1999 wurde Sanem Kleff in den Vorstand von Aktion Courage e. V., dem Trägerverein der Bundeskoordination des Netzwerks „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“ gewählt. Ihre Arbeit hat das Projekt zu einem der größten und effektivsten schulischen Präventionsnetzwerken gegen Ungleichwertigkeitsdenken in Europa gemacht und die deutsche Schullandschaft und Demokratieentwicklung nachhaltig geprägt. Wir haben mit ihr über ihre jahrelangen Erfahrungen im Engagement gegen Rassismus an Schulen gesprochen.
Frau Kleff, seit 25 Jahren leiten Sie Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage. Wie haben sich die Bedeutung, der Einfluss und die Wirkung des Netzwerks in den letzten 25 Jahren verändert?
Ein Blick zurück in das Jahr 2000 macht vor allem zwei Veränderungen deutlich. Erstens wurde das gesellschaftliche Phänomen Rassismus im schulischen Kontext damals höchstens in Fachkreisen thematisiert. Mit dem Schild „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“ zeigten Schulen erstmals öffentlich, dass sie Rassismus als relevantes Thema anerkennen und zu ihrem machen. Zweitens gab es damals weder auf Bundesebene noch im Land Berlin nennenswerte Zuwendungen für Demokratieförderprojekte. Den Schulen fehlten nicht nur Honorarmittel für externe Unterstützung, es gab auch wenige Projektträger aus der Zivilgesellschaft, die ihnen Workshops, Fortbildungen oder Materialien hätten anbieten können. Heute gibt es ein Berliner Landesprogramm gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus – und 160 Berliner Schulen gehören dem Netzwerk Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage an.
Sind Rassismus und Antisemitismus als gesellschaftliche Phänomene an bestimmte Ereignisse oder Zustände gekoppelt?
Rassismus, Antisemitismus und andere Ungleichheitsideologien wie Homophobie haben tiefe Wurzeln in der Geschichte und sind zu jeder Zeit aktivierbare, potenzielle Gefahren. Spitzen sich die Unzufriedenheit und die Spaltung der Gesellschaft zu, sind immer mehr Menschen verunsichert. Wer ein geringes Selbstwertgefühl hat, der sucht schnell vermeintliche Lösungen in menschenfeindlichen Haltungen. Dem können wir entgegenwirken, indem wir die Problemlösungskompetenzen, Empathie und Resilienz insbesondere der Kinder und Jugendlichen stärken. Dazu trägt unser Netzwerk mit seinen bundesweit fast 400, in Berlin mehr als 70 außerschulischen Kooperationspartnern, schulinternen Aktionen und landesweiten Veranstaltungen bei.
Wie hat der 7. Oktober 2023 Ihre Arbeit verändert?
Die Auswirkungen des Überfalls der Hamas auf Israel und die folgenden Angriffe des israelischen Militärs auf den Gazastreifen waren in den Schulen unterschiedlich. Zu den Themen Antisemitismus und Muslimfeindlichkeit arbeiten wir schon seit Jahren an Schulen – nun nahmen beide, wenn auch in unterschiedlichen Ausprägungen, zeitgleich zu. Manche Lehrkräfte sahen sich nicht in der Lage, das Thema Naher Osten und die aktuelle Lage in der Klasse zu besprechen. Sie waren nicht handlungssicher, wie sie mit den inhaltlichen und emotionalen Anliegen der Schülerinnen und Schüler umgehen sollten. Dabei ist es gerade in spannungsgeladenen Situationen wichtig, den Austausch mit Kindern und Jugendlichen nicht abbrechen zu lassen. Die Berliner Landeskoordination bot deshalb bereits wenige Tage nach dem 7. Oktober 2023 mehrere Online-Fachaustausche für Pädagog/-innen an. Diese digitalen Runden boten eine erste Möglichkeit, sich über Fragen auszutauschen, Wissen zu vermitteln und
nicht zuletzt Kontakte zu Projektträgern herzustellen, die Angebote für Schülerinnen und Schüler haben. Unser erster Fachtag zum „Umgang mit Antisemitismus und Muslimfeindlichkeit nach dem 7. Oktober“ machte zudem deutlich, dass Austausch, Information und die gegenseitige Motivation Pädagog/-innen helfen, sich externe fachliche Begleitung zu holen, statt komplexe und emotionsbeladene Themen unter den Tisch zu kehren.
Was motiviert Sie persönlich, sich für und mit den Schulen jeden Tag aufs Neue gegen diese scheinbar unbesiegbaren Phänomene des Menschenhasses zu engagieren?
Ich bin vom § 1 unseres Grundgesetzes überzeugt: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Alle Menschen sind gleichwertig. Daher bin ich nicht gewillt, Diskriminierungen hinzunehmen. Bundesweit haben sich bald 4.700 Schulen in unserem Netzwerk dazu verpflichtet, Mobbing und Diskriminierung nicht hinzunehmen, nicht wegzuschauen. Das macht mir Mut.
Damit hat „Schule ohne Rassismus“ eine beeindruckende Reichweite erreicht. Was macht dieses Netzwerk so erfolgreich und nachhaltig?
Ich freue mich, dass immer mehr Schulen dem Netzwerk beigetreten sind – allerdings ist unser Blick nicht allein auf die Mitgliederzahl gerichtet. Vornehmlich geht es darum, den Spirit des Netzwerks dauerhaft an der Schule, im Schulprofil und in den Strukturen zu verankern. Es geht darum, eine Kultur der Verantwortung zu leben. Daher ist es zu kurz gegriffen, wenn wir nur über die fast 4.700 Courage-Schulen sprechen, aber nicht auch über die 16 Landes- und 120 Regionalkoordinationen, die gemeinsam mit den außerschulischen Partnern das Netzwerk bilden.
„Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“ formuliert die Ziele des Netzwerks. Eine Schule mit Courage scheint allerdings einfacher zu verwirklichen zu sein als eine Schule ohne Rassismus. Ist dieses Ziel nicht auch ein Stück weit eine Utopie?
Der Name steht tatsächlich für eine Utopie, die es in der Realität nicht gibt. Das Schild an der Schule ist kein TÜV-Siegel und kein Garantielabel dafür, dass es dort keinen Rassismus gäbe. Es ist vielmehr ein sichtbares Zeichen, dass die Schulen sich konkret darüber abgestimmt haben, bei Diskriminierung und Gewalt nicht wegzuschauen, sondern diese ansprechen und gemeinsam eine diskriminierungskritische Schulkultur aufbauen zu wollen. Das entspricht unseren Schulgesetzen und ist ein durchaus realistisches Ziel.