Ausweg Neukölln

Katharina Schlee

Katharina Schlee
arbeitet als Kulturorganisationsassistentin beim Kulturnetzwerk Neukölln e.V.

Ihr Leben lang wollte Katharina Schlee Kunst machen. Das Leben stellte ihr jedoch immer wieder ein Bein. In Berlin landete sie in der Arbeitslosigkeit, ein Job im Kulturbereich blieb Wunschtraum – bis sie eine Beschäftigung über das Solidarische Grundeinkommen fand.

Kunst und Kultur sind ein roter Faden im Leben von Katharina Schlee, vielleicht sogar der einzige, der sich durch ihre gesamte Biografie zieht. Schlees Lebensgeschichte spielt in mehreren Ländern und in unterschiedlichen Milieus. Sie hat eine behütete Kindheit und wilde Jugendzeiten im sozialistischen Osteuropa, eine Aussiedlerinnenexistenz in der westdeutschen Provinz, Kunststudien, ein angenehmes Leben in Kanada und zuletzt unvorhergesehene Tiefschläge in ihrer Wahlheimat Berlin hinter sich.

Schlee, Jahrgang 1965, ist Rumänien-Deutsche aus dem Banat. Sie kam in der westrumänischen Stadt Arad zur Welt, innerhalb einer gutbürgerlichen Familie. Die Verwandtschaft lebt bis heute verstreut in verschiedenen Ländern. In Arad besuchte sie eine bilinguale rumänisch-deutsche Schule, die sie nach zwölf Schuljahren mit dem Abitur abschloss. Solange sie zurückdenken kann, fühle sie sich als Deutsche, sagt Schlee.

Seit sie 16 Jahre alt war, nahm sie Unterricht in Bildhauerei. In die Wiege gelegt war ihr das künstlerische Interesse nicht – Schlee profitierte von einem großartigen Bildungsangebot, das im sozialistischen Rumänien zur Verfügung stand. »So wie in Deutschland die staatlichen Musikschulen, gab es in Rumänien eine Art von Volkshochschulen, an denen man jede erdenkliche Kunst erlernen konnte«, erzählt Schlee. »Eine Freundin stiftete mich quasi dazu an, mich für Bildhauerei einzuschreiben, und ich blieb hängen. Das war absolut mein Ding.«

Fünfmal in der Woche besuchte Schlee diesen Kunstunterricht – im wahrsten Sinne eine gute Schule. Wenn sie Menschen trifft, die sich selbst jedes künstlerische Talent absprechen und die über Schlees Fähigkeiten erstaunt sind, kann sie sich nur wundern. »Das ist wie mit der Musik: Vieles muss man schlicht und einfach lernen.«

Katharina Schlee

An ihr Leben als junge Frau hinter dem Eisernen Vorhang hat Schlee gute Erinnerungen. »Ich hatte eine schöne Zeit in Rumänien. Wir jungen Leute haben viele Partys gefeiert«, sagt sie. Damit war es 1985 vorbei, als Schlees Familie nach Deutschland auswanderte – fünf Jahre vor dem Zusammenbruch des Ceaușescu-Regimes.

Erste Anlaufstation der Familie in Deutschland war Singen, nahe der Schweizer Grenze am Bodensee. Dort musste sich Schlee erst zurechtfinden. In einem einjährigen Sonderlehrgang sollte sie ihr Abitur noch einmal absolvieren. Bis heute wohnt ihre Mutter in Singen, für Schlee aber war die provinzielle Atmosphäre nichts. »Ich bin relativ schnell weggezogen und hatte vor, Kunst zu studieren«, sagt sie. »Vorerst aber hatte ich Angst vor der eigenen Courage und traute mich nicht, mein Glück an der großen Kunsthochschule in München zu versuchen.«

Stattdessen begann Schlee eine Töpferlehre, die sie ein Jahr später abbrechen musste, weil der Betrieb pleiteging. Sie sattelte um und begann eine Ausbildung zur Buchhändlerin in Frankfurt am Main. »Von klein auf habe ich viel gelesen. Ich war gern Buchhändlerin und wäre es auch heute noch gern, nur gibt es leider keinen echten Buchhandel mehr: Ein Großteil der Bücher wird im Internet bestellt, während man im Buchladen die Spiegel-Bestseller und ansonsten Kaffee, Grußkarten und Magnete bekommt. Das ist frustrierend.«

Nach der Ausbildung arbeitete Schlee eine Weile in ihrem Beruf als Buchhändlerin, doch die Kunst ließ sie nicht los. Mit einer Freundin, die wie sie hatte Kunst studieren wollen, belegte sie einen Sommer-Kunstkurs in Trier, und beide reichten anschließend ihre Mappe an der Frankfurter Kunsthochschule ein. Aus dem spontanen Versuch wurde zwar nichts, doch er weckte neuen Elan: Mit besserer Vorbereitung wollten es beide doch noch in München versuchen.

Während sich Schlee auf diese Bewerbung vorbereitete, reiste sie für drei Monate nach Kanada. Sie wollte Englisch lernen, belegte weitere Kunstkurse – und lernte ihren jetzigen Mann John kennen, einen Kanadier. »Für den war München so weit weg wie der Mond. Er hatte nie vorgehabt, nach Deutschland zu kommen.« Bald jedoch sollte er seine Reise zum Mond antreten, denn Schlee erhielt aus München tatsächlich eine Zusage. Sie wurde in die Klasse für Bildhauerei und Keramik aufgenommen und begann in der bayerischen Hauptstadt mit dem langersehnten Kunststudium.

Zu diesem Zeitpunkt war Schlee 29 Jahre alt und kurz darauf schwanger. Ihr Mann, von Beruf Informatiker, fand keinen Job in Deutschland. »Mitte der Neunziger wanderten viele deutsche Betriebe in Billiglohnländer ab«, sagt Schlee. »Irgendwann überlegte ich, ob ich nicht auch in Kanada studieren könnte.«

Gedacht, getan. Ihr Mann bekam eine Arbeitsstelle in Toronto. Nach der Geburt ihres Sohnes zogen sie um, Schlee brach ihr Studium in München ab und nahm es ein Jahr später am Ontario College of Art and Design (OCAD) in Toronto wieder auf. »Ich kam dort mit einer kleinen Mappe an, erzählte denen, dass ich zwei Jahre in München studiert hatte, und durfte mich immatrikulieren.« Zwar machten die vergleichsweise hohen Gebühren einen wesentlichen Unterschied zum Studium in Deutschland aus, doch es gab auch Vorteile. »Unser Professor in München war die meiste Zeit nicht vor Ort gewesen und das Studium dort kaum strukturiert«, sagt Schlee. »In Toronto dagegen musste man mindestens fünf Scheine pro Semester vorlegen.«

Katharina Schlee

Noch während der Ausbildung am OCAD wurde Schlees zweites Kind geboren. »Nach meinem Abschluss war ich Künstlerin und Mutter.« Schlee organisierte das freie Künstlerinnendasein um die Kinderbetreuung herum, und trotz der Doppelbelastung richtete sich die Familie in einem geradezu mondänen Leben ein. »Wir wohnten in einem viktorianischen Haus, hatten zwei Autos und fuhren jeden Sommer nach Deutschland. Das war eine tolle Zeit.«

Toronto habe damals Neukölln geähnelt, erzählt Schlee. »Es war sogar noch ein bisschen alternativer.« Schleichend jedoch begann sich die Stadt zu wandeln und wurde zu der teuren, glitzernden Geschäftsmetropole von heute. Das vertrieb die Kunstszene. »Die Möglichkeiten wurden immer weniger«, sagt Schlee, »und die Kinder immer größer.« Die Familie fasste daher ins Auge, wieder nach Deutschland zu gehen, diesmal nach Berlin. »Unsere Kinder sollten Europa kennenlernen. Ich selbst hatte immer schon einmal in Berlin wohnen wollen.«

Leider geriet die Ankunft in Berlin zur Bruchlandung. Ständig ging etwas schief, Fehlschläge und Tragödien reihten sich aneinander. Einen vernünftig bezahlten Job fand Schlees Mann nur in Frankfurt am Main, sodass sie über lange Zeit mit zwei pubertierenden Kindern allein blieb, die ihre eigenen Schwierigkeiten hatten. Als Teenager in der neuen Stadt Berlin mitzuhalten, war keine leichte Aufgabe. Dass der Arbeitgeber ihres Mannes das Geschäft in wenigen Jahren aufgeben würde, ahnte zu diesem Zeitpunkt noch niemand. Bevor es so weit war, schuftete Schlees Mann bis zum Burnout – und ging anschließend in Rente.

Auch die Kinder wurden krank. »Mein Sohn war sieben Monate im Krankenhaus, und mit meiner Tochter war ich innerhalb eines Jahres häufiger beim Arzt als vorher in meinem ganzen Leben«, sagt Schlee. Sie opferte sich für die Familie auf und schlug sich eher schlecht als recht mit verschiedenen Jobs durch. Der Plan, wieder als Buchhändlerin zu arbeiten, ließ sich in einer Branche auf dem absteigenden Ast kaum umsetzen, trotz einer vorübergehenden schlecht bezahlten Anstellung. Ihre Kunstwerke zu verkaufen, gestaltete sich ebenfalls schwierig. Am Ende war Schlee arbeitslos.

Das Jobcenter tat, was es häufig tut, und steckte Schlee in immer neue Maßnahmen. »Irgendwann fragte ich mich, wie viele Kurse ich noch machen müsste. Ich war mächtig frustriert, als ich einen weiteren Computerkurs belegen sollte. Ich benutze Computer seit den Neunzigern!« Was das Solidarische Grundeinkommen ist, wusste Schlee nicht. Es sollte jedoch ihre Rettung werden. »Mir reichte es wirklich, ich war so frustriert, dass ich kurz davorstand, Berlin zu verlassen«, erinnert sie sich. »In diesem Moment schlug mir das Jobcenter diese SGE-Stelle im Kulturbereich vor.« Endlich etwas, das ihr lag! Den Versuch wollte sie wagen. Schlee schickte eine Bewerbung ab und erhielt am selben Tag einen Rückruf aus Neukölln. »Am nächsten Tag ging ich zum Vorstellungsgespräch, und die Sache war gebongt.«

Zitat Katharina Schlee

Schlee bekam eine Stelle als Kulturorganisationsassistentin beim Kulturnetzwerk Neukölln. In dem Verein sind mehrere Träger und Kulturhäuser vernetzt, um die Neuköllner Kulturszene zu unterstützen. »Hier wurde gesehen, dass ich den richtigen Background habe«, sagt Schlee. Wer, wenn nicht sie, sollte Kulturorganisationsassistentin werden? Das SGE-Einsatzfeld wurde geschaffen, um die Berliner Kulturszene zu fördern und mehr Menschen den Zugang zu kulturellen Angeboten zu ermöglichen. Hierzu unterstützen Kulturassistentinnen und Kulturassistenten bei Veranstaltungen die Verantwortlichen aus Organisation und Management und helfen Besucherinnen und Besuchern, die in ihrer Mobilität oder anderweitig eingeschränkt sind.

Schlees Projektteam organisiert das Festival »48 Stunden Neukölln« – ein Leuchtturmprojekt des Vereins. Sparten- und milieuübergreifend präsentiert sich auf dem größten freien Kunstfestival Berlins jährlich die lebendige Neuköllner Szene und reflektiert dabei aktuelle gesellschaftliche Themen und Debatten. Arbeit und Umfeld gefielen Schlee auf Anhieb. Optimistisch gestimmt trat sie ihren Job im November 2020 an. Doch sie sollte abermals aus der Bahn geworfen werden.

Katharina Schlee

Nur wenige Monate nach Arbeitsantritt ereilte sie die Diagnose Brustkrebs. »Das ist zum Glück überstanden«, sagt Schlee, die nach über einem halben Jahr Krankschreibung im November 2021 wieder ins Berufsleben zurückkehrte. Mit ihren Kolleginnen und Kollegen bereitet sie nun das Festival für das Jahr 2022 vor, die Bewerbungsphase für die Künstlerinnen und Künstler läuft. »So einen Job wollte ich immer haben«, sagt Schlee. »Er ist genau richtig für mich. Ich bin total motiviert und freue mich, einen Job zu haben, der etwas mit meiner Biografie zu tun hat.«

Trotz aller Schwierigkeiten bereut Schlee den Umzug nach Berlin nicht. »Viele der Rückschläge in Berlin waren meiner Lebensgeschichte geschuldet. Normalerweise bewirbt man sich auf einen neuen Job und kündigt den alten. So einfach war es bei mir nicht. Ich war Künstlerin, über 45 Jahre alt, 13 Jahre im Ausland, ohne deutsche Berufserfahrung und habe noch dazu meine Kinder selbst betreut«, sagt sie. »Aber man kann, auch ohne nach Kanada gegangen zu sein, Brüche im Leben erfahren. Ich bereue nichts – Berlin war und ist mein Ding.«

Das SGE-Einkommen gibt Katharina Schlee eine Perspektive und sichert das Überleben in der Stadt. Auch wenn sie mit ihrem Gehalt keine großen Sprünge machen könne, sei es genau das Richtige, um in den zerklüfteten Arbeitsmarkt Berlins einzusteigen, meint Schlee. »Das Solidarische Grundeinkommen ermöglicht einem, wieder Fuß zu fassen.«

Text: Katrin Rohnstock / Rohnstock Biografien