Drucksache - 0285/VI  

 
 
Betreff: Zur Suchtprävention als Aufgabe aller
Status:öffentlich  
 Ursprungaktuell
Initiator:Fraktion DIE LINKE.PDSBzBmin/BzStRin GesSozPers
Verfasser:Pohle, Dagmar 
Drucksache-Art:Große AnfrageGroße Anfrage
Beratungsfolge:
Bezirksverordnetenversammlung Vorberatung
26.04.2007 
Öffentliche Sitzung der Bezirksverordnetenversammlung Marzahn-Hellersdorf schriftlich beantwortet   

Sachverhalt
Anlagen:
1. Große Anfrage PDF-Dokument
2. Schriftl. Antwort BzBmin BzStRin GesSozPers PDF-Dokument

Das Bezirksamt wird um Auskunft gebeten:

1. Wie viele Fälle von übermäßigem Alkoholkonsum von Minderjährigen mit anschließend dringend notwendiger ärztlicher Behandlung sind dem Bezirksamt für das Jahr 2006 bekannt?

Anfragen an die Rettungsstellen zweier umliegender Krankenhäuser, die zum wesentlichen Teil auch die Versorgung von Minderjährigen aus dem Bezirk Marzahn-Hellersdorf sicherstellen, ergaben folgendes Bild:

a) Kinderkrankenhaus Lindenhof
Im Jahr 2006 wurden 39 Kinder und Jugendliche im Alter zwischen12 und 18 Jahren stationär mit einer Alkoholintoxikation in die Klinik für Kinder- und Jugendmedizin des Kinderkrankenhauses Lindenhof eingeliefert. 20 von ihnen mussten intensivmedizinisch betreut werden. Zwei der 39 Personen waren 18 Jahre alt.

b) Unfallkrankenhaus Marzahn
Im Jahr 2006 wurde ein 16-jähriges Mädchen stark alkoholisiert, aber ansprechbar, in die Rettungsstelle eingeliefert.

c) HaLt – Hart am Limit
Das Projekt „HaLt – Hart am Limit“, das in Lichtenberg an die dortige Suchtberatungsstelle der Stiftung SPI angegliedert ist, hat den Auftrag, Jugendliche mit Alkoholproblemen in den Kliniken unserer Versorgungsregion aufzusuchen und sozialpädagogisch zu betreuen.
2006 hatte dieses Projekt in seiner Arbeit 52 Neuzugänge zu verzeichnen. Vorwiegend kamen diese Kinder und Jugendlichen aus den Stadtteilen Lichtenberg, Hohenschönhausen, Marzahn und Hellersdorf. Die Zugänge erfolgten über das Kinderkrankenhaus Lindenhof, das Evangelische Krankenhaus Königin Elisabeth Herzberge (Abt. Psychiatrie und Psychotherapie des Kinder- und Jugendalters), Jugendwohngemeinschaften, Jugendheime, freie Träger der Kinder- und Jugendhilfe und als Selbstmelder.

2. Wie viele dieser Fälle waren das Resultat des Konsums in einer Gaststätte zu besonders günstigen Preisverhältnissen (z. B. die sog. „Flatrate-Parties“)?

a) Kinderkrankenhaus Lindenhof
Dazu liegen keine Angaben vor.
Allerdings wurde bemerkt, dass es sich meistens um Kinder und Jugendliche aus sozial problematischen Familien handelt und dass die Eltern der eingelieferten Kinder und Jugendlichen kaum besorgt reagieren.

b) Unfallkrankenhaus
Marzahn
Die 16-jährige wurde um 22.03 Uhr eingeliefert, was den Schluss nahe legt, dass sie sich wohl eher nicht auf einer Flatrate-Party, sondern auf einer Feier im privaten Bereich so betrunken hat.

c) HaLt – Hart am Limit

Zwei der 52 Neuzugänge (= 4%) gaben eine Flatrate-Party als Grund für die Alkoholvergiftung an.

 

3. Welche Möglichkeiten sieht das Bezirksamt der Nutzung dieses Angebots einzelner Gaststätten von Minderjährigen durch bestehende Kontrollmechanismen entgegen zu wirken?

Hier geht es in erster Linie darum, die Einhaltung dieser bestehenden gesetzlichen Regelungen durchzusetzen:

Jugendschutzgesetz:
§ 5       Tanzveranstaltung
(1) Die Anwesenheit bei öffentlichen Tanzveranstaltungen ohne Begleitung einer personensorgeberechtigten oder erziehungsbeauftragten Person darf Kindern und Jugendlichen unter 16 Jahren nicht und Jugendlichen ab 16 Jahren längstens bis 24 Uhr gestattet werden.

§ 9       Alkoholische Getränke
(1) In Gaststätten, Verkaufsstellen oder sonst in der Öffentlichkeit dürfen
            1. Branntwein, branntweinhaltige Getränke oder Lebensmittel, die Branntwein in nicht nur geringfügiger Menge             enthalten an Kinder und Jugendliche,
            2. andere alkoholische Getränke an Kinder und Jugendliche unter 16 Jahren weder abgegeben noch darf ihnen der         Verzehr gestattet werden.

Gaststättengesetz:
§ 6
       Ausschank Alkoholfreier Getränke
Ist der Ausschank alkoholischer Getränke gestattet, so sind auf Verlangen auch alkoholfreie Getränke zum Verzehr an Ort und Stelle zu verabreichen. Davon ist mindestens ein alkoholfreies Getränk  nicht teurer zu verabreichen, als das billigste alkoholische Getränk. Der Preisvergleich erfolgt hierbei auch auf der Grundlage des hochgerechneten Preises für einen Liter der betreffenden Getränke. Die Erlaubnisbehörde kann für den Ausschank aus Automaten Ausnahmen zulassen.

§ 20     Allgemeine Verbote
Verboten ist,
1. Branntwein und überwiegend branntweinhaltige Lebensmittel durch Automaten feilzuhalten,
2. in Ausübung eines Gewerbes alkoholische Getränke an erkennbar Betrunkene zu verabreichen,
3. im Gaststättengewerbe das Verabreichen von Speisen von der Bestellung von Getränken abhängig zu machen oder bei der Nichtbestellung von Getränken die Preise zu erhöhen,
4. im Gaststättengewerbe das Verabreichen alkholfreier Getränke von der Bestellung alkoholischer Getränke abhängig zu machen oder bei der Nichtbestellung alkoholischer Getränke die Preise zu erhöhen.

Die Einhaltung dieser Regelungen überprüfen das Ordnungsamt bzw. die Polizei.


4. Welche präventiven Möglichkeiten sieht das Bezirksamt, Missbrauchstendenzen im Umgang mit Suchtmitteln zu begegnen?

a) für den Bereich Gesundheit und Soziales


Grundsätzlich stehen die Möglichkeiten der Verhaltensprävention und der Verhältnisprävention zur Verfügung, um Missbrauch von psychoaktiven Substanzen einzudämmen.

Verhaltensprävention:
Ziel ist es, die Menschen zu einem gesundheitsbewussten Verhalten zu bewegen, das neben gesunder Ernährung und ausreichend Bewegung auch einen zurückhaltenden und bewussten Umgang mit psychoaktiven Substanzen vorsieht. Eine wesentliche Grundlage dafür ist ein Wissens- und Informationstransfer an die Zielgruppe. Diesen sollten in sich ergänzender Art und Weise Eltern, Lehrerinnen und Lehrer, Erzieherinnen und Erzieher sowie Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen im Bezirk sichern.
Verhaltenspräventive Suchtprävention ist dann erfolgreich, wenn alle am Erziehungsprozess Beteiligten ihre suchtpräventive Verantwortung wahr- und ernst nehmen und eine starke Persönlichkeit formen, die willensstark, kommunikativ, kooperativ und konfliktfähig ist.

Verhältnisprävention:
Hier spielen die gesellschaftlichen Verhältnisse eine Rolle, die einen Konsum zulassen oder nicht zulassen. Steuerungsinstrumente sind Gesetze und die Preisgestaltung. Sie sorgen dafür, ob eine psychoaktive Substanz für die Zielgruppe leicht oder schwer verfügbar ist.
In der Vergangenheit hat sich die Kombination aus gesetzlicher Regelung und Preiserhöhung als sehr wirksam bezogen auf den Rückgang des Konsums, z.B. von Zigaretten oder Alkopops, gezeigt.

b) für den Bereich Jugend

 

Suchtprävention als Querschnittsaufgabe in jeder Jugendfreizeiteinrichtung soll junge Menschen befähigen, sich eigenverantwortlich mit suchtgefährdenden Stoffen und Verhaltensweisen auseinander zu setzen. Ziel der Arbeit in den Jugendfreizeiteinrichtungen ist es, dass Kinder und Jugendliche Verantwortung für sich selbst übernehmen, ein starkes Selbstbewusstsein und eine eigene Identität entwickeln, Kritikfähigkeit erlernen, sich mit  eigenen Stärken und Schwächen auseinandersetzen und „Nein“ sagen können.  Insbesondere für die Auseinandersetzung und den Umgang mit suchtgefährdenden Stoffen und Verhaltensweisen wird hierbei in den Jugendfreizeiteinrichtungen auf drei Ebenen agiert:

1.    Von den Mitarbeiter/innen der JFE werden konkrete problematische Verhaltensweisen einzelner Kinder und Jugendlicher mit diesen thematisiert, diskutiert und an einer Veränderung gearbeitet. Ein schnelles Reagieren ist dabei nötig, damit sich Handlungsweisen nicht verfestigen bzw. von anderen aufgenommen werden. Im Bedarfsfall erfolgen weiterführende Gespräche mit Eltern, Lehrern und eine ggf. Weitervermittlung an entsprechende Beratungsstellen.

2.    Es werden je nach Bedarfslage themen- und zielgruppengenaue Projekte und Angebote in den einzelnen Jugendfreizeiteinrichtungen bzw. auch überregional entwickelt und allein oder mit Kooperationspartnern umgesetzt. (z.B. Beteiligung an der Aktionswoche „Alkohol - Verantwortung setzt die Grenze“ im Juni 2007)

3.    In den kommunalen Jugendfreizeiteinrichtungen gibt es klare Regeln und Verhaltensweisen im Umgang mit Alkohol bzw. mit alkoholischen Getränken. So sind z.B. alle JFE bis mindestens 18.00 Uhr alkoholfrei (siehe „Richtlinien für die Jugendarbeit in den kommunalen Jugendfreizeiteinrichtungen des Bezirkes Marzahn-Hellersdorf von Berlin“).


 

Mit diesen angegebenen präventiven Möglichkeiten reagiert das Jugendamt sowohl auf  Einzelfälle als auch auf Tendenzen im Umgang der jungen Menschen mit Suchtmitteln. Schwerpunkt muss es sein, die Kinder und Jugendlichen unabhängig zu machen, ihnen Kenntnisse zu vermitteln, ihnen Vertrauen schenken, ihnen zu helfen, selbstverantwortlich Entscheidungen zu treffen und ihr Leben zu gestalten, anstatt ihre Probleme mit Suchtmitteln zu lösen.

 

5. Welche Ursachen sieht das Bezirksamt für diese Entwicklung, des immer intensiveren Alkoholkonsums durch junge Menschen, vor allem Minderjährige?


a) für den Bereich Gesundheit und Soziales

 

Über die Ursachen des immer intensiveren Alkoholkonsums durch junge Menschen liegen keine gesicherten Erkenntnisse vor.
Ursachen für den Umgang mit psychoaktiven Substanzen im jugendlichen Entwicklungsalter begründen sich mit dieser sehr speziellen Entwicklungsphase.
Junge Menschen sind auf der Suche nach ihrem Platz in dieser Welt. Ein jugendtypisches Verhalten ist es, Grenzen zu testen. Sowohl die eigenen, als auch die ihrer Betreuungspersonen. Dabei spielt auch der Umgang mit legalen und illegalen Suchtmitteln eine große Rolle. Die meisten Jugendlichen probieren diese Suchtmittel und sammeln ihre eigenen Erfahrungen. Die übergroße Mehrheit von ihnen lässt den Konsum dann wieder sein oder pflegt einen gelegentlichen Konsum, der als wenig gesundheitsgefährdend eingeschätzt werden kann. Nur ein äußerst geringer Anteil von Jugendlichen entwickelt tatsächlich ein ausgesprochenes Suchtverhalten! Zur Herausbildung ihrer eigenen Identität haben junge Menschen eine Fülle komplizierter und komplexer Entwicklungsaufgaben zu bewältigen:[1]










Die gegenwärtigen Lebensbedingungen setzen viele Mitglieder unserer Gesellschaft gehörig unter Druck. Alkohol, die unserem Kulturkreis anerkannte Droge, verspricht Entlastung und Entspannung, wird in vielfältigen, meistens schicken, ansprechenden und harmlos erscheinenden Formen auf den Markt gebracht und professionell beworben. Er wird bei vielen gesellschaftlichen Anlässen wie selbstverständlich gereicht und getrunken und erscheint somit als so normal, dass sich fast niemand mehr die Frage stellt, ob es nicht auch ohne Alkohol ginge.
Der vorgelebte Umgang mit Alkohol hat den größten, prägenden Einfluss auf den Umgang mit Alkohol der nachfolgenden Generation.


b) für den Bereich Jugend


Alkohol ist die am weitesten verbreitete Droge weltweit; Alkohol ist kein Jugend- sondern ein gesamtgesellschaftliches Problem und Alkohol ist eine legale Droge.

Junge Menschen probieren besonders während der Pubertät seit Jahrhunderten ihre Grenzen aus. Sie sind neugierig, wollen eigene Erfahrungen sammeln und es den Erwachsnen gleich tun. Das Einstiegsalter für den Alkoholkonsum liegt derzeit bei 11,8 Jahren. Man kann davon ausgehen, dass die meisten jungen Menschen bis zu ihrer Volljährigkeit ihre Erfahrungen mit Alkohol gemacht haben und sie ihre Grenzen kennen.

 

Keine Generation von Kindern und Jugendlichen hatte es bisher so leicht an Drogen zu kommen. Minderjährigen steht heute eine ganze Palette an psychoaktiven Substanzen (legale und illegale) zur Verfügung, die sie sich auf unterschiedlichsten Wegen im unmittelbaren Umfeld versorgen. In der Gesellschaft ist es legitim, Alkohol zu trinken, die Erwachsenen machen es vor. Eine Gruppe biertrinkender Erwachsener vor einer Kaufhalle wird toleriert, bei trinkenden Jugendgruppen erhebt sich derzeit noch Protest. Neu ist gegenüber früher der Mischkonsum von jungen Menschen, das Konsumieren unterschiedlichster Substanzen in zeitnaher Folge mit entsprechenden Wirkungen.

 

Die Problemlagen, denen sich junge Menschen heute ausgesetzt fühlen, sind vielfältig. Sie reichen von schulischen Problemen, Problemen mit Eltern, Lehrern, Freunden, Schwierigkeiten in der Ausbildung und Lehre, Leistungsdruck bis hin zu Problemen mit der eigenen Persönlichkeit oder im Umgang mit Geld. Jugendliche fühlen sich ständig im Stress, nicht anerkannt und den Anforderungen nicht gewachsen. Sie meinen, keine Zukunftsperspektiven zu haben und lösen Probleme oft mit Alkohol. Aufgabe der Prävention ist es hier, mit diesen jungen Menschen anderweitige Formen der Konfliktlösung zu erlernen, ihnen Selbstbewusstsein zu geben und individuelle Strategien zur Problembewältigung zu erarbeiten.

 

In der Gruppe ist es schwer für junge Menschen, sich gegen Drogen, Alkohol und Rauchen zu entscheiden. Wer „Nein“ sagt, gilt schnell als Außenseiter. Trinken ist gesellschaftlich anerkannt und gilt als cool. Auch hier muss er Versuch unternommen werden, gruppendynamische Prozesse zu beeinflussen und durch präventive Angebote andere interessante Schwerpunkte in der Freizeitgestaltung anzubieten.

 

Die „Flatrate-Parties“ erfreut sich unter Jugendlichen einer großen Beliebtheit. Leider unterstützen viele Gaststätten und Discotheken diesen Trend, indem sie mit Pauschalpreisen zu unbegrenzten Alkoholkonsum einladen. Kontrollen (besonders Alterskontrollen) finden hier in ungenügendem Umfang statt. Auch ist schwer vorstellbar, wie das Gaststättenpersonal die Menge des Alkoholkonsums bei den jungen Menschen einschätzt. Eine sehr aggressive Alkoholwerbung der Wirtschaft fördert das Interesse der jungen Menschen am Alkohol, es verharmlost die Wirkung des Alkohols, es wird sehr ansprechend dargestellt (Alkopops) und suggeriert, dass kein Spaß ohne Alkohol möglich ist.

(Die AG Prävention des Suchtverbundes Marzahn-Hellersdorf arbeitet derzeit an einem Konzept zu alkoholfreien Veranstaltungen.)

 

Viele Vorfälle in Verbindung mit einer Überdosis an Alkohol spielten sich jedoch auch in der letzten Zeit im privaten Raum ab. Hier spielen die familiären Strukturen, Vertrauen, Grenzen und Kontrolle eine wichtige Rolle. Eltern sind oft wenig informiert über das Freizeitverhalten ihrer Kinder; auch desinteressiert, deren Verhalten und Konsum gegenüber.

 

Jungen konsumieren Alkohol häufiger und intensiverer als Mädchen. Für Jungen gehört es zu einer vermeintlich männlichen Identitätsfindung, mit viel Trinken und Rauchen männliche Stärke und Dominanz zu zeigen. In den letzten Jahren nähern sich die Verhaltensweisen der  Mädchen den der Jungen an.

 



Dagmar Pohle

 



[1] aus: AG IPSE (Hg.): Thematische Elterninformation Nr. 12 „Sucht?“, Berlin 2005
   (die AG IPSE ist eine Arbeitsgruppe der GesundheitswerkSTADT Marzahn-Hellersdorf)

 
 

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