Valentina Mazzola berichtet aus Oslo

Valentina Mazzola mit einem Geschenk eines Kollegen

Von Neu-Hohenschönhausen nach Oslo

Mein Name ist Valentina Mazzola. In Berlin arbeite ich seit Oktober 2017 als Bibliothekarin in der Anna-Seghers-Bibliothek in Neu-Hohenschönhausen.

Ich habe das Glück, einige Zeit im Rahmen des Programms „LoGo Europe“ in Oslo zu verbringen. In Oslo befindet sich eine der Bibliotheken, worüber in den letzten zwei Jahren von den Fachleuten viel Positives berichtet wurde: die BibloTøyen.

Am ersten Arbeitstag, der gemütlich um 11 Uhr anfängt, wartet Christian auf mich, mein Ansprechpartner hier, mit einem Lächeln und einer Tasse Kaffee auf norwegische Art: schwarz und ohne Milch.

Eingangsbereich der Biblo Tøyen Grenze für Schuhe und Erwachsene

Ich fühle mich sofort zu Hause. Christian führt mich durch die Bibliothek und erklärt mir, dass die BibloTøyen eine Ausnahme unter den 23 öffentlichen Bibliotheken der Hauptstadt Norwegens ist. Hier dürfen keine Erwachsen rein, außer die, die hier arbeiten. Die Bibliothek ist ausschließlich für Jugendliche zwischen 10 und 15 Jahren gedacht. Das wird direkt beim Eintreten von einer Linie auf dem Boden angedeutet „Grenze für Schuhe und Erwachsene“. Als Bibliothekarin bin ich auch eine Ausnahme: Hier arbeiten sonst nur Künstler. Christian ist Bühnenbildner, die andere Kolleg*innen sind Tänzer, Musiker, Theaterpädagoginnen.

Biblo Tøyen beim Besuch einer Schulklasse

Weil die Bibliothek erst um 14 Uhr aufmacht, habe ich genug Zeit, um die andere Kolleg*innen in Ruhe kennenzulernen. Dann fängt die „richtige“ Arbeit an: Eine Besprechungsrunde im kleinem Kreis, auf der, beim Essen und Kaffee trinken, das wöchentliche Programm durchgesprochen wird. So bekomme ich ziemlich schnell eine Idee davon, was mich erwartet: Consol Gaming, Zubereiten von arabischen Gerichten, Suche nach archäologischen Schätzen in einem Sarkophag, Nähworkshop, Tanzstunde und Biblobeets. Die zweistündige Besprechung ist aber auch dazu da, um sich auszutauschen und für eventuelle Probleme gemeinsame Lösungen zu finden. Ich bin positiv beeindruckt, wie angenehm die Stimmung ist. Die Zusammenarbeit im Team scheint sehr gut zu funktionieren. Es wird hauptsächlich auf Norwegisch gesprochen und teilweise ins Englische übersetzt, damit ich die wichtigsten Aspekte nicht verpasse. Trotz der Bemühungen meiner Kolleg*innen habe ich, nach fast zwei Stunden Norwegisch, Kopfschmerzen. Aber das kenne ich ja: Vor sieben Jahren bin ich von Italien nach Deutschland gezogen und befand mich in einer ähnlichen Situation. Nichtsdestotrotz bin ich sehr dankbar dafür, mich daran erinnern zu können, wie ermüdend es sein kann, für mehrere Stunden einer Sprache zu zuhören, die man nicht versteht. So kann ich noch mehr die Bemühungen der vielen Bibliotheksnutzer in Berlin wertschätzen, die die schöne aber schwierige deutsche Sprache lernen.

Diese erste Woche darf ich in der Bibliothek alles ausprobieren und die Projekte unterstützen, die ich möchte. Ich probiere alles aus, was ich kann, inklusive eines Slime-Kurses und der Tanzstunde. Ich nutze die Zeit, um die Kinder kennenzulernen. Viele kommen jeden Tag und bald wissen sie, dass sie mich auf Englisch ansprechen müssen. Das ist für die meisten kein Problem.

Oslo, Ausblick vom Astrup Fearnley Museet

Das Wochenende verbringe ich zwischen Kultur und Natur. Das Astrup Fearnley Museet (Galerie für zeitgenössische Kunst) mit direktem Blick auf das Meer bietet im Moment eine Ausstellung des in London ansässigen Künstlerpaars, Gilbert & George. Allein um das Gebäude des italienischen Architekten Renzo Piano zu betrachten, lohnt sich der Besuch. Obwohl viele Touristen auf der Straße sind, ist die Atmosphäre sehr ruhig. Die angenehme, entspannte Stille in Oslo ist bis jetzt für mich das größte Kontrastelement zu Berlin. Samstagabend gönne ich mir einen Besuch im Opernhaus und genieße das Ballett „Anna Karenina“. Perfekter Ausklang einer ersten, eindrucksvollen Woche in Oslo.

Die Küche der Biblo Tøyen

„Día de los muertos“ in der Biblo Tøyen

Die zweite Arbeitswoche fängt mit einer lebendigen vierstündigen Besprechung an. So wie am vergangenen Montag wird u.a. das Programm der Woche besprochen und die Aufgaben an die Mitarbeiter verteilt. Jetzt bin ich 100% Teil des Teams und bekomme konkrete Aufgaben. Hauptthema diese Woche ist das Feiern des “Día de los muertos” (Tag der Toten), die mexikanische Art den 1. und 2. November zu feiern. Die Küche, die aus einem umgebauten Volvo Lastwagen besteht und von den Kindern geliebt wird, soll wie ein mexikanischer Altar aussehen. “Die Ausschmückung der Küche überlasse ich dir”, sagt mir mein Tutor.

Bastel-Workshop

In Mexiko erinnert man sich der geliebten Verstorbenen an diesen beiden Tagen mit und feiert. Meine Kolleg*innen möchten den Kindern diese Tradition nahebringen.
Nach einer schnellen Bildersuche im Internet wird mir klar, dass das eine riesige Bastel-Aktion sein wird. Die mexikanischen Altare sind eine einzige Blumenpracht! Ich entscheide mich, so viele Kinder wie möglich in die Bastel-Aktion einzubeziehen. All das Material, das in der Bibliothek ist, darf ich dafür benutzen und wenn ich noch etwas brauche, kaufen meine Kolleg*innen für mich ein. Jeden Tag kommen immer mehrere Kinder zu meinen Bastel-Workshops. Wir basteln Blumen, “Papel picados” und Zuckerschädel zusammen. Die Kinder bringen mir norwegische Sätze bei und freuen sich über meine Fortschritte. Am Ende der Woche ist unsere Küche sehr, sehr bunt.

Valentina Mazzola in der Bibliothek

Neben des “Día de los muertos”-Projekts laufen jeden Tag viele weitere Veranstaltungen und Workshops. An einem Tag gehe ich mit den Kolleg*innen in ein Kino: Wir holen Reproduktionen von ägyptischen Statuen ab, womit wir die Räumlichkeiten für Schulveranstaltungen zum Thema Archäologie und Pyramiden einrichten. Nebenbei versuche ich Nähmaschinen zu bedienen, womit die Kinder ihre Kostüme für Halloween selber nähen.

Erschöpft aber glücklich genieße ich am Wochenende die Landschaft der westlichen Küste Norwegens. Ich besuche Bekannte in Stavanger. Auch dort darf ein Besuch der Stadtbibliothek nicht fehlen.

Ausblick aus dem Zug nach Stavanger

Was mich immer wieder bei den vielen Besprechungen in der Biblo Tøyen berührt, ist das Engagement meiner Kolleg*innen: Sie setzen sich voller Leidenschaft für das Glück der Kinder ein. Nie habe ich das Gefühl, dass es um die Äußerlichkeit der Bibliothek geht. Die Fragen sind: Was würde die Kinder glücklich machen und sie beim Entfalten ihres Potenzials unterstützen? Wie können wir unsere Teamarbeit und die Atmosphäre in der Bibliothek verbessern?
Immer wieder muss ich an einen Satz denken, den ein Kollege bei einer Bibliotheksführung einer Gruppe aus Finnland mit auf den Weg gegeben hatte: “Wir möchten den Kindern in Tøyen einen Grund geben, Stolz auf ihren Kiez zu sein”. Diese Einstellung möchte ich mit nach Berlin nehmen.

Valentina Mazzola in der Biblo Tøyen

Es geht nicht nur um Bücher

Im Vergleich zu der vorherigen Woche ist diese viel ruhiger in der Biblo Tøyen. Die Veranstaltungen finden fast ausschließlich während der Öffnungszeit statt, so dass es mehr Zeit für den Austausch mit den Kollegen gibt und um zukünftige Projekte, wie einen Escape Room, zu planen.
Nach dieser dritten Woche weiß ich, dass die Biblo Tøyen nicht die einzige schöne öffentliche Bibliothek in Oslo ist. Zum Bibliotheksverbund Deichman gehören 23 Bibliotheken. Dank der Leiterin der Biblo Tøyen darf ich drei weitere Bibliotheken besuchen und teilweise an Veranstaltungen aktiv teilnehmen.

Bibliothek Deichman Tøyen

Als erstes gehe ich auf eine Buchvorstellung in der Deichman Tøyen. Es ist 12 Uhr und die Bibliothek ist gut besucht. Die Veranstaltung findet inmitten des Lesesaals statt. Der Raum wird einfach durch das Abhängen mit Vorhängen geschaffen und ist innerhalb weniger Minuten bereit. Neben an, auf der anderen Seite der Vorhänge, arbeiten die Bibliotheksnutzer weiter. Mir gefällt
diese Flexibilität.

Kinder- und Jugendbibliothek Deichman Grünerløkka

Am Mittwoch habe ich einen Termin mit dem Leiter der Bibliothek im hippen Viertel Grünerløkka. Die Bibliothek wurde im März dieses Jahres nach einer Renovierung geöffnet. Von außen sieht das Gebäude einfach alt aus, wenn auch in gutem Zustand. Wenn man aber die Kinder- und Jugendbibliothek betritt, fühlt man sich wie in einem Märchen. Der Raum ist mit gemütlichen Sitzecken, riesigen Kissen und bunten Tischen aus Holz eingerichtet. An einer Seite ist eine kleine Bühne mit einer Decke aus Pflanzen. Ich kann wirklich verstehen, warum so viele Nutzer hier sind. Es ist einfach schön.
Meine Vorstellung von dem Termin mit dem Bibliotheksleiter war komplett falsch. Ich dachte, er wird mich durch das Gebäude führen und meine Fragen beantworten. Stattdessen werde ich in eine Küche gebracht, in der einige Kinder und zwei junge Frauen Kartoffeln schälen. „Schön, dass du da bist! Wir brauchen deine Hilfe. Wir bereiten eine Kartoffelsuppe vor.” So befinde ich mich im Zentrum von Oslo, in einer der schönsten Bibliotheken, die ich je gesehen habe und halte einen Kartoffelschäler in der Hand. Verwirrend aber auch sehr lustig. Ich entscheide mich dazu, meine Verwirrung beiseite zu lassen und mache einfach mit. Nach einer Stunde schälen, kochen und quatschen, und nachdem wir es versucht haben, Gemüse aus dem Garten der Bibliothek zu ernten, sitze ich am Tisch mit zehn Kindern und esse eine biologische Kartoffelsuppe. Ich esse eine frisch gekochte Suppe in einer Bibliothek, zwischen einer Küche und einer Bühne, die gleich für das Abendkonzert vorbereitet wird.
Hinter dem food Workshop steht mehr als gemeinsames Kochen. Die Dame, die den Workshop leitet, ist die Gründerin einer Bewegung, die sich seit zehn Jahren für die Verbreitung einer nachhaltigen und verantwortungsvollen Ernährung einsetzt. Auch der Besuch in der Bibliothek Deichman Furuset ist nicht weniger überraschend. Dort findet heute ein Festival mit Musik, Kunst und Essen statt. Als ich ankomme, tanzen Kinder und Erwachsene in mitten des Lesesaals, wo eine Band traditionelle Musik aus dem Nahen Osten spielt. Nebenbei spielen Jugendliche mit dem Handy und auf der anderen Seite sitzen Leute am PC und arbeiten. Wenn man Ruhe haben will, kann man in einen Silent Room gehen.
Der Kollege dort erklärt mir, wenn man in den Zeitungen etwas über diesen Bezirk findet, sind es meistens Berichte über Kriminalität. Er freut sich diese friedvolle Stimmung zu sehen. Er freut sich darüber, dass die Bibliothek ein Ort für alle ist. Morgen wird hoffentlich über etwas anderes als Kriminalfälle berichtet.

Party in der Bibliothek Deichman Grünerløkka

Am Freitagabend überzeuge ich eine Freundin, mit auf eine Party zu kommen. Es ist eine große, von Jugendlichen organisierte Party und findet in der Bibliothek statt. Dieselbe Bibliothek in der ich einige Tage zuvor Kartoffeln geschält habe. Die Kinder- und Jugendbibliothek ist zum Backstage für die Künstler geworden, die Küche ist hinter einem Vorhang verschwunden und der Rest ist eine große Tanzfläche. Der Bibliotheksleiter steht am Audio Mixer. Meine Freundin ist überrascht, ich nicht mehr. Ja, es geht nicht nur um Bücher.

Deichman Stovner

Die letzte Woche meines Aufenthalts

Die übliche Montags-Teambesprechung eröffne ich mit einer ausführlichen Vorstellung der Anna-Seghers-Bibliothek und des Verbundes Öffentlicher Bibliotheken Berlins. Dafür bin ich in Kontakt mit einigen Kollegen in Berlin und lasse mir Fotos der Veranstaltungen der letzten Wochen sowie des neuen Makerspaces schicken.
Nachdem ich den Mitarbeitern der Biblo Tøyen alle möglichen Fragen gestellt habe, dürfen sie auch welche stellen.
Danach fahre ich schnell Richtung Stovner. Dort habe ich einen Termin mit einem Mitarbeiter der Bibliothek. Ich habe vielversprechende Berichte über die Deichman Stovner und ihre Mitarbeiter gehört und bin aufgeregt. Die Bibliothek befindet sich in einem Einkaufscenter. Keine Wände trennen das Center von dem Eingang zum Lesesaal. Die Arbeitsplätze sind alle besetzt. Überall verteilt sitzen Gruppen von Jugendlichen. Die Innenarchitektur ähnelt der von Biblo Tøyen. Später erfahre ich, dass der selbe Architekt tatsächlich beide Orte eingerichtet hat.
Jens widmet unserem Gespräch eineinhalb Stunden seiner schon vollen Agenda. Er erzählt mit Leidenschaft von seinem Alltag in der Bibliothek. Jens ist eigentlich ein Schauspieler und Theaterregisseur. Hier ist er für die Veranstaltungen für kleine Kinder zuständig. Ich kann mir schon sehr gut vorstellen, wie er durch seine Stimme und sein Temperament die Kinder beim Vorlesen begeistern kann. Eine Kollegin von ihm ist Sozialarbeiterin und hat als Schwerpunkt die Arbeit mit Jugendlichen. Wichtig in ihrer Arbeit ist die Zeit, die sie sich nimmt, um die Jugendlichen persönlich kennenzulernen. Jens denkt, dass das Team einer öffentlichen Bibliothek eine Person braucht, die Ansprechpartner*in für die Jugendlichen sein kann. Es sollte eine Person sein, die das gerne macht.

Stormen library in Bodø

So wie Christian, der jetzige Leiter der Bibliothek in Furuset. Ich treffe ihn einen Tag später in seinem Büro. Nach dem Gespräch mit Jens bin ich so inspiriert, dass ich mich frage, wie ich meine Begeisterung und den Inhalt unserer Gespräche mit nach Berlin nehmen und an meine Kollegen weitergeben kann. Ich entscheide mich dafür, die Kollegen bei unseren Gesprächen zu filmen. Es ist Montag. Ich habe nur noch ein paar Tage zur Verfügung. Die letzte intensive Herausforderung bevor ich zurückfliege. Christian ist einer der ersten, den ich filme. Innerhalb von vier Tagen drehe ich sieben Videointerviews.

Stormen library in Bodø

Das letzte findet in der Bodø Public Library statt. Bodø liegt ca. 860 Kilometer nördlich von Oslo und ihre Bibliothek trägt die Auszeichnung “Bibliothek des Jahres 2018”. Davon erfahre ich am Mittwoch von einem Kollegen in Oslo. Nachdem ich einige Bildern im Internet gesehen habe, denke ich, dass es sich lohnt, die Reise auf mich zu nehmen. Wer schon in Nord-Norwegen war, weiß wie bezaubernd die Landschaft ist. Für mich ist es das erste Mal und ich bin sprachlos. Das Gebäude der Bibliothek hat eine Glasfassade, so dass man beim Besuch der Innenräume nichts von der Aussicht auf den Fjord verpasst.
Im Vergleich zu den Bibliotheken in Oslo ist diese hier sehr still. Ich bin fast nicht mehr daran gewöhnt. Da ich erst an dem Tag vorher entschieden habe hinzufahren, habe ich keinen Termin für das Interview. Trotzdem finde ich einen netten Bibliothekar, der sich bereit erklärt. Bjorn (?) hat Theaterwissenschaften studiert und arbeitet hier erst seit August. Neben seiner Teilzeitstelle nimmt er an Weiterbildungen teil, um “ein echter Bibliothekar zu werden”. Als ich die übliche Frage stelle: “Findest du, dass öffentliche Bibliotheken einen direkten Einfluss auf die Menschen haben, die in der Nachbarschaft wohnen?” antwortet er, fast irritiert: “It is not just my opinion: they definitely do!”.

Zwei Tage später ist mein Abenteuer in Norwegen zu Ende. Ich kann wirklich nicht sagen, dass ich die Zeit nicht genutzt habe. Ich habe viele nette und kompetente Menschen kennengelernt und außerdem eine große Menge an Ideen gesammelt, die ich meinen Kolleg*innen in Berlin weitergeben werde. Ich spüre tiefe Freude, diesen wertvollen Beruf gewählt zu haben.