Antisemitismusbeauftragter

Antisemitismus-Wortwolke

Im Juli 2025 wurde im Bezirksamt Neukölln die Stelle des Antisemitismus- und Queerbeauftragten eingeführt. Die Schaffung dieser Stelle ist eine Antwort auf die zunehmende Verbreitung von Antisemitismus und LSBTIQ*-Feindlichkeit.

Das Bezirksamt Neukölln von Berlin betrachtet die Auseinandersetzung mit Antisemitismus und Queerfeindlichkeit als eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, der auch die Arbeit des Antisemitismus- und Queerbeauftragten verpflichtet ist.

Die Arbeit des Beauftragten basiert inhaltlich u.a.
  • Gegen Antisemitismus und Queerfeindlichkeit in Neukölln

    Neukölln ist Vielfalt. Neukölln ist spannend. Doch spannende Vielfalt bedeutet auch viele Herausforderungen.

    In Neukölln begegnen sich unterschiedliche Menschen mit verschiedenen Hintergründen aus sehr unterschiedlichen Milieus. Sie alle haben das gleiche Recht auf Achtung und Schutz der Menschenwürde und das gleiche Recht auf Wahrung ihrer personalen Individualität, Identität und Integrität, auf Leben, Unversehrtheit und freie Entfaltung der Persönlichkeit sowie auf Schutz vor sachwidriger Ungleichbehandlung. So steht es in der Verfassung von Berlin (Artikel 6 bis 8 und Artikel 19), im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (Artikel 1 bis 3) und in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Artikel 1, 2, 3, 6, 20 und 21). Diese Grundrechte aller zu achten und zu wahren, ist die grundlegende Verpflichtung aller staatlichen Gewalt auf dem Boden des Grundgesetzes.

    Die Achtung und Wahrung dieser grundlegenden Menschenrechte schuldet aber auch jede und jeder jedem seiner/ihrer Mitmenschen – ganz gleich, ob der konkrete Mitmensch als männlich oder weiblich, als ethnisch-kulturell deutsch, türkisch, arabisch, kurdisch, polnisch oder bulgarisch, als einer atheistischen Weltanschauung, einer christlichen Bekenntnisgemeinschaft oder dem Islam angehörig oder als mit dem Judentum verbunden oder als schwule, lesbische, bisexuelle, intersexuelle, Transgender- oder queere Person wahrgenommen wird. Grundrechte hören auf, Grundrechte zu sein, wenn sie nicht für alle gelten.

    Diesem Verfassungsanspruch steht eine Wirklichkeit gegenüber, in der die Grundrechte aller auch dadurch beeinträchtigt sind, dass Menschen aufgrund ihrer (tatsächlichen oder mutmaßlichen) Verbundenheit mit dem Judentum oder wegen ihres Geschlechts oder wegen einer (tatsächlich oder mutmaßlich) nicht heterosexuellen Orientierung oder weil sie sich in ihrer Genderidentität von der Mehrheit unterscheiden alltäglich beleidigt, erniedrigt, belästigt, bedroht und angegriffen werden.

    In den 2020er Jahren liegt der Bezirk Neukölln sowohl bei „vorurteilsgeleiteten Delikte gegen Frauen“ (frauenfeindliche Hasskriminalität) und „überwiegend zum Nachteil von Frauen begangenen Delikten“ (darunter nicht zuletzt Häusliche Gewalt, Sexualstraftaten und Femizide), die ein wichtiges Thema für die Gleichstellungsbeauftragte des Bezirksamts Neukölln sind, als auch bei antisemitisch sowie LSBTIQ*-feindlich motivierter Hasskriminalität im Berliner Vergleich (i.d.R. zusammen mit Tempelhof-Schöneberg, Mitte und Friedrichshain-Kreuzberg) im oberen Drittel.

  • Fallzahlen antisemitisch motivierte Hasskriminalität in Neukölln

    Die Eingangsstatistik des Kriminalpolizeilichen Meldedienstes für Fälle politisch motivierter Kriminalität (KPMD-PMK, Stand Juli 2025) erfasste 160 Delikte für das Jahr 2023 – darunter 36 Gewaltstraftaten – mit antisemitischer Motivation, die in Neukölln begangen wurden. Das gesondert erfasste Fallaufkommen mit antisemitischer Motivation im Zusammenhang mit dem Nahostkonflikt belief sich laut KPMD-PMK im Jahr 2023 auf 129 Fälle, darunter 35 Gewaltdelikte.

    Für Jahr 2024 erfasste die Eingangsstatistik des KPMD-PMK 297 Delikte mit Tatorten in Neukölln, darunter 10 Gewaltstraftaten. Das Fallaufkommen mit antisemitischer Motivation im Zusammenhang mit dem Nahostkonflikt belief sich laut KPMD-PMK im Jahr 2024 in Neukölln auf 275 Delikte, darunter neun Gewaltstraftaten.

    Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin (RIAS Berlin) des Vereins für Demokratische Kultur in Berlin e. V., welche antisemitische Vorfälle nach anderen Kriterien als der KPMD-PMK und nicht nur (angezeigte) strafrechtlich relevante Fälle erfasst, dokumentierte 118 Vorfälle mit Tatort Neukölln für das Jahr 2023 und 224 Vorfälle für das Jahr 2024.

    Die von RIAS Berlin (als einem öffentlich geförderten Projekt in freier Trägerschaft) und von der Polizei erfassten antisemitischen Vorfälle sind insgesamt nicht identisch und bilden unterschiedliche Perspektiven auf die diesbezügliche Lage ab, stimmen aber in der Größenordnung, der erfassten Entwicklung sowie auch in der Einordnung des Bezirks Neukölln im Berliner Vergleich überein. D.h., dass zur Mitte der 2020er Jahre in Neukölln im statistischen Durchschnitt 2 bis 10 antisemitisch motivierte Vorfälle pro Woche und 0,5 bis 3 antisemitisch motivierte Gewalttaten pro Monat dokumentiert wurden.

  • Fallzahlen LSBTIQ*-feindlich motivierte Hasskriminalität in Neukölln

    Nach der Eingangsstatistik des KPMD-PMK lag Neukölln beim Fallaufkommen gegen die (heteronormativen Vorstellungen widersprechende) „sexuelle Orientierung“ und/oder „gegen die geschlechtsbezogene Diversität“ gerichteter Straftaten in Berlin im Jahr 2023 mit 63 Fällen – darunter 22 Gewaltdelikten – nach Mitte und Friedrichshain-Kreuzberg auf dem dritten Platz; im Jahr 2024 rückte Neukölln mit 67 erfassten Fällen – darunter wieder 22 Gewaltstraftaten – auf den mit Mitte geteilten ersten Platz.

    Wie im Arbeitsbereich „Antisemitismus“ erfassen Projekte freier Träger auch im Bereich LSBTIQ*-feindlicher Straf- und Gewalttaten Vorfälle nach anderen Kriterien als die Polizei. Bei den vom schwulen Anti-Gewalt-Projekt MANEO erfassten Fällen, von denen nur etwa die Hälfte bei der Polizei oder der Staatsanwaltschaft angezeigt wurden, stand Neukölln beim Ranking der Tatorte von Gewalttaten (inkl. Beleidigung und einfacher Körperverletzung) mit 23 Fällen im Jahr 2023 nach Tempelhof-Schöneberg, Mitte und Friedrichshain-Kreuzberg auf dem vierten Platz, rückte aber mit 74 Fällen im Jahr 2024 an Friedrichshain-Kreuzberg und Mitte vorbei auf den zweiten Platz vor.

    Bezogen auf Neukölln weisen die Fallzahlen sowohl der Eingangsstatistik des KPMD-PMK als auch von MANEO auf eine besorgniserregende Entwicklung hin. Im statistischen Durchschnitt wurden zur Mitte der 2020er Jahre in Neukölln rund 1,5 queerfeindliche Vorfälle pro Woche und etwa 2 bis 6 LSBTIQ*-feindlich (v.a. homo- und transphob) motivierte Gewaltstraftaten pro Monat erfasst.

Nach den erfassten Vorfällen bewegen sich die Anzahl der antisemitisch und LSBTIQ*-feindlich motivierten Straf- und Gewalttaten in Neukölln in ungefähr der gleichen Größenordnung. Sie machen (sofern zur vorurteilsmotivierten Straftaten gegen Frauen nicht „überwiegend zum Nachteil von Frauen begangenen Delikte“ hinzugezählt werden) das größte Fallaufkommen im Bereich der vorurteilsgeleiteten Delikte gegen Menschen aus, die aufgrund eines in der Verfassung von Berlin (Art. 10), im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (Art. 3), in der EU-Grundrechtecharta (Art. 21) und/oder im Antidiskriminierungsrecht (§ 1 AGG/§ 2 LADG) aufgeführten Merkmals beleidigt, erniedrigt, belästigt, bedroht und angegriffen werden. In dieser Hinsicht ist Neukölln zur Mitte der 2020er Jahre einer der am stärksten belasteten Berliner Bezirke.

Das bedeutet nicht, dass eine Mehrheit der Menschen in Neukölln antisemitisch und/oder LSBTIQ*-feindlich eingestellt wäre oder gar Übergriffe guthieße. Über die Unterschiede nach ethnischer Herkunft, (religiöser oder nichtreligiöser) Weltanschauung, Geschlecht, sexueller Orientierung und Genderidentität hinweg, teilen sie wohl mehrheitlich – darauf deutet der sozialwissenschaftliche Diskurs hin – eher den Wunsch, in Vielfalt, Freiheit und gegenseitigem Respekt ein friedliches, konstruktives und solidarisches Miteinander im Bezirk sowie seinen Ortsteilen und Kiezen zu gestalten. Viele Neuköllnerinnen und Neuköllner engagieren sich auch gegen Antisemitismus sowie Homo- und Transphobie. So stehen der Belastung durch antisemitisch und LSBTIQ*-feindlich motivierte Hasskriminalität auch zivilgesellschaftliche Ressourcen und Potenziale für ein bürgerschaftliches Miteinander gegenüber.

Vor diesem Hintergrund hat das Bezirksamt Neukölln von Berlin die Stelle eines Antisemitismus- und Queerbeauftragten geschaffen, die am 1. Juli 2025 eingerichtet wurde.

  • Aufgaben des Antisemitismus- und Queerbeauftragten des Bezirksamts Neukölln

    Der Antisemitismus- und Queerbeauftragte des Bezirksamts Neukölln von Berlin ist der Aufgabe verpflichtet, dem Staatsziel der Achtung der Menschenwürde – d.h. nicht zuletzt der Wahrung der personalen Individualität, Identität und Integrität jedes Menschen – sowie der Gewährleistung der Grundrechte auf Leben, Unversehrtheit und freie Entfaltung der Persönlichkeit sowie auf Schutz vor sachwidriger Ungleichbehandlung insbesondere mit Blick auf antisemitische und LSBTIQ*-feindliche Zuschreibungen Geltung zu verschaffen.

    Vor dem Hintergrund gestiegener Fallzahlen gehört die Auseinandersetzung mit Gewalt und vorurteilsmotivierte Kriminalität gegen mit dem Judentum und LSBSTIQ* assoziierten Personen und Einrichtungen zu den vorrangigen Aufgaben des Antisemitismus- und Queerbeauftragten. Darüber hinaus befasst sich der Beauftragte auch mit gegenaufklärerisch-antimodernistische Haltungen und projektiv-wahnhaften Weltauffassungen, die v.a. in den verschiedenen Erscheinungsformen des Antisemitismus und der LSBTIQ*-Feindlichkeit Ausdruck finden.

    Im Sinne der Aufgabenstellung, für die Sicherung und Förderung des jüdischen Lebens und die Bekämpfung des Antisemitismus in allen seinen Erscheinungsformen sowie für die Auseinandersetzung mit LSBTIQ*-Feindlichkeit und die Stärkung der Akzeptanz von sexuellen Orientierungen und Genderidentitäten, die von der Mehrheit abweichen, zu wirken, fungiert der Antisemitismus- und Queerbeauftragte als
    • Ansprechperson im Bezirksamt für Betroffene von Antisemitismus und LSBTIQ*-Feindlichkeit, für in diesen Themenfeldern aktive Nichtregierungsorganisationen/freie Träger und Projekte sowie die weitere Öffentlichkeit;
    • Fachstelle für die Auseinandersetzung mit Antisemitismus (auf der Grundlage der Arbeitsdefinition „Antisemitisms“ der Internationalen Allianz für Holocaust-Gedenken in der von der Bundesregierung empfohlenen erweiterten Form) und LSBTIQ*-Feindlichkeit mit der Zuständigkeit für die diesbezügliche Unterstützung des Bezirksamtskollegiums durch fachliche Analysen und Stellungnahmen, für konzeptionelle und strategische Arbeit, für regionale und überregionale Gremien- und Netzwerkarbeit sowie themenbezogene Zuarbeit zur bezirklichen Öffentlichkeitsarbeit;
    • fachliche Ressource zur Unterstützung der politischen Bildungsarbeit im Bezirk sowie für Durchführung von Veranstaltungen und Aktionen.

Definitionen

  • Antisemitismus

    Antisemitismus bezeichnet alle Formen politisch, sozial, kulturell, rassistisch oder religiös motivierter Feindschaft gegenüber dem Judentum und ihm zugeordneten Personen und Einrichtungen. Samuel Salzborn beschreibt den modernen Antisemitismus als antimodernistische, antiuniversalistische und verschwörungsgläubige Weltauffassung, nämlich als einen irrationalen Glauben, der sich „gegen Rationalität, Vernunft und Verstand richtet“ (Salzborn 2019: Globaler Antisemitismus, Bonn, S.51)

    Für das Berliner Verwaltungshandelns zur Auseinandersetzung mit Antisemitismus ist nach dem Beschluss des Abgeordnetenhauses von Berlin „Gegen jeden Antisemitismus! – Jüdisches Leben in Berlin schützen“ und dem Berliner Landeskonzept zur Weiterentwicklung der Antisemitismus-Prävention als begriffliche Grundlage die Arbeitsdefinition Antisemitismus der Internationalen Allianz für Holocaust-Gedenken (IHRA) in ihrer durch die Bundesregierung erweiterten Form maßgeblich.
    Die Arbeitsdefinition lautet: „Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen. Darüber hinaus kann auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, Ziel solcher Angriffe sein.“ (vgl. Drucksache 19/444 / Deutscher Bundestag)

  • LSBTIQ*-Feindlichkeit / Queerfeindlichkeit

    Unter LSBTIQ*-Feindlichkeit bzw. Queerfeindlichkeit wird hier (in Anlehnung an die Kategorien der queerfeindlichen Hasskriminalität bzw. der Hasskriminalität gegen LSBTIQ* des BKA und des Berliner KPMD-PMK „Sexuelle Orientierung“ und „Geschlechtsbezogene Diversität“) die Ablehnung, Diskriminierung und Anfeindung von Menschen bezeichnet, deren sexuelle Orientierung und geschlechtsbezogene Identität außerhalb des binären, cis-geschlechtlichen und heterosexuellen Spektrums der Mehrheit verortet wird. Diese Feindlichkeit zeigt sich unter anderem auch durch vorurteilsgeleitetes, intolerantes, diskriminierendes und ausgrenzendes Verhalten, aber auch durch direkte Hasskriminalität und Gewalt.

  • Hasskriminalität

    Bei Hasskriminalität handelt es sich um Straftaten, denen – in Würdigung der Umstände der Tat und/oder der Einstellung des Täters/der Täterin – gruppenbezogene Vorurteile als Tatmotiv zugrunde liegen. Zu den hierbei relevanten gruppenbezogenen Vorurteilen gehören nicht zuletzt jene gegenüber dem Judentum und jüdischen Menschen sowie Ressentiments gegen lesbische, schwule, bisexuelle, trans- und intersexuelle sowie queere Menschen.

Antisemitismus- und Queerbeauftragter

Carl Chung