Ideologie

Extremismus allgemein

Der Begriff Extremismus bezeichnet kein einheitliches Phänomen, sondern ist eine Sammelbezeichnung für unterschiedliche politische Bestrebungen, “die sich in der Ablehnung des demokratischen Verfassungsstaates und seiner fundamentalen Werte und Spielregeln einig wissen” (Uwe Backes/Eckhard Jesse: Politischer Extremismus in der Bundesrepublik Deutschland. 4. Aufl. Bonn 1996, S. 45). Die verfassungsmäßige Grenze des politischen Handelns ist in der Bundesrepublik Deutschland eindeutig festgelegt. Anlässlich des Verbots der “Sozialistischen Reichspartei” (SRP) bestimmte das Bundesverfassungsgericht 1952 den Kern des demokratischen Verfassungsstaates, die freiheitliche demokratische Grundordnung. Zu den grundlegenden Prinzipien dieser Ordnung sind zu rechnen (Vgl. BVerfGE 2, 1 ff; BVerfGE 5, 85 ff; § 6 VSG Bln):

  • die Achtung der im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechte, vor allem des Rechtes der Persönlichkeit auf Leben und freie Entfaltung,
  • die Volkssouveränität,
  • die Gewaltenteilung,
  • die Verantwortlichkeit der Regierung,
  • die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung,
  • die Unabhängigkeit der Gerichte,
  • das Mehrparteienprinzip,
  • die Chancengleichheit aller politischen Parteien,
  • das Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung einer Opposition.

Die Verfassungsschutzbehörden verwenden den Extremismusbegriff seit Anfang der 70er Jahre in Abgrenzung zu dem Begriff des Radikalismus. Während extremistische Positionen die Grenze der verfassungsmäßigen Ordnung überschreiten, bezeichnet der Radikalismus Auffassungen, die zwar grundlegende systemoppositionelle Positionen vertreten, die sich aber mit ihrer fundamentalen Kritik innerhalb der Grenzen der freiheitlichen demokratischen Grundordnung bewegen.

Islamismus

Geschichte des Islamismus

Historisch geht islamistisches Denken auf die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert zurück. Angesichts des Bedeutungsverlusts, den die islamische Religion in der muslimischen Welt infolge der Kolonisierung erlitten hatte, hatten sich religiöse Reformer für die Erneuerung von Religion und Gesellschaft durch die “Rückkehr zu den reinen Ursprüngen des Islam” ausgesprochen. Reform und Erneuerung des Islam sowie anti-koloniale – und damit auch anti-westliche – Motive bestimmten in der Folge das Entstehen islamistischer Bewegungen – so etwa der 1928 in Ägypten gegründeten Muslimbruderschaft.

Große Anziehungskraft entfaltete islamistisches Denken nach dem Zweiten Weltkrieg, als in den dann unabhängigen arabischen Nationalstaaten nacheinander die Konzepte des Nationalismus, des Pan-Arabismus und des Sozialismus scheiterten. Ab den späten 70er Jahren gelang es Islamisten, dieses entstandene ideologische Vakuum zu füllen und den “Islam” als ein alternatives politisches und gesellschaftliches Modell zu präsentieren. Gefördert wurde das Erstarken islamistischer Bewegungen durch die iranische Revolution 1979. In der Folge etablierte sich der Iran als ein staatlicher Träger islamistischer Ideologie und suchte diese neue Weltanschauung durch den Export seiner Revolution zu verbreiten.

Seit Ende der siebziger Jahre wurden islamistische Bewegungen auch von Saudi-Arabien unterstützt, das finanziell und ideologisch die Ausbreitung einer nicht minder fundamentalistischen islamischen Strömung, des Wahhabismus, über seine Landesgrenzen hinaus verfolgte. Eine entscheidende Rolle – insbesondere für die Herausbildung des Phänomens des islamistischen Terrorismus – spielte auch die Tatsache, dass ab 1979 Kämpfer (Mujahidin) in Afghanistan Krieg gegen die sowjetische Besatzung führten, der zehn Jahre später mit dem Rückzug der sowjetischen Truppen endete. Diese regionalpolitischen Entwicklungen erleichterten es Islamisten in den 80er Jahren, die scheinbare Überlegenheit eines “islamischen” Gesellschaftssystems gegenüber dem kapitalistischen und sozialistischen Gesellschaftssystem zu propagieren. Hierzu prägten sie vor allem das Schlagwort “Der Islam ist die Lösung”.

Grundsätze des Islamismus

Wichtigstes gemeinsames Kennzeichen islamistischer Ideologie ist der Anspruch, dass der Islam stets zugleich “Religion” und “Politik” verkörpert habe – ein Anspruch, den die Islamisten als eine für die islamische Geschichte geltende historische Tatsache darstellen. Die Behauptung, dass es sich beim Islam um eine unteilbare Einheit von Religion und Politik handele, ist allerdings ein nicht mehr als 100 Jahre altes Ideologem. Islamisten verstehen Religion nicht als Glaube und Ethik, sondern als vollkommene Lebensform und Weltanschauung.

So propagierte etwa der Chefideologe der pakistanischen “Jamaat-i Islami”-Partei, Abul Ala Al-Maududi (1903 – 1979), eine “Ordnung des Islam” (nizam al-islam), die alle Lebensbereiche zu regeln imstande sei und die es anzuwenden gelte. Methodisch orientieren sich Islamisten bevorzugt am Wortlaut des Koran, den sie als ein “für alle Orte und Zeiten gültiges Gesetz” betrachten, und an der Sunna, den in “Berichten” (Hadithen) schriftlich festgehaltenen Worten und Taten des Propheten Muhammad. Beide, Koran und Sunna, haben nach islamistischer Auffassung eine Vorbildfunktion für politisches Handeln in einem künftigen “islamischen Staat”.

Islamisten idealisieren das erste muslimische Staatswesen, die vor 1 400 Jahren gegründete “Gemeinde von Medina” sowie die Periode der “Vier Rechtgeleiteten Kalifen”, die als direkte “Nachfolger” (Kalifen) des Propheten Muhammad eine “gerechte Kalifatsherrschaft” ausgeübt haben. Ein Idealbild haben Islamisten auch von der Scharia, die sie nicht allein als ein Recht betrachten, sondern als ein politisches und gesellschaftliches Ordnungsprinzip. Mit dem Schlagwort der “Anwendung der Scharia” (tatbiq ash-sharia) plädieren sie für eine vollständige Umsetzung der Bestimmungen des islamischen Rechts. Islamisten sind davon überzeugt, dass das islamische Recht lediglich angewandt werden müsse, um sämtliche politischen und sozialen Probleme zu bewältigen. Konkret betrachtet beinhaltet ihre Forderung nach “Anwendung der Scharia” allerdings nur die Anwendung islamischer Strafrechtsbestimmungen und Elemente einer “islamischen Wirtschaftsordnung”.

Auffällig ist der Versuch von Islamisten, politische Herrschaft mit vermeintlich religiösen Grundlagen zu legitimieren. So ist bei ihnen häufig von der “Gottesherrschaft” (hakimiyat Allah) die Rede, die impliziert, dass politische Herrschaft nicht den Menschen zustehe. Diese Formel steht für das Ziel der Gründung eines religiösen “islamischen Staates”, wobei unklar bleibt, wer darin zur politischen Führung befugt und wie dieser Staat zu organisieren sei. Das Konzept der “Gottesherrschaft” geht zurück auf Abul Ala Al-Maududi und Sayyid Qutb (1906 – 1966), den 1966 hingerichteten Chefideologen der ägyptischen Muslimbruderschaft. Beide definierten die gesamte Welt, einschließlich des Westens und der islamischen Hemissphäre, als in einem Zustand der “heidnischen Unwissenheit” befindlich und forderten die Bekämpfung nicht-glaubenskonformer Muslime und so genannter “Ungläubiger” mit Hilfe des “Jihad” (Kampf).

Den “Jihad um Gottes Willen” verstehen Islamisten nicht – wie in der klassischen islamischen Rechtstheorie definiert – als eine ausschließlich zum Zwecke der Verteidigung des Islam zulässige Methode. Der Jihad ist für sie vielmehr eine offensive und militante Aktionsform, die sie zudem zur individuellen Pflicht eines jeden Muslims erheben. Wie weit ein derartiges Verständnis des Jihad gehen kann, zeigte der von Usama Bin Ladin im Februar 1998 verfasste Aufruf der “Islamischen Weltfront für den Jihad gegen Juden und Kreuzzügler”. Hierin hatte er u. a. die Tötung von Amerikanern zur individuellen Pflicht eines jeden Muslims erklärt und zugleich behauptet, sich in einem gerechten Verteidigungskampf gegen einen überlegenen Gegner zu befinden.

Gemeinsam ist den islamistischen Bewegungen, dass sie die politischen Verhältnisse ihrer Heimatländer radikal in Frage stellen. Dies betrifft vor allem die Regierungen in Ägypten, Syrien, Jordanien, Algerien, Tunesien, Marokko, im Irak sowie die Palästinensische Autonomiebehörde. Ziel der islamistischen Bewegungen ist es bis heute, die autokratischen Herrschaftssysteme in den muslimischen Ländern zu beseitigen, der islamischen Religion größeren Einfluss zu verschaffen und dort möglichst einen – wie auch immer gearteten – “islamischen Staat” zu errichten.

Die Tatsache, dass die islamistischen Bewegungen eine gegen Monarchien, Militärdiktaturen und Einparteienherrschaften gerichtete Opposition darstellen, hat zur Konsequenz, dass die Regierungen dieser Staaten sie seit Jahrzehnten massiv bekämpfen; hierzu gehören auch langjährige Haftstrafen, die Anwendung von Folter und die Verhängung der Todesstrafe.

Zusammen mit dem Anspruch auf absolute Wahrheit finden sich bei Islamisten ferner heftige Polemiken gegen das Prinzip des Säkularismus, der Trennung von Religion und Politik. Die Polemiken sind vor allem gegen die herrschenden politischen Systeme der Herkunftsländer gerichtet, zielen aber auch gegen westliche Demokratiemodelle, die als vermeintlich “unislamisch” abgelehnt werden.

In dieser Hinsicht haben sich einige der islamistischen Gruppen nicht allein zu einer Bedrohung für die muslimischen Heimatländer, sondern auch für die internationale Staatengemeinschaft entwickelt. Dies gilt seit den Anschlägen vom 11. September 2001 im besonderen für den islamistischen Terrorismus, der sich einer ähnlichen Argumentation bedient. Den Boden für die zunehmende Militanz bereiten vor allem verbale Angriffe, die in der Mehrzahl gegen Israel und die USA gerichtet sind. Da hierbei selten zwischen staatlicher Politik und den Bewohnern eines Landes differenziert wird, entwerfen einige islamistische Gruppierungen drastische Feindbilder von “Juden” und “Christen”.

Salafistische Bestrebungen

Der Begriff „Salafismus“ bezeichnet eine auf wahhabitischem Gedankengut basierende Bewegung, die aus unterschiedlichen Strömungen besteht. Der so genannte „puristische Salafismus“ verfolgt keine politischen Zielsetzungen und ist keine extremistische Bestrebung gemäß § 5 Abs. 2 VSG Bln. Im Gegensatz hierzu stehen die islamistischen Strömungen des politischen und des jihadistischen Salafismus, die religiöse Gebote und Normen als verbindliche politische Handlungsweisen umdeuten und durchzusetzen versuchen. Sie sind besonders rigide Strömungen innerhalb des Islamismus. Ihre Anhänger verfolgen eine politische Ideologie, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung und den Bestand unseres Staatswesens gerichtet ist. Der politische Salafismus agiert mit intensiver Propagandatätigkeit zur Verbreitung seiner Ideologie, die er als „Da’wa“ (Missionierung) bezeichnet. Der jihadistische Salafismus setzt hingegen auf eine Strategie der Gewaltanwendung. Die Übergänge zwischen beiden Strömungen sind fließend.

Sowohl politische als auch jihadistische Salafisten bedienen sich religiöser Begriffe für ihre politische Agenda. Sie fordern eine Gesellschaft, die sich vermeintlich ausschließlich an den Prinzipien des Koran sowie dem vom Propheten Muhammad und den ersten Muslimen, den so genannten „rechtschaffenden Altvorderen“ (arabisch: al-salaf al-salih), gesetzten Vorbild orientiert. Dies führt bei ihnen zu einer Absolutsetzung frühislamischer
Herrschafts- und Rechtsformen. Jegliches Abweichen von dieser Norm, die als ursprünglicher und „wahrer Islam“ propagiert wird, lehnen Salafisten als unstattgemäße Verfälschung bzw. „Neuerung“ (arab. bid’a) ab.

Ziel von politischen und jihadistischen Salafisten ist die vollständige Umgestaltung von Staat, Rechtsordnung und Gesellschaft nach einem salafistischen Regelwerk, das als „gottgewollte“ Norm angesehen wird. Sie streben die Errichtung einer islamistischen Ordnung an, in der wesentliche Verfassungsprinzipien des deutschen Grundgesetzes keine Gültigkeit haben sollen. Die parlamentarische Demokratie soll als vermeintlich „unislamisch“ und unvereinbar mit der Idee einer politisch verstandenen „Gottesherrschaft“
abgeschafft werden:

„Die Demokratie ist […] nichts anderes als die Ergebenheit und Unterwerfung des Menschen gegenüber ein[em] bestimmten Kreis von Menschen, einer Elite. […] Demokratie erachtet die Existenz Gottes und seiner Gebote für die Gesellschaft [als] nicht von Bedeutung. […] Die Demokratie nimmt sich somit das Recht des Schöpfers. Es baut damit sein System auf das größte Unrecht auf, denn das größte Unrecht ist das Unrecht gegenüber dem Schöpfer […]” (Internetseite „Millatu-Ibrahim“, Aufruf am 8.11.2011. (Fehler wie im Original)).

Ebenso unvereinbar mit unserer Verfassung ist die von den Salafisten geforderte Vorrangstellung des religiösen Gesetzes (Scharia) gegenüber der weltlichen Gesetzgebung:

„Das islamische Gesetz [die Scharia] betrachtet den Herrscher im islamischen Staat als Verantwortlichen für die Durchführung der göttlichen Befehle […]. So darf kein Mensch, so hoch er sein mag, diesen Regelungen entgegenwirken, oder ein Gesetz erlassen, das gegen sie verstoßen kann” (Al-Sheha, Abdur-Rahman: Botschaft des Islam. Riad 2004, S. 128 f. Es handelt sich um eine deutschsprachige Veröffentlichung, die in Berlin in Umlauf gebracht wurde.).

Ein weiteres wesentliches Element salafistischer Ideologie ist die strenge Unterscheidung zwischen „wahrhaft Gläubigen“ (mu’minun) und vermeintlichen „Ungläubigen“ (kuffar). Salafisten beziehen den Begriff der „Ungläubigen“ zum einen auf Nicht-Muslime wie etwa Christen und Juden, zum anderen aber auch auf Muslime, die nicht die politischen und gesellschaftlichen Auffassungen im Sinne des Salafismus teilen.

Transnationaler islamistische Terrorismus

Al-Qaida und Mujahidin-Netzwerke

Der Begriff „Mujahidin“ bezeichnet pan-islamistisch orientierte Kämpfer unterschiedlicher ethnischer Herkunft, die an Kampfeinsätzen etwa in Afghanistan, Bosnien, Tschetschenien oder im Kaschmir teilgenommen haben. Das Entstehen der, auch als Jihadisten bezeichneten, „Mujahidin“ geht auf den Afghanistan-Krieg zurück, als sich 1979 freiwillige „Kämpfer“ dem, unter dem Motto des Jihad geführten, Krieg gegen die sowjetische Besatzung anschlossen und dafür vor allem in afghanischen und pakistanischen Militärlagern ausgebildet wurden.

Die Lage im von Krieg und Bürgerkrieg gezeichneten Afghanistan bot ideale Bedingungen für die ideologische Schulung und terroristische Ausbildung der „Mujahidin“. Hierzu gehörten ein weitgehend rechtsfreier Raum, Kampfgebiete sowie die Tatsache, dass sich im Bürgerkrieg 1996 die islamistischen „Taliban-Kämpfer“ durchsetzten. Die terroristischen Aktivitäten der „Mujahidin“ richteten sich ab 1992 vor allem gegen Ägypten und Algerien, nachdem sich einzelne Kämpfer des Afghanistan-Kriegs den dortigen militanten islamistischen Gruppierungen angeschlossen hatten.

Im Zentrum der „Mujahidin“ steht die von Usama Bin Ladin Ende der 1980er Jahre gegründete Organisation „al-Qaida“ („Die Basis“), die sich vermutlich Mitte der 1990er Jahre mit Teilen der militanten ägyptischen Gruppen „al-Jihad al-islami“ („Der islamische Kampf“) und „al-Jama’a al-islamiya“215 („Die islamische Gemeinschaft“) zu einem transnationalen Netzwerk zusammenschloss. Bin Ladin wurde im Mai 2011 von US-Einheiten bei seiner Festnahme in Pakistan getötet. Zu seinem Nachfolger wurde sein Stellvertreter Aiman al-Zawahiri, ehemaliger Führer der ägyptischen Gruppe „al-Jihad al-islami“, bestimmt.

Programmatische Grundlage der internationalen Anschläge von „al-Qaida“ war der von Bin Ladin 1998 unterzeichnete Aufruf der „Islamischen Weltfront für den Jihad gegen Juden und Kreuzzügler“, den die Verfasser als ein religiöses „Rechtsgutachten“ („fatwa“) deklarierten. Darin waren die Tötung von Amerikanern zur individuellen Pflicht eines jeden Muslims erhoben, die Stationierung von US-Truppen in Saudi-Arabien für unzulässig erklärt und als Ziel die Verdrängung der USA von der Arabischen Halbinsel genannt worden. Hierzu sollten die USA als Schutzmacht Saudi-Arabiens angegriffen und, wie bereits
die Anschläge auf die amerikanischen Botschaften in Kenia und Tansania 1998 sowie auf das Marineschiff USS Cole 2000 zeigten, möglichst viele US-Bürger getötet werden. In der Verlautbarung heißt es:

„Das Urteil, die Amerikaner und ihre Alliierten, Zivilisten und Militärs gleichermaßen zu töten, wo immer ihm dies möglich ist, ist eine individuelle Pflicht für jeden Muslim, der hierzu in der Lage ist, bis die Aqsa-Moschee [in Jerusalem] und die Heilige Moschee [in Mekka] von ihnen befreit sind und bis ihre Armeen das gesamte Territorium des Islam verlassen haben, geschlagen und unfähig, irgendeinen Muslim noch zu bedrohen“ (Vgl. Nass Bayan al-Jabha al-islamiya al-alamiya li-Jihad al-Jahud wa’l-Salibiyin. In: „al-Quds al-arabi“ vom
23.2.1998. Eine englische Übersetzung findet sich im Internet unter www.fas.org/irp/world/para/docs/980223-fatwa.htm).

Statt Anschlägen von Kern-„al-Qaida“ standen seit 2004 terroristische Aktivitäten anderer „Mujahidin“-Organisationen, eigenständig operierender Kleingruppen oder radikalisierter Einzeltäter im Vordergrund. Sie gelten, auch wenn sie nicht organisatorisch an „al-Qaida“ gebunden sind, als von der „al-Qaida“-Ideologie „inspiriert“. Ein bezeichnendes Beispiel ist der Nigerianer Umar Farouk A., der im Dezember 2009 versuchte, in Detroit einen Anschlag auf ein US-Flugzeug zu verüben und von Passagieren nach einer Fehlzündung des Sprengsatzes überwältigt werden konnte. Seinerzeit war ein mit „Operation des Bruders und Mujahidis Umar al-Faruq al-N., Vergeltung der amerikanischen Feindseligkeiten
gegen den Jemen“ betiteltes Selbstbezichtigungsschreiben von „al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel“ (AQAH) in einem jihadistischen Internetforum sichergestellt worden. Umar Farouk A. wurde im Februar 2012 für diese Tat von einem US-Bundesgericht zu lebenslanger Haft verurteilt.

Für einen Teil der internationalen Anschläge sind so genannte „homegrown“-Terroristen verantwortlich. Hierbei handelt es sich um radikalisierte Muslime der zweiten und dritten Einwanderergeneration oder um radikalisierte Konvertiten. Obwohl diese Personen in europäischen Ländern geboren und aufgewachsen sind, bekämpfen sie westliche Staaten mit terroristischen Mitteln. Hierbei zielen sie ausdrücklich auch auf Zivilisten ab. Dies gilt etwa für die von „homegrown“-Tätern verübten Anschläge von Madrid (2004) und London (2005) sowie das Attentat auf den niederländischen Filmemacher Theo van Gogh (2004). In Deutschland wurden 2007 zwei Konvertiten und zwei hier lebende Personen türkischer Herkunft wegen der Planung von Anschlägen festgenommen und 2010 in Düsseldorf zu langjährigen Haftstrafen verurteilt (so genannte „Sauerland-Gruppe“). Auch der deutsche Konvertit Eric B. und der aus Deutschland stammende Türke Cüneyt C. sind Beispiele für Jihadisten, die sich in Deutschland radikalisiert haben. Cüneyt C. verübte 2008 einen Selbstmordanschlag in Afghanistan, bei dem er vier Soldaten tötete und zahlreiche Personen verletzte. Eric B., der sich seit Herbst 2007 bei der „Islamischen Jihad-Union“ (IJU) im pakistanisch-afghanischen Grenzgebiet aufgehalten hatte, wurde Ende April 2010 bei Kämpfen getötet. Mit ihm starben der Deutsch-Türke Ahmet M. und der aus Holland stammende Berliner Danny R.

Neben Kern-„al-Qaida“ haben sich in den vergangenen Jahren regionale „al-Qaida“-Organisationen herausgebildet. Die im Irak seit 2003 unter verschiedenen Namen operierende „al-Qaida im Irak“ bezeichnet sich seit Oktober 2006 als „Islamischer Staat Irak“.Die Organisation verfolgt das Ziel, die irakische Regierung sowie Schiiten und Kurden zu bekämpfen. Obwohl seit 2007 infolge erhöhten Verfolgungsdrucks ein spürbarer Rückgang terroristischer Gewalt festzustellen war, verübte der „Islamische Staat Irak“ auch 2012 eine Reihe schwerer Anschläge, die insbesondere auf die Zivilbevölkerung und irakische Sicherheitskräfte zielten. Auch Anschläge gegen christliche Gemeinschaften nahmen stark zu.

Zu den regionalen Zweigen von „al-Qaida“ gehört auch die algerische „Groupe Salafiste pour la Prédication et le Combat“ (GSPC),219 die sich 2007 in „al-Qaida im islamischen Maghreb“ (AQM) umbenannte und hiermit eine stärkere internationale Ausrichtung signalisiert. Seither ist AQM der zentrale Gewaltakteur in der Region. Mit der Umbenennung näherte sich der Modus Operandi bei der Durchführung von Anschlägen dem von „al-Qaida“ an. Die Anschläge richteten sich nunmehr verstärkt gegen westliche Ausländer und regionale Sicherheitskräfte. Nach der Tötung eines Amerikaners und einer britischen
Geisel 2009 wurden 2010 sieben Mitarbeiter eines französischen Unternehmens in Niger, darunter fünf Franzosen sowie ein Staatsbürger aus Togo und Madagaskar, entführt. Zu den Anschlägen auf Sicherheitskräfte zählen ein Angriff auf algerische Grenzschützer 2010 mit elf Toten und ein Selbstmordanschlag auf eine Kaserne des mauretanischen Militärs 2010, bei dem mindestens zwei Soldaten starben.

Die Ende Januar 2009 durch den Zusammenschluss der „al-Qaida im Jemen“ (AQJ) und dem saudischen „al-Qaida“-Zweig entstandene „al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel“ (AQAH) hat sich zu einer schlagkräftigen Terrororganisation entwickelt und dabei auch den internationalen Luftverkehr attackiert. Hierzu zählen die Anschlagsversuche auf zwei Luftfrachtmaschinen im Oktober 2010, bei denen die Sprengsätze noch rechtzeitig entschärft werden konnten. Die Verantwortung der AQAH für den Absturz eines Jumbos im
September 2010 in Dubai ist noch unklar. Die AQAH hat damit ihren Modus Operandi signifikant verändert und beschränkt ihre gewaltsamen Aktionen nicht länger auf die arabische Halbinsel.

Im Februar 2012 schloss sich die somalische Terrororganisation „Harakat al-Shabab al-Mujahidin“ (Bewegung der Mujahidin-Jugend, kurz „al-Shabab“) „al-Qaida“ an. „Al-Shabab“ bildete sich 2006 im Umfeld der radikal-islamistischen „Union der islamischen Gerichtshöfe“ (UIG), einer 2007 besiegten Dachorganisation von Islamisten im somalischen Bürgerkrieg. Sie entwickelte sich zur stärksten islamistisch-terroristischen Terrororganisation in Somalia und beherrscht weite Teile des Landes. Ziel ist die Bekämpfung der somalischen
Regierung und die Errichtung einer Kalifatsherrschaft. Auch für Entführungen
von Personen aus dem westlichen Ausland, Bombenanschläge und Selbstmordattentate wird „al-Shabab“ verantwortlich gemacht. In den von ihr beherrschten Gebieten setzt „al-Shabab“ ihre Vorstellungen vom islamischen Recht (Scharia) äußerst gewaltsam durch.

Eine durch „al-Qaida“ zumindest inspirierte Gruppe ist die 2002 gegründete „Islamische Jihad-Union“ (IJU), die eine Abspaltung von der „Islamischen Bewegung Usbekistan“ (IBU) darstellt. Die Führung der IJU unterhält Kontakte zu „al-Qaida“ und gilt als von deren Ideologie beeinflusst. Die Mitglieder der IJU verstehen die Ausübung des militanten Jihad als einen Teil muslimischer Glaubenspraxis. Sie behaupten, den militanten Jihad gegen westliche Staaten ausüben zu müssen, weil diese angeblich einen „Krieg gegen den Islam
und die Muslime“ führten. Die IJU hatte zunächst regionale Ziele verfolgt, weitete aber seit 2005 ihren auf Usbekistan beschränkten Aktionsradius aus und hat seitdem eine transnationale jihadistische Ausrichtung, die auch Anhänger in Europa gewinnt. So plante die 2007 enttarnte „Sauerland-Gruppe“ ihre Anschläge im Auftrag der IJU. Ende 2009 spaltete sich von der IJU eine Gruppe deutschsprachiger Muslime ab, die sich „Deutsche Taliban Mujahidin“ (DTM) nannten. Nachdem der mutmaßliche Anführer Ahmet M. sowie weitere Mitglieder im Frühjahr 2010 bei Kämpfen starben und andere die Gruppierung mit dem Ziel einer Rückkehr nach Deutschland verließen, existiert die DTM mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht mehr.

Auch die „Islamische Bewegung Usbekistan“ (IBU) gilt als von der al-Qaida“-Ideologie inspiriert. Die 1997 gegründete Organisation verfolgte ursprünglich eine regionale Agenda, die auf einen Sturz des usbekischen Präsidenten Karimov zielte. Seit 2000 wurden auch ihre Ziele internationaler. Die IBU operiert hauptsächlich im pakistanisch-afghanischen Grenzgebiet. In der Bundesrepublik ist sie bislang vor allem durch Veröffentlichungen deutschsprachiger Videos der beiden Bonner Brüder Mounir und Yassin C. bekannt geworden.

Zu den Mujahidin gehören auch die Kämpfer des 2007 gegründeten „Kaukasischen Emirats“ im südlichen Russland. Diese Jihadisten hatten sich zunächst auf Tschetschenien beschränkt, weiteten aber ihre bewaffneten Operationen auf den gesamten Nordkaukasus, insbesondere auf Dagestan und Inguschetien sowie auf Russland aus. So verübten im März 2010 kaukasische Selbstmordattentäterinnen Anschläge auf die Moskauer Metro. Der selbsternannte „Emir der kaukasischen Völker“ Dokku Umarov bezichtigte sich, die Anschläge angeordnet zu haben. Er erklärte die Russische Föderation, die USA, Großbritannien sowie Israel zu Feinden der Muslime und unterstellte ihnen, einen „Krieg gegen den Islam“ zu führen. Umarov fordert, die von ihm als „ungläubig“ diffamierten Feinde nicht allein aus dem Kaukasus, sondern aus sämtlichen früheren muslimischen Territorien zu vertreiben.