Bürgermeisters der ukrainischen Partnerstadt Riwne vor der Bezirksverordnetenversammlung Pankow von Berlin

Oleksandr Tretyak, Bürgermeister der ukrainischen Partnerstadt Riwne bei seiner Rede zur 16. Tagung der Bezirksverordnetenversammlung Pankow von Berlin am 12. Juli 2023

Oleksandr Tretyak, Bürgermeister der ukrainischen Partnerstadt Riwne

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen!
Ich würde gerne meine Rede damit beginnen, dass ich meine Bewunderung für Ihre Stadt zum Ausdruck bringe. Beginnen würde ich gerne mit der Freude, hier zu sein; mit der Möglichkeit mit Ihnen zu kommunizieren; mit der, in lächelnde Gesichter zu gucken. Ich würde auch gerne über die großartige Freundschaft und Unterstützung sprechen, die die Ukraine und Riwne in den letzten anderthalb Jahren von Ihnen erhalten haben.
Jedoch muss ich mit etwas Anderem anfangen. Leider verwendet unsere Bevölkerung seit dem 24. Februar 2022 oft kein Datum mehr – für uns vergehen die Jahreszeiten unbemerkt, und die Zeit scheint eingefroren zu sein. Für die Ukrainerinnen und Ukrainer wird jeder Tag zum 24. Februar 2022, und das bereits seit 504 Tagen.
Krieg ist ein schreckliches Wort, das leider für uns alle zur Realität geworden ist. Es gibt keine Familie in der Ukraine, die nicht jemanden an die Front geschickt hat. Sie werden kaum einen Menschen in der Ukraine finden, der nicht einen Verwandten, einen Freund, eine Freundin oder einen Bekannten in diesem Krieg verloren hat… Diese schrecklichen Ereignisse – Tod, Zerstörung, Explosionen, Fliegeralarm, Notgepäck für verschiedene Arten von Gefahren – das alles ist zum Alltag geworden. Jeden Tag sehen und erleben das alles Zehntausende von Familien – Millionen von Kindern und Erwachsenen.
Russland und seine Armee haben allein im ersten Jahr des Krieges beinahe zehntausend Zivilistinnen und Zivilisten getötet und mehr als 13.000 Menschen verletzt. Dabei handelt es sich um grobe Schätzungen internationaler Organisationen, nur für das erste Kriegsjahr. Todesfälle, Verletzungen und Traumata begleiten die Ukrainer jeden Tag. Der Feind kümmert sich nicht um Geschlecht oder Alter – er zögert nicht, zu töten.
Das jüngste Kind, das von den Besatzern getötet wurde, war gerade einmal zwei Tage alt. Insgesamt wurden in den anderthalb Jahren der umfassenden Invasion mehr als 500 ukrainische Kinder getötet. Auch dies ist eine unpräzise Zahl, denn das ganze Ausmaß der Tragödie in den besetzten Gebieten ist uns nicht bekannt. Und in den von der Regierung kontrollierten Gebieten gibt es immer noch viele Menschen, die als vermisst gelten oder Tote, die noch nicht identifiziert werden konnten…
Aber die starke ukrainische Nation, die starken ukrainischen Menschen, geben nicht auf. Wir kämpfen und wir werden durchhalten. Schließlich haben wir jemanden, den wir verteidigen müssen: Groben Schätzungen zufolge wurden seit dem 24. Februar 2022 in der Ukraine 250.000 Kinder geboren. Das sind sehr ungenaue Zahlen, und es sind viel weniger als in Friedenszeiten vor der Covid-Pandemie. ABER! Diese Kinder sind ein Symbol dafür, dass der ukrainische Staat frei und stolz leben wird!
Ukrainische Kinder werden in Luftschutzkellern geboren. Sie lernen und schlafen dort. Der Unterricht, der durch Fliegeralarm unterbrochen wird und die Wege zu Luftschutzkellern sind für sie zur Normalität geworden. Die schreckliche Normalität von heute. Aber sie sind stark, denn sie haben die Möglichkeit, ihre Muttersprache zu sprechen und die Traditionen ihrer Nation zu bewahren.
Gleichzeitig wurden fast 20.000 Kinder entführt und illegal nach Russland verschleppt. Diese Kinder werden ihrer nationalen Identität beraubt, ihnen wird beigebracht, ihr Heimatland zu hassen und ihre Entführer samt einem fremden Volk zu respektieren. Das russische Nation zu respektieren, die für demokratische Staaten inakzeptable Regeln befolgt.
Tausende von ukrainischen Frauen, sowohl Militärleute als auch Zivilpersonen, werden in russischen Gefängnissen und Filtrationslagern festgehalten. Sie werden unter unmenschlichen Bedingungen in überfüllten Zellen festgehalten, oft ohne Nahrung und Wasser. Die Haftbedingungen erinnern an die Erinnerungen von Gefangenen in den Gulags des stalinistischen Regimes, wo sie für jedes Vergehen hart bestraft wurden, keinen Schlaf fanden, keine medizinische Versorgung erhielten und keinen Zugang zu den elementarsten Haushaltsgegenständen hatten.
Internationale humanitäre Organisationen haben keinen Zugang zu ihnen. Sie können nicht einmal die Zahl dieser Gefangenen genau schätzen, da viele von ihnen nach Paragrafen des Strafrechts verurteilt werden und vielen von ihnen keine Erklärung für ihre Inhaftierung gegeben wird. Es sind Ukrainerinnen und Ukrainer, die sich für ihre Heimat einsetzen oder einfach nur leben – das ist ausreichend für die Besatzer.
Dieser Krieg hat die absolute Schwäche der UNO und vieler internationaler Organisationen gezeigt, die Russland in keiner Weise beeinflussen oder dazu zwingen können, sich an Regeln und Vorschriften zu halten.
Die ganze Zeit leben die ukrainischen Städte am Rande des Abgrunds. Die Besatzer zerstören unsere Infrastruktur und versuchen, die Ziele zu treffen, um die Zivilbevölkerung ohne Wärme, Strom oder Wasserversorgung zu lassen. Für ein ganzes Land sind das erschreckende Zahlen und Zerstörungen. Doch die Ukrainerinnen und Ukrainer halten mit aller Kraft durch.
Glücklicherweise ist Riwne, meine Heimatstadt, vor den aktiven Kampfhandlungen relativ sicher. Aber auch hier, im scheinbaren Hinterland, haben wir die Schrecken des Krieges erlebt. Unsere Stadt hat mehr als 30.000 Binnengeflüchtete aufgenommen, die dazu gezwungen wurden, ihre Häuser zu verlassen, um dem Beschuss und dem Mord zu entgehen. Alle diese Menschen wurden mit der gleichen Fürsorge behandelt wie unsere Einwohner.
Es war ein schwieriger Winter. Wir wussten über die potenzielle Gefahr und die Heimtücke unseres Feindes und bereiteten uns auf die schlimmsten Szenarien vor. Stellen Sie sich vor: 1044 Male wurde diesen Winter in Riwne der Strom abgeschaltet. Das bedeutete, dass es keine Möglichkeit gab, die Menschen mit Wärme zu versorgen – und das in der Kälte. Es gab Tage, an denen das Licht in den Häusern nur für ein paar Stunden angeschaltet wurde – ein großes Glück, auch wenn das System das in diesen Minuten kaum aushalten konnte. Stellen Sie sich vor, nur 4 Stunden Stromversorgung bei minus 15 Grad Außentemperatur zu haben! Unglaubliche Bedingungen für die moderne Welt, die Hochtechnologie täglich leben und erleben darf!
Wir richteten Wärmestationen ein – spezielle Zelte, in denen sich ausnahmslos jeder aufwärmen, heißen Tee trinken, einen Snack zu sich nehmen und seine Geräte aufladen konnte. Und viele Einwohnerinnen und Einwohner von Riwne fanden dort Rettung. Ich bin stolz auf unsere Menschen, die selbst in solchen schwierigen Zeiten weitergearbeitet haben, um die Wirtschaft des Landes zu unterstützen – viele von ihnen taten dies aus dem Homeoffice, so dass die Stromausfälle auch sie betrafen.
Unsere Lehrer haben ihre Hauptaufgabe auch in den schwierigsten Zeiten fortgesetzt – in den Notunterkünften, in den Wärmestationen oder durch den Anschluss an die Stromversorgung in Geschäften, Apotheken und anderen Einrichtungen haben sie unsere Kinder unterrichtet. Damit haben sie so gut wie möglich die Kinder von den Schrecken des Krieges abgelenkt. Außerdem haben sie dabei stets das Wichtigste vermittelt – das Wertvollste auf der Welt ist das menschliche Leben.
Jedes Mal, wenn wir uns auf unserem zentralen Platz von den gefallenen Helden verabschieden, bricht uns das Herz. Allein unsere Stadt hat bereits fast zweihundert Verteidiger offiziell zu Grabe getragen: einige von denen sind beinahe Kinder – der jüngste von ihnen, der Obersoldat Yehor Mukha, ist nur 19 Jahre alt geworden. Es sind Ehemänner, Väter – mehr als zehn von ihnen haben drei oder mehr Kinder großgezogen… Diese Helden gaben ihr Leben für ihr Land, und niemand – weder Kinder, noch Erwachsene, noch Mitstreiter – können ihre Tränen zurückhalten, immer wenn unsere Stadt Abschied von den Besten der Besten nimmt…
Wir haben unser Sicherheitskonzept überdacht und alle Bildungseinrichtungen sowie medizinischen Einrichtungen zumindest mit den einfachsten Luftschutzräumen und Stromanschlüssen ausgestattet. Unsere Ärzte haben in den Unterkünften echte Operationssäle eingerichtet und sind bereit, unter allen möglichen Umständen die notwendige Hilfe zu leisten.
Wir kümmern uns um unsere Verteidiger. Wir behandeln sie, bringen sie wieder auf die Beine und setzen gemeinsam mit unseren internationalen Partnern ein groß angelegtes Projekt um – ein vollwertiges Rehabilitationszentrum für Veteranen.
Ohne Ihre Unterstützung wäre dies nur schwer möglich.
Abschließend möchte ich sagen, dass dieser Krieg jedem Ukrainer beigebracht hat, dankbar zu sein. Ich danke Ihnen für Ihre Unterstützung, ich danke jedem Ukrainer für seine Widerstandsfähigkeit, ich danke Gott für die Möglichkeit, in meiner Stadt zu leben und der Gemeinschaft zu dienen, und ich danke unseren Streitkräften für die Ukraine!