Rede der Bundesministerin der Justiz, Brigitte Zypries MdB, anlässlich der Übergabe der Ausstellung an das Land Berlin am 16. Juni 2008
Liebe Frau Kollegin von der Aue,
Herr Präsident des Oberverwaltungsgerichts,
liebe Kollegen Abgeordnete,
verehrte Frau Hecht-Studniczka,
sehr geehrte Damen und Herren!
Heute geht eine Wanderschaft zu Ende. Eine Wanderschaft, die fast zwei Jahrzehnte gedauert hat und die in der Stadt endet, in der sie begonnen hat. „Im Namen des Deutschen Volkes – Justiz und Nationalsozialismus“, so heißt die Ausstellung des Bundesjustizministeriums, die 1989 zum ersten Mal in der Staatsbibliothek an der Potsdamer Straße gezeigt worden ist. Seither ist diese Dokumentation durch alle Bundesländer gewandert. In 43 Städten war sie zu sehen, meistens in Gerichten und Justizgebäuden. Jetzt übergibt der Bund diese Ausstellung dem Land Berlin, und sie soll hier im Oberverwaltungsgericht ihren dauerhaften Platz finden.
Meine Damen und Herren, diese Dokumentation erinnert an das Versagen der deutschen Justiz. In den Jahren von 1933 bis 1945, aber auch danach. Die Ausstellung zeigt: Das Bekenntnis zum Nationalsozialismus musste 1933 großen Teilen der Justizjuristen nicht aufgezwungen werden – im Gegenteil. Nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler begann bei vielen Richtern, Staatsanwälten und Ministerialbeamten eine Art Wettlauf, wer sich am schnellsten den neuen politischen Verhältnissen anpasste. Beim Juristentag im Oktober 1933 schworen 10.000 Juristen vor dem Leipziger Reichsgericht den sogenannten „Rütli-Schwur“: „Wir schwören bei der Seele des deutschen Volkes, dass wir unserem Führer auf seinen Wegen als deutsche Juristen folgen wollen bis zum Ende unserer Tage.“ Mit
diesen Worten unterwarf sich die deutsche Justiz symbolisch den neuen Machthabern – freiwillig und lange bevor Beamte und Militär auf Hitler vereidigt wurden.
Diese Ausstellung macht auch deutlich, wohin die Selbstanpassung geführt hat. Zum Beispiel in der Zivilgerichtsbarkeit. Sie galt lange Zeit als vermeintlich unpolitisch und unbelastet. Bei näherer Betrachtung zeigt sich, wie auch hier das sogenannte „völkische Rechtsdenken“ den Rechtsstaat zerstörte. Die nationalsozialistische Weltanschauung und der Wille des Führers wurden zur Grundlage der Gesetzesauslegung. Auf diese Weise konnte auch unpolitisches Gesetzesrecht rassistisch aufgeladen und nach Belieben umgedeutet werden, notfalls auch contra legem. Das Amtsgericht Wetzlar etwa verweigerte schon vor den Nürnberger Rassegesetzen einem christlich-jüdischen Paar das Aufgebot. Das Vorbringen, es gebe kein gesetzliches Eheverbot, ließ das
Gericht nicht gelten: Dieser Einwand entspringe – so das Gericht wörtlich – „typisch jüdisch-liberalistischen Moral- und Rechtsvorstellungen.“ Ein anderes Beispiel stammt aus Berlin: Hier lehnte das Landgericht die Anwendung des Mieterschutzgesetzes auf jüdische Mieter ab. Seine Begründung: „Dies Gesetz steht der weltanschaulichen Forderung entgegen, dass alle Gemeinschaftsverhältnisse mit Juden möglichst schnell beendet werden müssen.“
Den vorauseilenden Gehorsam der Richterschaft, die Rechtsbeugung durch Urteile gegen den Wortlaut der Gesetze und die Verweigerung von Rechtsschutz gegenüber der Willkür der Mächtigen – all’ dies gab es auch in der Verwaltungsgerichtsbarkeit. In diesem Gebäude hatte das Preußische Oberverwaltungsgericht seinen Sitz. Als sich ein Kläger 1934 gegen die Beschlagnahme seines Motorrads durch die Behörden wandte, verweigerte sich die Justiz. Der Kläger sei Kommunist und die Beschlagnahme durch die Gestapo angeordnet. Dies sei eine staatliche Hoheitsmaßnahme besonderer Art, gegen die es kein Rechtsmittel gebe. Das Preußische OVG hatte sich in seiner Geschichte beim Schutz des Einzelnen gegenüber dem Staat einen Namen gemacht. Jetzt
lehnten die Richter es ab, sich mit dem Unrecht des Regimes zu befassen – und zwar schon ein Jahr bevor das Gestapo-Gesetz die richterliche Kontrolle ausdrücklich untersagte.
Meine Damen und Herren, die Zerstörung des Rechtsstaates war besonders in der Strafjustiz offenkundig. Die Nazis machten aus ihr eine Waffe zur Vernichtung politischer Gegner:
• Immer mehr Delikte wurden mit der Todesstrafe belegt. Die Strafe stand dabei in einem krassen Missverhältnis zur Schwere der Schuld.
• Für die Feinde des Regimes, Polen und Juden, wurde ein Sonderstrafrecht erlassen.
• Die Folter von Verdächtigen wurde von der Justiz mit deutscher Gründlichkeit geregelt.
• Die Tatbestände wurden rückwirkend angewandt und immer unbestimmter formuliert. Bestraft werden konnte alles, was – so stand es an der Spitze des Strafgesetzbuches – „nach dem gesunden Volksempfinden Bestrafung verdient“.
Allein von den ordentlichen Gerichten wurden etwa 16.000 Todesurteile gefällt. Diese Zahl erklärt sich nicht nur aus der Gesetzeslage. Ursache war vor allem die Bereitschaft der Staatsanwälte und Richter, Todesstrafen zu fordern und zu verhängen. Gerade wegen der Abkehr von deskriptiven Tatbestandsmerkmalen wuchs die Macht der Richter. Sie waren es, die entschieden, ob ein Angeklagter dem Tätertyp eines „Volksschädlings“, „Gewohnheitsverbrechers“ oder „Verräters“ entsprach.
Der Einzelne, sein Leben und seine Würde hatten dabei für die Justiz keinerlei Wert. Immer weniger ging es in der Strafjustiz um persönliche Schuld. Es ging – so die Diktion der Nazis – um die „Ausmerzung von rassisch, moralisch und politisch Minderwertigen“. 1942 vereinbarte deshalb der Reichsjustizminister mit SS-Chef Himmler die Übergabe von Strafgefangenen an die Polizei zur sogenannten „polizeilichen Sonderbehandlung“. In der Vereinbarung hieß es: „Auslieferung asozialer Elemente aus dem Strafvollzug an den Reichsführer SS zur Vernichtung durch Arbeit. Es werden restlos ausgeliefert die Sicherungsverwahrten, Juden, Zigeuner, Russen und Ukrainer, Polen über 3 Jahren Strafe, Tschechen und Deutsche über 8 Jahren Strafe nach Entscheidung des
Reichsjustizministers.“
Die Justiz war damit endgültig zum Mittäter des Massenmordes geworden. Tausende Juristen haben damals schwere Schuld auf sich geladen. Aus Überzeugung, Opportunismus oder Kleinmut haben sie die Zerstörung des Rechtsstaates betrieben oder zumindest daran mitgewirkt. Über ihre Opfer haben sie schweres Leid und großes Unrecht gebracht. Beides war in vielen Fällen nie wieder gutzumachen. Auf zahllose Richter und Staatsanwälte trifft daher jener schreckliche Satz zu, der sich im Urteil des Nürnberger Juristenprozesses findet: „Der Dolch des Mörders war unter der Robe der Juristen verborgen.“
Meine Damen und Herren, das Versagen der Justiz war nicht auf die Zeit bis 1945 beschränkt. Es ging danach noch viele Jahrzehnte weiter. Von den Nürnberger Prozessen abgesehen wurde kein Richter für seine Taten zur Verantwortung gezogen. Stattdessen saßen die Täter von einst schon nach kurzer Zeit wieder in den Gerichten, Universitäten und Ministerien der jungen Bundesrepublik. Erst 1995 hat der Bundesgerichtshof sehr deutlich und sehr selbstkritisch das völlige Scheitern der juristischen Bewältigung des NS-Unrechts eingeräumt. Das Bundesjustizministerium hatte bereits in den 80er Jahren damit begonnen, die Justizgeschichte aufzuarbeiten und sie in dieser Ausstellung zu dokumentieren. Das geschah spät, viel zu spät. Wenn über die Verbrechen der NS-Justiz heute weitgehend
Klarheit in der Öffentlichkeit besteht, dann hat dazu vielleicht auch diese Ausstellung beigetragen. Sie war und ist ein wichtiger Beitrag zur historischen Selbstreflexion der deutschen Justiz. Und sie sollte für alle Juristinnen und Juristen eine Mahnung sein, sich der besonderen Verantwortung ihres Tuns stets bewusst zu sein.
Meine Damen und Herren, heute sind einige unter uns, die dieser Ausstellung besonders eng verbunden sind. Sie haben maßgeblich zu ihrem Erfolg in den vergangenen zwei Jahrzehnten beigetragen. Ich möchte sie gerne nennen: Da ist zunächst Gerhard Fieberg, der heute Präsident des Bundesamtes für Justiz ist. Er hat vor langer Zeit die Konzeption und Gestaltung dieser Ausstellung übernommen. Ihm ist es zu verdanken, dass diese Dokumentation so faktenreich und anschaulich geworden ist. Unter uns ist auch Ute Dürbaum. Sie hat seit vielen Jahren die Wanderschaft dieser Ausstellung quer durch Deutschland organisiert. Und da ist schließlich Heinz-Peter Schlebusch. Er hat sich um den schwierigen Aufbau der Ausstellungstafeln gekümmert. Wenn diese Ausstellung jetzt an das Land Berlin übergeht, dann ist dies
für Sie, liebe Frau Dürbaum, und für Sie, Herr Schlebusch, nicht nur ein Abschied von dieser Ausstellung. Es ist auch der Abschied aus dem Justizministerium. Sie werden in den Ruhestand treten. Ich möchte diese Gelegenheit daher zum Anlass nehmen, Ihnen beiden, sowie Ihnen lieber Herr Fieberg, für Ihr großes Engagement für diese Ausstellung zu danken. Sie haben damit zum Erfolg eines Projektes beigetragen, dessen Bedeutung weit über das Bundesjustizministerium hinausreicht. Vielen Dank!
Meine Damen und Herren, fast zwanzig Jahre eine erfolgreiche Ausstellung, in der Öffentlichkeit große Klarheit über die Verbrechen der NS-Justiz und viel Selbstkritik über deren gescheiterte Aufarbeitung – es scheint fast so, als sei zumindest heute alles in bester Ordnung. Leider trügt dieser Schein ein wenig. In Politik und Wissenschaft wird derzeit über die pauschale Rehabilitierung sogenannter Kriegsverräter diskutiert. Zu meinem großen Bedauern erleben wir dabei einen ähnlichen Streit wie im Jahr 2002 als es um die Deserteure und die sogenannten Wehrkraftzersetzer ging. Neue Forschungen zeigen, dass Kriegsverrat einer jener völlig unbestimmten Tatbestände war, mit denen die NS-Justiz nahezu jedes politisch missliebige Verhalten mit dem Tode bestrafen
konnte. Opfer wurden zumeist einfache Soldaten, und ihre Taten sind ganz vielfältig: Der eine nahm Kontakt zu russischen Kriegsgefangenen auf, der nächste half verfolgten Juden und der dritte schoss betrunken auf ein Hitlerbild. Alle wurden mit dem Tode bestraft. Ich meine, es wäre konsequent, auch Kriegsverrat in die lange Liste der Delikte aufzunehmen, bei denen NS-Urteile nicht mehr im Einzelfall auf ihren Unrechtscharakter geprüft werden müssen, sondern pauschal aufgehoben sind. Wer den Widerstand gegen das NS-Regime für legitim hält und wer den verbrecherischen Charakter der nationalsozialistischen Strafjustiz erkennt, der kann am Unrechtsgehalt dieser Urteile nicht zweifeln.
Meine Damen und Herren, wenn ich richtig informiert bin, dann haben heute junge Juristinnen und Juristen in Berlin eine ganz besondere Verbindung zur NS-Justiz. Ihre Vereidigung als Referendare findet im Plenarsaal des Kammergerichts in der Elßholzstraße statt. In dem gleichen Saal, in dem nach dem 20. Juli 1944 der Volksgerichtshof seine Schauprozesse gegen die Hitler-Attentäter abhielt. Die Filmaufnahmen von dem unflätig schreienden Freisler sind dort entstanden, wo junge Juristen heute ihren Eid auf das Grundgesetz ablegen. Ich weiß, dass ein großer Teil der Referendar-Ausbildung in diesem Haus stattfindet, und deshalb ist dies ein hervorragender Standort für unsere Ausstellung. Wenn die Dokumentation zur NS-Justiz jetzt vom Bund an das Land Berlin übergeht, dann findet sie hier einen würdigen Platz, und
ich freue mich sehr, dass sie auch zur Ausbildung junger Juristen genutzt werden soll.
Zu historischen Lernprozessen tragen nicht nur solche Ausstellungen bei. Auch Sie, liebe Frau Hecht-Studnizcka, leisten dazu einen wichtigen Beitrag. Sie und Ihre Familie haben die menschenverachtende Politik der Nationalsozialisten am eigenen Leib erfahren. Das Schicksal Ihres Vaters, der von den Nazis ermordet wurde, ist hier in der Ausstellung dokumentiert. Ihre Familiengeschichte haben sie in einem beeindruckenden Buch festgehalten: „Als unsichtbare Mauern wuchsen – Eine deutsche Familie unter den Nürnberger Rassengesetzen“, so heißt Ihre Darstellung, die stellvertretend für das Schicksal viel zu vieler deutscher Familien steht. Ich freue mich, dass Sie erneut zu uns gekommen sind und uns nachher einige Passagen aus Ihrem Buch vorlesen werden.
Meine Damen und Herren, „Im Namen des Deutschen Volkes – Justiz und Nationalsozialismus“ – diese Ausstellung zeigt, wie unverblümt der deutsche Rechtsstaat zerstört und durch ein Unrechtsregime ersetzt worden ist. Diese Offenkundigkeit des Unrechts macht es heute schwer, das Engagement so vieler Juristen für das NS-Regime und ihre späteren Rechtfertigungsversuche zu verstehen. Was damals Recht war, war eben nur selten Recht. Häufig war es von Beginn an grausames Unrecht! Umso erstaunlicher bleibt es, dass nach 1945 in Westdeutschland der Wiederaufbau eines demokratischen Rechtsstaates gelang, obwohl das juristische Personal weitgehend identisch blieb. Dieser Umstand hat den Juristen den Ruf eingetragen, wie kaum ein anderer Berufsstand abhängig vom Zeitgeist und
anfällig für Ideologie zu sein. Wie rasch auch heute scheinbar festgefügte Grundsätze unserer Rechtsordnung in Frage gestellt werden, zeigt die Debatte um eine wirksame Terrorismusbekämpfung. Feindstrafrecht, Folter oder Bürgeropfer, das sind die Stichworte einer Diskussion, in der elementare Individualrechte und feste Schranken staatlicher Gewalt leichtfertig in Frage gestellt werden. Ich meine, wir müssen uns vor solchen Versuchungen des juristischen Zeitgeistes wappnen. Wir müssen uns daher immer wieder über den Wert des Rechtsstaates vergewissern. Wir müssen uns daran erinnern, welch’ schreckliche Folgen seine Zerstörung in der Vergangenheit hatte, und wir dürfen die Opfer einer Justiz ohne Gerechtigkeit nicht vergessen. Bei alledem ist
diese Ausstellung eine wertvolle Hilfe und deshalb bleibt sie auch in Zukunft so wichtig.