Entlang der historischen, nordwestlich aus dem Zentrum Berlins führenden Müllerstraße wuchsen nach Bebauungsplänen von Stadtbaurat James Hobrecht ab 1860 regelmäßige Wohnquartiere für die zahlreichen zuwandernden Arbeiter der rasant sich entwickelnden Metropole empor. Hier erhebt sich in der westlichen Häuserflucht mächtig und selbstbewusst die romanisch anmutende Doppelturmfassade der katholischen St. Josephs-Kirche. Während die klar und kräftig gegliederte Natursteinfassade durch ihre Lage gegenüber einem Dreiecksplatz, dem heutigen Max-Joseph-Metzger-Platz, den Straßenraum dominiert und das Stadtbild weithin prägt, sind der Kirchraum und angegliederte Gemeindebauten in die Tiefe der Parzelle errichtet und ebenso von der Willdenowstraße aus erreichbar.
Die 1907-09 nach Plänen von Wilhelm Rincklake und Wilhelm Frydag errichtete Kirche wurde dem heiligen Joseph als Patron der Arbeiter gewidmet. Rincklake trat 1896 in das Benediktinerkloster Maria Laach in der Eifel ein, das erst 1892 von Mönchen aus dem Kloster Beuron revitalisiert worden war. Sie verbreiteten die Kunst der Beuroner Schule, der sich auch Rincklake, nun Pater Ludgerus, als beratender und planender Architekt verpflichtet fühlte.
So entstand im Wedding eine dreischiffige Basilika, die mit Rundbögen, Säulen, Kapitellen und kräftigen Gesimsen, mit annähernd quadratischem Grundriss der Gewölbejoche oder mit dem Wechsel von Säule und Pfeiler an die romanische Kirchbaukunst des 12. Jahrhunderts im Rheinland anknüpft. Die eigenständige subtile Transformation historischer Gestaltungs- und Stilemente durch die Beuroner Kunstschule wird an der reichen Innenraumgestaltung noch deutlicher, die aus finanziellen Gründen erst ab 1921 zur Ausführung kam. Aus der flächendeckenden Dekoration mit ihren ornamentalen und figürlichen Bereichen, den differenzierten Materialien und Oberflächen ragt das kostbar in Gold gestaltete Mosaik der Apsiskuppel mit dem triumphierenden, von stilisierten Rankenrosetten umgebenen Kreuz heraus. Es ist eine Nachbildung des Kunstwerks aus der Oberkirche von San Clemente in Rom (1127), die es ebenso seit 1898 in der Gnadenkapelle im Kloster Beuron gab. Das Herzstück der
figürlichen Bildwerke bildet der als Fresko an die Wände der Seitenschiffe gemalte Zyklus mit Darstellung des Kreuzweges (signiert: B. Scherer), eine freie Nachschöpfung der im Krieg zerstörten Kreuzwegdarstellung in der Marienkirche in Stuttgart (gezeichnet von Jakob Wüger, 1829-1892).
In den hundert Jahren seines Bestehens ist das Gotteshaus durch Kriegsschäden, Reparaturen und Umgestaltungen verändert worden. Während Krieg und Modernisierungsbestrebungen anderswo zur Vernichtung der Beuroner Kunst führte, ist mit der St. Josephs-Kirche im Wedding ein fast vollständig überliefertes Gesamtkunstwerk bewahrt, dessen Wertschätzung durch die Verluste, aber auch durch ein gewachsenes Verständnis und geändertes Selbstverständnis der Kirchengemeinde gestiegen ist. Mit großem fachlichen, handwerklichen und finanziellen Engagement widmet sich die Gemeinde seit mehreren Jahren dieser Verantwortung und bringt die unter jüngeren Anstrichen verborgene originale Ausstattung wieder in den Kontext der bauzeitlichen Raumwirkung. Die Änderungsgeschichte mit ihren Brüchen ist derzeit in der jüngst freigelegten, fragmentierten Chorapsis auf eindrückliche Weise erfahrbar. Behutsam wird nun ein Konzept zur ihrer Wiederherstellung entwickelt, das sowohl der
ursprünglichen künstlerischen und theologischen Bedeutung als auch der historischen Dokumentation gerecht wird.
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Stand: 2009