Traumjob im Minizoo

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Andrea Lange
arbeitet im Bereich Umweltbildung und -info beim gemeinnützigen Träger Atina gUG.
Ihr Arbeitsort ist das Tiergehege im Viktoriapark in Friedrichshain-Kreuzberg.

Bei dem Wort »Maßnahme« laufen vielen Langzeitarbeitslosen Schauer über den Rücken. Andrea Lange, geboren 1972, ist mit gutem Grund keine Ausnahme. Erst ihr Solidarisches Grundeinkommen beendete ein Hin und Her, das ihr viel Erfahrung, aber keine Anstellung brachte.

Andrea Lange ist Urberlinerin. Sie trägt das Herz auf der Zunge und trotzt den Widrigkeiten des Lebens mit Galgenhumor. Wenn es sein muss, kann sie hart austeilen – sie kann aber auch einstecken, was ihr mehr als einmal zugutekam.

Aufgewachsen ist sie im beschaulichen Friedenau. Ihre Eltern besaßen, ebenso wie Großmutter und Onkel, einen Kleingarten. Als echte Berliner Göre gehörte sie zu einer Rasselbande, die um die Häuser zog und von der selten jemand wusste, wo sie sich gerade herumtrieb. »Wir waren immer unterwegs und kamen nur zum Mittagessen nach Hause – oder wenn ein Verbandskasten gebraucht wurde.«

Nach dem Abschluss der zehnten Klasse begann für Andrea Lange der Ernst des Lebens. Die Ausbildungsvergütung von 800 D-Mark im ersten Lehrjahr verlockte sie dazu, eine Lehre als Sozialversicherungs-fachangestellte zu beginnen. Jedoch merkte sie schnell, dass das Metier nicht zu ihr passte. »Sich jeden Tag fein machen, dieses Adrette, das bin ich nicht«, sagt sie, die nicht nur Schlager, sondern auch Hardrock liebt. Die Episode bei der Versicherung endete nach der Probezeit. Dann schlug Andrea Lange ein neues Kapitel auf: In einer Neuköllner Familienfleischerei, deren Blutwurst im gesamten Kiez berühmt war, machte sie eine Lehre als Fachverkäuferin im Nahrungsmittelhandwerk.

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»Die Arbeit dort machte mir richtig Spaß«, sagt sie. »Der Fleischermeister hat mich einfach so genommen, wie ich war.« Mit ihrer burschikosen Art bestand Andrea Lange die »Frischlingsprüfungen«, in denen sie Schweineschwänze aufhängen und Kümmelkörner mit dem Hackebeil spalten sollte. Sie fügte sich wunderbar ins Team ein und lernte das Geschäft von der Pike auf. »Ich habe alles gemacht, vom Fleischausschneiden übers Zerlegen bis hin zum Verkauf. Teilweise war das harte Arbeit. So musste ich auch als Frau eine Rinderhälfte von fünfzig Kilogramm einhaken können.« Das kräftige und selbstredend wursthaltige Frühstück im Betrieb ist ihr in bester Erinnerung. »Ich bin bis heute Neandertaler, ich will Fleisch.«

Ein halbes Jahr nach Abschluss der Lehre gab ihr Chef das Geschäft auf. Der neue Inhaber kam nicht mit ihr zurecht. Sie suchte sich eine neue Stelle und fand sie beim Feinkostgeschäft Butter Lindner, wo sie nach zwei Jahren die Filialleitervertretung in Wilmersdorf übernahm. »Zu meinen Kunden gehörten viele Schauspieler und Schwule, mit denen ich bestens auskam. Horst Buchholz, Ilja Richter oder Angelika Milster kamen bei uns einkaufen. Man hat interessante Leute getroffen, und dabei sind richtige Freundschaften entstanden.« Als der Betrieb den Personalstamm reduzierte, mussten zuerst die gehen, die zuletzt gekommen waren. Andrea Lange wurde nach fünf Jahren plötzlich arbeitslos.

Fortan wurde sie zu einem wandelnden Beispiel für »schwachsinnige Arbeitsmarktpolitik«, wie sie es unverblümt nennt. Trotz ihrer abgeschlossenen Berufsausbildung, trotz langjähriger Erfahrung und ihrem großen Arbeitswillen wurden ihr nur immer wieder neue Bewerbungstrainings und befristete Maßnahmen verordnet – darunter Ein-Euro-Jobs, offiziell »Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandsentschädigung« (AGH-MAE) genannt, ein arbeitsmarktpolitisches Instrument, das helfen soll, Arbeitslose in den ersten Arbeitsmarkt einzugliedern. Ein Irrweg, der nie in einer festen Anstellung mündete und auf dem Andrea Lange ihren Hartz-IV-Satz bestenfalls um wenige Euro aufstocken durfte.

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Zunächst arbeitete sie bei einem Begleitdienst für Blinde und Menschen mit Down-Syndrom. »Es hat durchaus Spaß gemacht, wieder mit Menschen zu tun zu haben, diesmal mit ganz anderen. An die speziellen Bedürfnisse von Blinden musste ich mich erst gewöhnen, aber ich habe viel gelernt. Doch nach drei Jahren war Schluss. Ich stand wieder da, und dann kam die nächste Maßnahme.« Für drei Monate verteilte sie rund um den Ku’damm Biotonnen an alle Haushalte. Mit einem Bulli wurden die Tonnen zu den Häusern gebracht, dann ging Andrea Lange von Tür zu Tür, um sie an den Mann und die Frau zu bringen.

Danach folgte die nächste Maßnahme: wieder ein Begleitdienst, dieses Mal beim Roten Kreuz. Andrea Lange half älteren Menschen bei Besorgungen oder Arztbesuchen. »Da habe ich viele neue Leute kennengelernt und konnte quatschen, wie mir der Schnabel gewachsen ist.« Den Vorschriften gemäß war jedoch nach drei Jahren und nach der Höchstzahl von Verlängerungen der Maßnahme erneut Schluss.

Andrea Langes nächste Station war eine Kita, in der sie einen 1,50-Euro-Job bekam. Sie arbeitete in der Küche, schälte Kartoffeln und Mohrrüben, kochte Pudding und bereitete morgens den Kakao für die Kinder zu. »Die Kinder schienen mich zu mögen und hingen bald nur noch bei mir rum«, erzählt sie. »Deshalb wurde ich aus der Küche herausgeholt, stieg zu einer Art Kitahelferin auf und begleitete letztlich zwei Gruppen bis zur Schule.« Als Helferin unterstützte sie die Erzieherinnen bei Ausflügen, bastelte mit den Kleinen und war da, wenn eine oder einer von ihnen besonderen Zuspruch oder Trost benötigte.

Nie war gewiss, ob die Maßnahme verlängert werden würde. Vor jeder neuen Zitterpartie bereiteten die Kinder schon die Abschiedsgeschenke vor. Nach drei Jahren in der Kita hätte es um ein Haar zum ersten Mal mit einer Festanstellung geklappt. Doch ein Schicksalsschlag brutalster Art machte alle Hoffnungen zunichte: Einmal im Monat leistete sich Andrea Lange einen Kneipenbesuch. Bei einem solchen wurde sie von einem Hund angefallen, der sich im Blutrausch in ihren Unterschenkel verbiss und ihn schwer lädierte. Drei Wochen lag sie im Krankenhaus. Es dauerte sage und schreibe zwei Jahre, bis das offene Bein verheilt war. Der Arbeitsvertrag mit der Kita war danach hinfällig.

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Die Attacke hatte irreversible gesundheitliche Folgen: Das Bein ist entstellt, seither trägt Andrea Lange zwei unterschiedliche Schuhgrößen und muss sich in regelmäßigen Abständen hinsetzen. »Ich bin kein Waschlappen und beiße auch mal die Zähne zusammen. Aber im Verkauf stehst du acht Stunden, so etwas geht jetzt nicht mehr«, sagt sie. »Ich kann nur eine Arbeitsstelle annehmen, bei der ich immer mal wieder für fünf oder zehn Minuten etwas im Sitzen machen kann.« Weil ihr Vermittler im Jobcenter das nicht einsehen wollte, kassierte sie eine Kürzung ihrer Hartz-IV-Bezüge. »Reine Schikane«, fasst sie es enttäuscht zusammen.

Trotzdem wurde ihr die nächste Maßnahme angeboten, wieder in einer Kita. Mit dem pädagogisch strikten Konzept dort fühlte sich Andrea Lange allerdings nicht wohl. Als ihr mitten im Sommer nahegelegt wurde, lange Hosen zu tragen, um ihr vernarbtes Bein zu bedecken, weil es »nicht schön aussieht« und den Kindern angeblich Angst macht, war eine Grenze überschritten. Sie verließ die Kita und steuerte – wie könnte es anders sein – einer weiteren Maßnahme entgegen. Angesichts ihrer Odyssee ist Andrea Langes ungebrochener Optimismus bemerkenswert.

Für das Bezirksamt Tempelhof-Schöneberg arbeitete Andrea Lange nun mit Freude in einem großen Schulgarten am Südkreuz. Sie legte Beete an und brachte Kindern bei, »dass Gemüse nicht im Laden wächst«. Da das Bezirksamt für diese Stelle allerdings niemanden regulär einstellt, war auch dieser Job nach zweieinhalb Jahren wieder vorbei.

Inzwischen war das Jahr 2020 angebrochen. Die Corona-Pandemie hatte das Land bereits im Griff, als überraschend ein vielversprechendes Angebot kam: ein Fünfjahresvertrag samt Weiterbeschäftigungsgarantie mit festem Gehalt. Es handelte sich um eine Stelle im Rahmen des SGE-Programms. Das Tiergehege im Kreuzberger Viktoriapark suchte einen Helfer oder eine Helferin im Gartenbau. Beim Vorstellungsgespräch stimmte die Chemie auf Anhieb, im April 2020 trat Andrea Lange die Stelle an. »Die Kolleginnen und Kollegen lernte ich nach und nach kennen. Es passte mit jedem Einzelnen. Von der ersten Sekunde an habe ich mich wohl gefühlt.«

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Zum ersten Mal seit über zwei Jahrzehnten hat Andrea Lange nun eine langfristige Perspektive und ein auskömmliches Gehalt. Schulden, die sie bei Freunden und Verwandten angehäuft hatte, kann sie Stück für Stück abstottern.

Andrea Lange bezieht ihr Solidarisches Grundeinkommen im Bereich Umweltbildung und Umweltinfo: Familien, Kita- und Schulgruppen nutzen den traditionsreichen Minizoo im Viktoriapark für ihren Anschauungsunterricht in Sachen Natur. Mehrere Ziegen, Kaninchen, Hühner, Meerschweinchen und Gänse leben dort und wollen versorgt sein. Teilweise wird deren Futter sogar vor Ort angebaut. »Meistens bin ich morgens gegen halb acht hier, Arbeitsbeginn ist um acht Uhr«, sagt sie. »Zuerst werden die Kaninchen gefüttert, bekommen Wasser und frisches Heu, dann sind die Ziegen dran, danach die Hühner.« Sind alle Tiere versorgt, kommt oft schon eine Kindergruppe und will zum Beispiel die Kaninchen streicheln. Anschließend wird auf den eigenen Anbauflächen geackert. Mit dem Bollerwagen müssen außerdem täglich die Futterspenden von zwei umliegenden Rewe-Märkten abgeholt werden. »Alles wird hier mit Spenden gestemmt und finanziert«, sagt Andrea Lange. »Der Eintritt ist kostenlos und bei schlechtem Wetter kommt mitunter kaum Geld rein.«

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Wenn die Kasse leer ist, kommt es vor, dass die Kolleginnen und Kollegen des Tiergeheges in die eigene Tasche greifen, um die Grundversorgung der Tiere zu sichern. Andrea Lange beteiligt sich daran gern und sieht keinen Grund, deshalb zu gehen. »Ich habe hier einen herrlichen Arbeitsplatz, gemütlicher als ein Wohnzimmer. Tiere, Natur und nette Arbeitskollegen – etwas Besseres kann ich mir nicht vorstellen.«

Der Träger des Geheges ist der gemeinnützige Verein Atina. Die Handvoll Pflegerinnen und Pfleger sowie die Kolleginnen und Kollegen sind ausnahmslos über öffentlich geförderte Beschäftigung angestellt. »Es wäre schön, wenn der Bezirk sich an der Finanzierung des Tiergeheges beteiligen würde, denn schließlich trägt es viel dazu bei, die Gegend attraktiv zu machen und zieht Besucher in den Stadtteil.«

Weniger Personalfluktuation und eine höhere Wertschätzung des Geheges wären nicht nur für die Tiere besser. Würde der Minizoo auf diese Weise aufgewertet werden, könnte die Verflechtung mit dem Kiez und der Kontakt zur Nachbarschaft intensiviert werden, so viel ist Andrea Lange klar. Auf ihre forsche Art nimmt sie dieses Ziel ins Visier, bereit, ihren neuen Posten zu verteidigen: »Ich bleibe hier, das steht fest. Ich will hier nicht weg!«

Text: Katrin Rohnstock / Rohnstock Biografien