevertretung z.B. beschlossen, dass nicht regelmäßig, sondern nur bei Bedarf getagt werden sollte. Außerdem, so weist unser heutiger Experte für Zehlendorf im Kaiserreich, Dr. Kurt Trumpa, hin, ging damals in dem kleinen Örtchen Zehlendorf alles noch sehr viel familiärer zu als heute. Nicht nur, dass anfangs die Kommunalpolitik von den Zehlendorfer Clans gemacht wurde, sondern wenn man sich beim Friseur oder am Stammtisch traf, wurde dort genauso Politik gemacht wie bei den viel unregelmäßigeren Sitzungen der Gemeindevertretung.

Das gleiche galt auch für den ältesten Zehlendorfer Verein, den noch heute bestehenden Männer-Gesangsverein von 1873, der nur ein Jahr jünger ist als die Gemeindevertretung und der zumindest am Anfang von seinen Mitgliedern her ziemlich identisch mit den Angehörigen der Gemeindevertretung gewesen sein dürfte. Es war also gar nicht nötig, regelmäßig zu tagen, solange der Männergesangsverein nur regelmäßig probte! Abgestimmt werden musste freilich in der Gemeindeversammlung.

Trotz, oder vielleicht auch wegen, dieser familiären Atmosphäre lief die demokratische Selbstbestimmung in der Zehlendorfer Gemeindeversammlung gut an, so dass zwölf Jahre später der erwähnte Erfolgsbericht gegeben werden konnte.
Gemeindevertretung Anfang des 20. Jahrhunderts (Foto: Heimatverein Zehlendorf)

Gemeindevertretung Anfang des 20. Jahrhunderts (Foto: Heimatverein Zehlendorf)

25-Jahr-Feier der ersten Zehlendorfer Gemeindeversammlung am 2. Dezember 1897

Dementsprechend herrschte vor genau 100 Jahren, am 2. Dezember 1897, auch festliche Stimmung bei der außerordentlichen Sitzung, mit der die Zehlendorfer Gemeindeversammlung ihr 25jähriges Jubiläum beging. Zur Feier des Tages erhellten nicht nur erstmals zwei elektrische Kronleuchter den Raum, sondern dieser war auch mit einem neuen Wandschmuck geschmückt worden, der, wie es hieß, ihn für immer zieren sollte: der Büste Kaiser Wilhelms I., umgeben von zahlreichen goldbedruckten Widmungsschleifen.

Wie unser Ortschronist Kunzendorf weiter berichtet, gab der Vorsteher „aus Anlass des Jubeltages“ einen Rückblick auf die Zeit seit 1872, und dann, so heißt es weiter, „ging die Vertretung über zur Erledigung der Tagesordnung der Sitzung.“

Weiter schreibt Kunzendorf: „Anschließend blieben die Herren dann noch einige Zeit in dem behaglichen Raum in fröhlicher Tafelrunde vereint. Der Kaiserhofwirt hatte die Ausführung des gastronomischen Programms in die Hand genommen und zu aller Zufriedenheit erledigt. Bei trefflichem Gerstensaft erklang manch kerniges Wort seitens des Gemeindevorstehers…, und bald schlängelten sich blaue Wölkchen duftender Havannas in die Luft, und in anregender Unterhaltung blieben die Hüter des Gemeindewohls mit ihren Gästen noch geraume Zeit beisammen, bis die flüchtig enteilende Stunde zum Aufbruch mahnte. Vorbei war der stimmungsvolle Erinnerungsakt, der vom Geist der Eintracht und Harmonie durchweht war, und der der ganzen Gemeinde aufs neue zum Bewusstsein brachte, zu welch schönen Zielen die die Volkskraft stärkende und dem Wohle der Gesamtheit dienende Selbstverwaltung gelangt war.“

1907 gab sich die Gemeinde Zehlendorf ein eigenes Wappen (Foto: Heimatverein Zehlendorf)

1907 gab sich die Gemeinde Zehlendorf ein eigenes Wappen (Foto: Heimatverein Zehlendorf)

Abschließende Würdigung

Ich denke, die Bedeutung, die das Entstehen einer Zehlendorfer Gemeindevertretung vor genau 125 Jahren besitzt, ist allen klar geworden:

Fast 700 Jahre hing das Wohl und Wehe unseres Ortes und seiner Bewohner von den Entscheidungen meist sehr entfernt sitzender Dritter ab, die von ihren eigenen Anordnungen nicht direkt betroffen waren und zudem noch Dutzende anderer Dörfer verwalteten. Daher war es ihnen, wie wir anhand der Militär-Spanndienste sahen, zu denen die Zehlendorfer gezwungen waren, letzten Endes auch egal war, ob ihre Anordnungen zum Wohle des Ortes befolgt wurden, solange die Bürger nur ihre Abgaben zahlten.

All dies änderte sich mit dem Entstehen einer Gemeindevertretung und -selbstverwaltung vor 125 Jahren. Hier kannte man die Probleme des Ortes, dessen Wohl und Wehe auch das eigene war.

Wie wir aus der genannten Projektliste von 1884 ersehen können, waren viele der damaligen Probleme auch die von heute. Zugleich regelten die damaligen Gemeindevertreter die Angelegenheiten und Anforderungen unserer Gemeinde in einer so vorausschauenden und verantwortungsvollen Weise, dass wir noch heute davon profitieren. Die Aufstellung eines Bebauungsplanes zeugt ebenso davon wie die Verschönerung der Dorfaue oder der Ankauf des Gemeindewäldchens, das so vor einer Bebauung gerettet wurde.

Daher denke ich, dass wir heute mit unserer Arbeit in einer guten Tradition stehen und uns weiterhin bemühen sollten, den Ansprüchen gerecht zu werden, die von unseren Vorgängern gestellt wurden. Dann, so bin ich sicher, wird auch im kommenden Jahrhundert die Erfolgsgeschichte der Gemeindevertretung und Gemeindeselbstverwaltung fortgeschrieben werden.