Das Dokumentationszentrum “Topographie des Terrors” in Berlin bietet 2023 in Präsenz vier rechtshistorische Tagesseminare für Rechtsreferendare* und Menschen in juristischen Berufen an. Dazu sind auch Teilnehmer* aus anderen Bundesländern herzlich eingeladen.
Seminar 1: Die nationalsozialistische Ermordung von Patientinnen und Patienten in Heil- und Pflegeanstalten (“Euthanasie”) und die Rolle der Justiz
Mit seinem Befehl vom 1. September 1939 an Philipp Bouhler, den Chef seiner persönlichen Kanzlei, setzte Hitler die Ermordung von Patientinnen und Patienten in Heil- und Pflegeanstalten in Gang. Zunächst hielt die verantwortliche Organisationszentrale T4 die Morde vor der Justiz geheim. Erst nach Protesten durch den Vormundschaftsrichter Lothar Kreyssig und hohe Vertreter der Kirche wurden die Tötungen vorübergehend verlangsamt. In einer Konferenz am 23./24. April 1941 machte der kommissarische Justizminister Franz Schlegelberger gegenüber 90 hochrangigen Juristen die Vorgabe, etwaige Anfragen und Anzeigen von Angehörigen nicht zu bearbeiten. Der Justizapparat wurde zum Komplizen des Massenmords. Nach 1945 versuchte der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, einige der Juristen vor Gericht zu bringen, starb aber, bevor es zu einem Prozess kam.
Termin: Freitag, 28. April 2023, 10 bis 16 Uhr
Seminar 2: Staatsanwaltschaft und Politische Justiz im Nationalsozialismus
Die Staatsanwaltschaft beim Landgericht war in der NS-Zeit die wichtigste Ermittlungsbehörde der politischen Justiz. Die Staatsanwälte entschieden, bei welchem Gericht – Volksgerichtshof, Sondergericht, Kammergericht – Anklage erhoben wurde und stellten mit ihren Anklageschriften die Weichen für Todesurteil, Zuchthaus oder Freispruch. Anhand von ausgewählten Dokumenten untersuchen wir die Verfolgung von Kommunisten*, ausländischen Zwangsarbeitern* und Deutschen* und die Zusammenarbeit der Ermittler mit Gestapo und Kriminalpolizei. Wir analysieren die wichtigsten Strafvorschriften und blicken auf Protokolle von Dienstbesprechungen der Berliner Staatsanwälte. Ein politisch Verfolgter berichtet im Audio-Dokument über seine Haft im Gestapo-Hausgefängnis in der Prinz-Albrecht-Straße (heute „Topographie des Terrors“).
Termin: Freitag, 29. September 2023, 10 bis 16 Uhr
Seminar 3: Strafverteidigung, Gestapo und politische Justiz in der NS-Zeit
Im NS-System war der justizförmige Verfolgungsapparat integraler Bestandteil der Herrschaft. Nach der ersten Welle des Terrors und frühen Berufsverboten flohen viele Anwälte* oder mussten sich einen anderen Beruf suchen. Bei denen, die weiter arbeiten konnten, gab es unterschiedliche Reaktionen, von der Anpassung bis hin zur Arbeit in Widerstandsgruppen. Interessant ist die Frage, welche Handlungsspielräume Rechtsanwälte* bei ihrer Berufsausübung vor Gericht hatten: Wie arbeitete man als Rechtsbeistand in einer weitgehend willfährigen Justiz? Welchen Repressalien waren die Strafverteidiger* ausgesetzt? Welche Funktion hatte die gerichtsförmige Verfolgung für das NS-Regime? Das Seminar richtet sich insbesondere an Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte, die mehr über die Geschichte ihres Berufs erfahren wollen.
Termin: Freitag, 3. November 2023, 10 bis 16 Uhr
Seminar 4: Prozessuale Fragen der Nürnberger Prozesse
Nach dem Ende des Internationalen Militärtribunals (IMT) fanden in Nürnberg zwischen 1946 und 1949 zwölf weitere Prozesse vor US-Militärgerichtshöfen gegen mehr als 200 Angeklagte statt. Dazu gehörte auch der Juristenprozess (Fall 3). Grundlage war eine Prozessordnung, die die nach Nürnberg abgeordneten US-amerikanischen Richter selbst formuliert hatten. Sie basierte auf dem Gesetz Nr. 10 des Alliierten Kontrollrats (KRG 10). Wir lernen die Entstehungsgeschichte dieses Regelwerks kennen und überprüfen, welche Verfahrensgarantien für die Angeklagten und Handlungsspielräume für die Verteidiger darin enthalten waren. Am Ende werfen wir einen Blick auf das Statut des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC) in Den Haag. Die Dokumente liegen zum Teil nur auf Englisch vor.
Termin: Freitag, 10. November 2023, 10 bis 16 Uhr
Veranstaltungsort ist die Topographie des Terrors, Niederkirchnerstraße 8, 10963 Berlin
Leiter der Seminare ist Ralf Oberndörfer. Er ist freiberuflicher Rechtshistoriker und Volljurist. Seit vielen Jahren arbeitet er zu Nationalsozialismus, zur Verfolgung von NS-Verbrechen nach 1945 und zu Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. Zu jedem Seminar gehört ein geführter Rundgang durch die ständige Ausstellung der „Topographie des Terrors“. Pro Seminar gibt es 20 Plätze. Die Teilnahme ist kostenlos. Anmeldung unter ralf.oberndoerfer@histox.de, für Referendare* auch über das jeweilige Oberlandesgericht.