Aktuelles

Positionspapier der Beauftragten des Berliner Senats für Integration und Migration sowie der Landesarbeitsgemeinschaft der Bezirksbeauftragten für Partizipation und Integration

Zur aktuellen Situation an den Berliner Schulen für neu zugewanderte Kinder

Bildung ist die wichtigste Ressource in unserem Land. Das Recht auf Bildung ist in der Verfassung festgeschrieben, es ist unteilbar. Das Land Berlin ist daher gefordert, allen Kindern und Jugendlichen in Berlin gleichberechtigte Bildungschancen zu ermöglichen – und zwar unabhängig von ihrem sozialen Status, ihrer Herkunft und ihrer jeweiligen aufenthaltsrechtlichen Situation.

Gemeinsam mit den bezirklichen Beauftragten für Partizipation und Integration wende ich mich an Sie, um die Dringlichkeit der aktuellen Situation an den Berliner Schulen aus integrationspolitischer Sicht darzustellen.

In den letzten 12 Monaten haben in Berlin mehr als 40.000 Menschen, die aus der Ukraine vor dem Krieg geflohen sind, dauerhaft Schutz gefunden, Etwa ein Drittel davon sind Kinder und Jugendliche. Dies entspricht einer Zahl von 10.000 bis 15.000 Kindern und Jugendlichen. Hinzu kommen schutzsuchende Menschen auch aus Afghanistan, Syrien oder dem Iran und auch viele asylbeantragende Familien aus Moldawien, Russland oder Georgien. Zwischen zehn und 15 unbegleitete Jugendliche erreichen derzeit täglich im Durchschnitt Berlin; eine Größenordnung, welche eine besondere Herausforderung darstellt.

Wir erkennen ausdrücklich an, dass seit dem Ausbruch des Krieges und ob der gestiegenen Zahlen von Geflüchteten aus der Ukraine die Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Forschung im Jahr 2022 mehr als 7.000 zusätzliche Schulplätze geschaffen hat und dass es gelungen ist, mehr als 500 neue Lehrkräfte einzustellen.

Dennoch: Auch wenn der Mangel an Räumlichkeiten und Fachpersonal alle Schulformen betrifft, führt er in den Willkommensklassen zu ungleich drastischeren Zuständen und langfristig negativen Auswirkungen für die neu zugewanderten Kinder und Jugendlichen.
Vor dem Hintergrund fordern wir:

1. Eine kurzfristige Strategie mit Angeboten und Notlösungen, welche als solche klar zu benennen und zu befristen sind. Diese muss Unterrichtsangebote für alle Regel- und Willkommensklassen umfassen. Garantiert sein muss, dass das Recht auf Bildung für alle Kinder gleichermaßen gilt. Wartezeiten auf einen Schulplatz für mehrere tausend Kinder sind nicht zu akzeptieren. Gerade bei unbegleiteten minderjährigen Jugendlichen vergehen zudem Monate, bevor sie überhaupt auf einer Warteliste für einen Schulplatz registriert werden. Auf den bezirklichen Wartelisten für einen Schulplatz stehen aktuell zudem 1.600 bis 2.500 Kinder und Jugendliche. Die Zahlen scheinen aber nicht valide. Wir fordern an dieser Stelle eine schnelle, zwischen Bezirken und Landeseben abgestimmte Analyse und Aussage, wie viele Kinder und Jugendliche aktuell in Berlin trotz Schulpflicht in keine Berliner Schule gehen. Als Verwaltung sind wir dafür verantwortlich, dass das Recht auf Bildung und die Schulpflicht gleichermaßen gelten. Die betrifft sämtliche Schulformen und -typen.

2. Mit Blick auf inzwischen über 40 Prozent Schülerinnen und Schüler mit Migrationsgeschichte und immer weiter steigende Zahlen an Kindern und Jugendlichen mit Fluchterfahrung fordern wir eine breite gesellschaftliche Debatte, wie die Schule und das Bildungssystem der Zukunft unter den realen Gegebenheiten aussehen sollen. Allein Berlin müsste nach Prognosen bis 2030 mehr als 20.000 neue Lehrerinnen und Lehrer über Verbeamtungen, Quereinstieg oder Anerkennung von im Ausland erworbenen Abschlüssen einstellen (deutschlandweit: 70.000). In den kommenden drei bis fünf Jahren werden mehr als 10.000 Lehrerinnen und Lehrer in den Ruhestand gehen. Zudem ist davon auszugehen, dass Berlin im kommenden Jahrzehnt die notwendigen 70 bis 80 neuen Schulstandorte nicht fertigstellen wird, die eigentlich benötigt werden. Es braucht an dieser Stelle neue Wege, die ohne Tabus und Denkblockaden in einer breiten Öffentlichkeit diskutiert werden.

Zur Debatte gestellt werden müssen dabei u.a. folgende Themen:

  • Effektive Nutzung der Schulgebäude an Nachmittagen, am Wochenende und in den Ferienzeiten;
  • Ausbau der Schulen zu Lernorten und Begegnungsstätten für Kinder, Jugendliche und Eltern. Bildung, Ausbildung und Arbeit versprechen Zukunft. Schulen sind vertraute Orte, hier können individuelle Brücken in die Zukunft gebaut werden;
  • Unterrichtsangebote auch am Wochenende;
  • Rotierende Ferien innerhalb von Berlin – um eine bessere Raumnutzung zu ermöglichen;
  • Ausrichtung des Lehrplans auf ein Regelangebot mit einer definierten Mischung aus Präsenz- u. Digitalunterricht sowie Angeboten durch staatlich produzierte TV- oder YouTube-Formate. Ein Blick in Länder wie Australien, Kanada oder Mexiko kann helfen;
  • Engere Kooperation mit Sportvereinen, Musikschulen und pädagogischen Angeboten in Schulnähe. Gerade Sport und Musik fallen viel zu oft komplett aus;
  • Schnelle Ausstattung aller Schulen mit WLAN und mobilen Endgeräten für alle Schülerinnen und Schüler sowie Lehrkräfte;
  • Einrichtung von digitalen Lernecken und Nutzung von Aulen, Mensen etc. für digitale Lernangebote am Lernort Schule;
  • Frühere Einbindung von Lehramtsstudierende in die Unterrichtspraxis; Schnelle und gezielte Einbindung von Lehrkräften aus dem Ausland. In Berlin gibt es sehr viel
  • Potential von Lehrerinnen und Lehrern mit einem Studienabschluss aus dem Ausland, welche nicht in ihrem Beruf arbeiten dürfen. Gezielte Deutschkursangebote und gezielte Express-Weiterbildungen könnten diese Personen mit häufig langjähriger Berufserfahrung schnell in den Arbeitsmarkt bringen;
  • Einsatz in Deutschland ausgebildeter Lehrerinnen mit Kopftuch in allgemeinbildenden Schulen, Abschaffung des Berliner Neutralitätsgesetzes;
  • Öffentliche Debatte zu den Online-Unterrichtsangeboten für Kinder und Jugendliche aus der Ukraine – in ukrainischer Sprache nach ukrainischem Lehrplan.

Die Situation und die möglichen Lösungsmöglichkeiten an Grundschulen, Sekundarschulen/Gymnasien und beruflichen Schulen sind differenziert zu bewerten:

Grundschulen

Willkommensklassen sind in den Grundschulen maximal eine Not- und Übergangslösung Studien belegen, dass (geflüchtete) Kinder im Grundschulalter, die eine Willkommensklasse besuchen, im Vergleich zu geflüchteten Kindern, die direkt in eine Regelklasse kommen, bei standardisierten Tests, insbesondere in den Fächern Mathematik und Deutsch, schlechter abschneiden (vgl. „Starting off the right foot“, Höckel & Schilling, 2022). Um Segregationstendenzen von Anfang an zu vermeiden und ein effektives Lernen im Sprachbad zu ermöglichen, sollte es für alle Schülerinnen und Schüler die Möglichkeit geben, direkt eine Regelklasse zu besuchen und flankierend mit DaZ-Unterricht unterstützt zu werden. Richtig und notwendig wäre es hingegen, die Klassenverbände gerade in den Grundschulen zu verkleinern und einen besseren Schlüssel zwischen Lehrkraft und Schülerinnen und Schülern zu ermöglichen. Der Mangel an Lehrkräften macht dies schwer. Hier braucht es eine schnelle Kraftanstrengung und eine ehrliche Debatte.

Sek. I/Sek. II

Bei älteren Kindern im Alter von 12 bis 16 Jahren ist unserer Meinung nach eine bessere und engere Verknüpfung zwischen Willkommens- und Regelklassen nötig, so dass z.B. gemeinsamer Unterricht in Sport, Kunst, IT, WAT von Anfang an stattfinden kann. Wichtig ist, dass Kindern und Jugendlichen möglichst schnell ein Zugang zum Lernort Schule ermöglicht wird und sie eine Anbindung an reguläre Klassenverbände bekommen. Mit Blick auf den Mangel an Lehrkräften muss gerade in dieser Altersgruppe über Konzepte mit regulärem Teilungsunterricht gesprochen werden – kleine Gruppen mit Präsenzunterricht, Schülerinnen und Schülern technisch gut ausgerüstet im digitalen Klassenzimmer, vielleicht sogar eingewählt aus einem Lehrraum der Schule; ergänzt eventuell durch ein reguläres und dauerhaftes Bildungsprogramm im Fernsehen und/oder Internet. Im Notfall können übergangsweise auch pädagogisch weniger anspruchsvolle Bildungsangebote besser sein als das monatelange Warten auf einen Platz in einer Willkommensklasse. Wichtig sind hier klare Perspektiven und Regularien.

Oberstufenzentren

Viele geflüchtete Jugendliche erreichen Berlin erst in einem Alter, in dem sie zwar noch keinen Schulabschluss in ihrem Herkunftsland erworben haben können, aber in Berlin vor großen Problemen stehen, einen Schulplatz zu erhalten. So werden seit ein paar Monaten anscheinend Geflüchtete ab einem Alter von 16 Jahren nicht mehr in Willkommensklassen an Oberstufenzentren aufgenommen. Von allgemeinbildenden Schulen werden sie ebenfalls abgewiesen. Dies widerspricht nicht nur § 42a Schulgesetz, in dem die Schulplicht nicht am Alter, sondern an den Jahren des tatsächlichen Schulbesuchs festgemacht wird. Es führt überdies dazu, dass dieser Personenkreis dauerhaft ohne Schulabschluss und – wegen mangelnder schulische Vorbildung – ohne Berufsabschluss bleibt und damit von einem zentralen Teilhabebereich unserer Gesellschaft ausgeschlossen bleibt. Diese Jugendlichen dürfen deshalb bei der Schaffung schulischer Angebote nicht außen vor bleiben. Zudem bietet sich an den Oberstufenzentren für die älteren Kinder eine gute Verzahnung von digitalen Angeboten zum Erlernen der deutschen Sprache und einer Teilnahme an Regelkursangeboten mit Elementen der beruflichen Bildung an. Voraussetzung ist die kostenlose Ausstattung der Schülerinnen und Schüler mit mobilen Endgeräten, die Ausstattung der Schulen mit einem leistungsfähigem WLAN und eine Anpassung des Lehrplans bezüglich hybrider Unterrichtsformen.

Wichtig und zentral ist bei allen Herausforderungen mit Blick auf die Willkommensklassen, dass die Problemlösungen nicht darin bestehen, sowohl bei der Inklusion von Willkommensklassen in die Schulen als auch bei der Qualifikation der Lehrkräfte immer mehr Abstriche zu machen. Das Absenken von Standards bei Willkommensklassen führt zu Segregation, wobei gerade der Austausch zwischen den Willkommensklassen und den Regelklassen für den Lernerfolg von neu zugewanderten Kindern und Jugendlichen zentral ist, wie unlängst die 5 „WiKo-Studie“ festgehalten hat (DIPF-Leibniz Institut für Bildungsforschung: WiKo-Studie 2020, S. 249). Faktische Gründe (wie etwa fehlende Kapazitäten) können die zunehmende Segregation von Willkommensklassen zwar erklären, aber nicht rechtfertigen. Das Land Berlin muss aktiv mit allen verfügbaren Ressourcen zielführende Maßnahmen ergreifen, um das Recht auf Bildung für neu zugewanderte Kinder und Jugendliche gleichberechtigt und diskriminierungsfrei umzusetzen. Hier ist die Schulaufsicht in der Pflicht, die einzelnen Schulämter und Schulen zur Gleichbehandlung der Kinder und Jugendlichen zu ermahnen, wenn es um die Zuweisung von Schulplätzen geht.

Die Situation ist sehr ernst. Die Zahlen in Berlin insgesamt sind alarmierend. Jedes Jahr verlassen in Berlin etwa 3.800 Schülerinnen und Schüler die Schule ohne oder mit dem niedrigsten Schulabschluss, der Berufsbildungsreife. Diese Zahlen spiegeln sich auch in der Jugendarbeitslosigkeit wider, welche in Berlin überdurchschnittlich hoch ist. Jugend braucht aber Zukunft, Bildung und Ausbildung sind Voraussetzung dafür.

Als Beauftragte auf Landes- und Bezirksebene fordern wir einen interdisziplinären Bildungsgipfel mit allen relevanten Teilnehmer*innen aus Politik, Verwaltung, Wissenschaft und Zivilgesellschaft, um sowohl Lösungen für die akuten Probleme zu finden als auch Ideen für ein Schulkonzept zu entwickeln, das auf eine Migrationsgesellschaft ausgerichtet ist. Dabei unterstützen wir gern tatkräftig, auch bei der Schaffung neuer Dialog- und Diskussionsformate. Dafür muss sich die Bildungsverwaltung öffnen – sowohl für neue Ideen als auch für neue Kooperationen. Schule alleine kann die bestehenden Herausforderungen nicht meistern.

Berlin, den 14. Februar 2023

Katarina Niewiedzial
Beauftragte des Berliner Senats für Integration und Migration

Julia Stadtfeld
Beauftragte für Partizipation und Integration des Bezirks Reinickendorf und Sprecherin der Landesarbeitsgemeinschaft der Bezirksbeauftragten

Prof. Dr. Thomas Bryant
Beauftragter für Partizipation und Integration des Bezirks Marzahn-Hellersdorf und Sprecher der Landesarbeitsgemeinschaft der Bezirksbeauftragten

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