„Nicht die Frage der Wertschöpfung, sondern der Mensch rückt in den Mittelpunkt“ - Interview mit Sabrina Herrmann

Interview mit Sabrina Herrmann

Ein Start inmitten der Corona-Kontaktbeschränkungen – seit dem Herbst 2020 ist Sabrina Herrmann die neue Gemeinwesenarbeiterin im Rathausblock. Was sich hinter diesem Titel verbirgt, wie Sabrina sich ihre Arbeit vorstellt und was ihre Vision für den Kiez im Jahr 2030 ist, lesen Sie im Interview.

Liebe Sabrina, wie bist Du eigentlich zum Rathausblock gekommen?

Ich wohne seit 15 Jahren in Berlin. Beruflich war ich lange in der Stadtteilkoordination in Lichtenberg unterwegs. Persönlich habe ich mich aber immer auch für die großen Stadtentwicklungsfragen der Zeit interessiert, wie zum Beispiel die Mietenproblematik oder echte Bürger*innenbeteiligung. Mich treibt um, wie wir die Grundlagen für ein gutes Miteinander in der Stadt schaffen können. Also habe ich begonnen, mich zu vernetzen – und getan, was Gemeinwohlarbeiter*innen wohl vor allem tun: mit Menschen zu reden. So bin ich Gründungsmitglied des „Gemeinwohlorientierte Stadtentwicklung e.V.“ (dem Trägerverein der AKS Gemeinwohl) geworden und war im Prozess zur Erstellung von Leitlinien für gute Bürger*innenbeteiligung auf Senatsebene dabei. Über stadtpolitische Akteure wie das Mietshäusersyndikat und Nachbarschaftsgruppen bin ich dann auf den Rathausblock gestoßen. Als dann im Sommer die Stellenausschreibung veröffentlicht wurde, habe ich zunächst bei einigen Akteuren abgeklopft, ob die Vision des Rathausblocks auch meine werden könnte.

Und, konnte sie?

Ja. Weil hier beantwortet wird, wer eigentlich Raum definiert. Lange Zeit wurde von oben herab entschieden, wie sich Stadt entwickeln soll. In Berlin gab es aber immer wieder zivilgesellschaftliche Initiativen, die gesagt haben: „Nicht mit uns. Wir wollen mitreden. Wir wollen nicht nur angehört werden, sondern gemeinsam gestalten“. So auch im Rathausblock. Das trifft sich gut mit meinem Verständnis von Gemeinwesenarbeit. Schließlich sind die Leute im Kiez die Expert*innen ihrer eigenen Lebenswelt. Ihre Bedürfnisse, Erfahrungen und Erwartungen sind ernst zu nehmen. Und nach acht Jahren in Lichtenberg hatte ich Sorge, „betriebsblind“ zu werden. Im Rathausblock liegt der Fokus noch etwas mehr auf „Community Organizing“. Hier kann ich meine beruflichen Erfahrungen mit meinen persönlichen Interessen verbinden.

Jetzt sind schon viele Fachwörter gefallen: Community Organizing, Gemeinwesenarbeit – was ist damit gemeint?

Die Gemeinwesenarbeit wird klassischerweise als Teil der Sozialen Arbeit gesehen. Wir fokussieren uns dabei nicht auf einzelne Personen, sondern sehen – noch so ein Fachwort – den „Sozialraumbezug“. Wer lebt im Kiez? Wie können wir die materiellen und immateriellen Lebensbedingungen derer, die hier leben, verbessern? Oft schauen wir dabei auf Gruppen, die sozial benachteiligt sind. Oder, in neuen Quartieren wie dem Dragonerareal, auf Bevölkerungsgruppen, die wir bei der Entwicklung mitnehmen müssen. Dabei geht es um Teilhabe und Teilnahme am sozialen, kulturellen und politischen Umfeld im Kiez. Teilhabe bezieht sich vor allen Dingen auf soziokulturelle Angebote: Beratung, Freizeitgestaltung, Bildung. Menschen können diese Angebote nutzen und so ihr Leben bereichern. Teilnahme hingegen zielt auf das kollektive Empowerment – aktivieren, umsetzen, einmischen. Selbstorganisation und Vernetzung sollen gestärkt werden. Gemeinwesenarbeiter*innen wie ich helfen dabei und schauen, wie soziale Beziehungen und Kooperationsstrukturen auch langfristig Bestand haben können. Dafür setzen wir auf eine „Geh-Hin-Kultur“. Wir kennen die Nachbarschaft, die Trägerlandschaft im Umfeld und deren Entwicklungsbedarfe. Wir machen Netzwerk- und Öffentlichkeitsarbeit, formell wie informell. Das können zum Beispiel so simple Dinge wie Gespräche auf dem Markt sein.

Was ist Dir persönlich dabei wichtig?

Ich verorte mich eher im „Community Organizing, setze also den Scheinwerfer mehr auf Teilnahme denn auf Teilhabe. Ich möchte Steilvorlagen schaffen, damit Menschen sich beteiligen können. Wie entsteht eigentlich eine Initiative? Wie bringe ich dort die Einzelinteressen zusammen, so dass etwas Größeres daraus entstehen kann?

Der Rathausblock ist ein besonderes Stück Kreuzberg – geschichtsträchtig, vielfältig und rebellisch. Gibt es etwas, das dich persönlich mit dem Areal verbindet?

Ich schaue mit einem frischen Blick auf den Rathausblock. Vorher wusste ich wenig über dessen vielfältige Geschichte. Zwar kannte ich die Dragoner mit ihren Reiterstaffeln. Dass es aber z.B. in der NS-Zeit Zwangsarbeit gab, war mir neu. Vielleicht kann man zu diesem Thema mit Schulen in der Umgebung arbeiten.

Was findest Du im Rathausblock vor?

Mit der Kooperationsvereinbarung ist es geschafft worden, dass sich Akteure, die normalerweise nicht miteinander reden, an einen Tisch sitzen. Sicher ist auch nicht alles Gold, was glänzt. Aber die Grundidee eines Quartiers mit so viel Gemeinschaft und Austauschplattformen, das ist schon großartig.

Für die Nachbarschaft besteht ein offener Zugang zum Entwicklungsprozess. Das geht los bei den Informationsangeboten wie der Transparenzplattform. Denn ohne Informationen werde ich als Nachbar*in nicht aktiv. Wissensunterschiede müssen eingeebnet werden. Weiter geht es mit temporären Angeboten: Lernlabore, Kiezfeste, Garagenkino, der Infrastrukturpool, der jetzt aufgebaut werden soll. Der Baupalast baut mobile Küchen, der Keramiktreff töpfert und die ZusammenStelle bietet Eigen-Erkundungen bei „Der Rathausblock forscht“. Leute werden ermächtigt, selbst aktiv zu werden. Das zeigen auch die Ausstellungsflächen am Finanzamts-Zaun. Zudem gibt es viele thematische AGs und das Forum Rathausblock. Wenn man tiefer und strategischer einsteigen möchte, geben die Strukturen der Initiativen im Vernetzungstreffen (VTR) einen Anlaufpunkt.

Wo siehst Du noch Verbesserungspotential?

Im laufenden Prozess fällt der direkte Kontakt mit den Nachbar*innen etwas unter den Tisch. Wie könnte man z.B. die Schüler*innen und Eltern der Grundschule um die Ecke noch stärker für das Modellprojekt im Rathausblock interessieren? Mein Gefühl ist, dass der Rathausblock immer noch ein bisschen isoliert und versteckt ist. Mein Ziel wäre, das aufzubrechen und Synergien zu schaffen. Deswegen versuche ich gerade zum Quartiersmanagement am Mehringplatz Kontakt aufzubauen, um die stärker in den Rathausblock zu holen.

Hast Du bereits konkrete Pläne? Was möchtest Du als erstes angehen?

Momentan versuche ich herauszufinden, was schon da ist – und worauf die bereits Aktiven Lust haben. Ich mache Dinge nie allein, sondern unterstütze, wo Eigeninitiative ist. Wenn das Gretchen einen Flohmarkt veranstalten möchte, dann unterstütze ich organisatorisch. Was ich nicht mag, sind „Veranstaltungen um der Veranstaltung willen“.

In Zukunft freue ich mich auf die Kiezküche, die Ausstellungsflächen am Finanzamtszaun und die Gardening-Projekte, die für die Nachbarschaft geöffnet werden können. Und nach diesem langen Winter möchte ich unbedingt ein Kiezfest veranstalten, eine weitere „Dragonale“. Denn sich im informellen Rahmen zu treffen, das ist sehr wichtig.

Ich merke, Du sprühst vor Ideen. Allerdings bist Du in einer schwierigen Zeit in Deine neue Position gestartet. Wie war der Start in Corona-Zeiten, gerade in einem Job, der stark auf Vernetzung setzt?

Alles ist ein wenig mühseliger. Zwar kann ich mir zum „Reinkommen“ Entscheidungen, Konzepte und Protokolle anschauen. Aber der „Nasenfaktor“, wie ich es gerne nenne, fällt weg. Ich kann nicht direkt mit Personen reden und nachfragen. Das fehlt mir sehr. Wir haben hier im Rathausblock-Prozess eine sehr strukturierte Kommunikation. Viele Runden sind moderiert, gerade im digitalen Raum fällt das auf. Momente wie an der AnlaufStelle, wo man mal „free floaten“, einfach reden kann, sich Zufälle ergeben, man sich Film-Tipps gibt, die schaffen Vertrauen und Verbindung. Diese Gemeinschaftsebenen fallen weg. Normalerweise würde ich ganz anders „reinfliegen“. Alle Gemeinwesenarbeiter*innen sind davon getroffen. Unsere klassischen Instrumente funktionieren im Moment nicht. Denn im Lockdown können wir nicht sagen „Hey, wir machen ein Nachbarschaftsfrühstück“. Nun müssen wir Neues überlegen.

Hier entsteht ein neues Quartier. Wenn Du in die Zukunft blickst: was ist Deine persönliche Vision für den Rathausblock und das Dragonerareal im Jahr 2030?

Meine Idee ist gar nicht so sehr baulich definiert. Zur Frage, wo Gebäude oder Wege hinkommen, sollen jene mitreden, die hier vor Ort wohnen. Aber in Zukunft steppt hier der Bär. Es wird ein Quartier ohne Barrieren, Zäune und Schranken. Das Areal ist offen, sichtbar, und es fügt sich geschmeidig in die Nachbarschaft ein. Auch Kita und Jugendclub tragen dazu bei. In meiner Utopie gibt es viel gemeinschaftlich verwaltete Fläche. Ich möchte keinen geleckten, sauberen Raum mit Law & Order, sondern einen Rathausblock, in dem man auch mit dem konfrontiert werden kann, was vielleicht nicht so hübsch ist. Und es gibt eine Kiezbar, allerdings ohne Bedienung, die zu einem an den Tisch kommt. Ich denke vielmehr an einen selbstorganisierten Raum, vielleicht im Kollektiv oder als Genossenschaft. Hier kann ich Nachbar*innen auf ein Getränk treffen, zu Kaffee und Kuchen oder zum Filmabend. Nicht die Frage der Wertschöpfung, sondern der Mensch rückt in den Mittelpunkt. Mit seinen Geschichten. Mit Freiräumen, in denen er sich verwirklichen kann. In Zeiten des Rechtsrucks besitzt diese Ermächtigungsgeschichte auch einen großen Wert für die politische Bildung.

Vielen Dank für das Gespräch!

Das Gespräch führte Jan Korte (Zebralog).