Ehemalige Landesbeauftragte

Herr Uwe Berg (1943 - 2018) - eine Erinnerung

Landesarchiv Berlin F_Rep 290_0275786

Quelle: Landesarchiv Berlin F._Rep_290_0275786

Uwe Berg war von 1978 bis 1988 Landesbeauftragter für behinderte Menschen in Berlin (West) und damit der erste Landesbeauftragte bundesweit. In seiner Zeit als Landesbeauftragter – parallel bis 1985 in einer Funktion als Leiter der Fachabteilung VIII der Senatsverwaltung für Arbeit und Soziales – hat er in der Sozialpolitik wegweisende und innovative Entwicklungen für behinderte Menschen eingeleitet.
Uwe Berg wurde am 04. Dezember 1943 in Bublitz, Westpommern (heute: Bobolice, Polen), geboren. Seine Eltern, der Vater Zimmermann, die Mutter Köchin, gelangten nach Vertreibung und Flucht als Aussiedler nach Goslar und später nach Eschborn. Hier besuchte Uwe Berg die Schule. 1960, nach dem Tod seiner Eltern, übersiedelte er zu seiner älteren Schwester nach Wolfsburg. Im Februar 1964 machte er sein Abitur und übersiedelte danach zum Studium nach Berlin (West). Er studierte ab dem Wintersemester 1964/65 am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin Politologie, in den ersten fünf Semestern zusätzlich Jura, und schloss im November 1970 sein Studium mit dem Diplom ab. Nach einer kurzen Tätigkeit an der Volkshochschule in Wolfsburg arbeitete er ab 1971 in der Senatskanzlei unter anderem als Referent für den damaligen Regierenden Bürgermeister Klaus Schütz. Später er in der „Planungsleitstelle“ der Senatskanzlei an den Planungen der berufsvorbereitenden Oberstufen-Zentren beteiligt. In seiner Zeit in der Senatskanzlei von 1971 bis 1978 lernte er das Handwerk politischer Planungen und ressortübergreifender Koordination.
Der Schütz-Senat wurde 1977 nach einer Reihe von Finanzskandalen abgelöst.
Unter dem Regierenden Bürgermeister Dietrich Stobbe begann ab April 1977 eine teilweise neue Agenda der Stadtpolitik mit neuen Personen und Themen. Dabei half die Bundes-SPD. So wurde Olaf Sund von 1977 bis 1981 Senator für Arbeit und Soziales und das Mitglied des Deutschen Bundestags Peter Glotz wurde Wissenschaftssenator.
Die Planungsleitstelle in der Senatskanzlei beim Regierenden Bürgermeister stellte sich ab 1977 einem ressortübergreifenden Berichtsauftrag:
„Die Situation der Behinderten in Berlin (West) – Abschluss Bericht – Hrsg. Der Regierende Bürgermeister von Berlin, Senatskanzlei/Planungsleitstelle1
Dieser „Behinderten-Bericht“ und ein „Materialband“ von 700 Seiten2 war eine aus der Sicht der Politik und den Verwaltungen (aber auch im Rückblick von heute) fast vollständige Bestandsaufnahme, Lagebewertung und daraus abgeleiteter Maßnahme-Katalog zur Verbesserung der Lebenssituation einer demographisch relevanten und wachsenden Bevölkerungsgruppe in der Inselstadt.
Der rot gebundene dicke Bericht („Rote Bibel“) fand sich in fast jeder Amtsstube der Senatsverwaltungen. Die als Fazit vorgestellten „Maßnahmen 01 – 69“ hatten unterschiedliche Blickwinkel und Formate. Es ging um Großes und um Kleineres (Maßnahme 12 – „Wohnmöglichkeiten für behinderte Bürger“, Maßnahme 08 – „Transportsystem für Schwerstbehinderte“-, aber auch Maßnahme 15: – „Behindertengerechte Telefonzellen“). Aus Sicht der Planerinnen und Planer fehlten damals viele nötige Daten, Informationen und fachliche Bewertungen. Daher war es konsequent, als Berichtsmaßnahme 01 die Schaffung eines „Landesbeauftragten für die Behinderten“ und eines mit ihm eng kooperierenden „Beirats für Behindertenfragen“ einzufordern. Die kontinuierliche Sammlung und Bewertung von Informationen, Bedarfsanalysen, Finanzierungvorschlägen und die Übertragung von Aufgaben an Freie Träger sollten durch den Landesbeirat, eine Geschäftsstelle und den Landesbeauftragten sichergestellt werden.3 Der Bericht schlug ein partizipatives Verfahren mit den Organisationen der Menschen mit Behinderungen vor, um deren fachliche Expertise zu nutzen, die in der Verwaltung nur begrenzt vorhanden war.
Der Bericht konstatierte erhebliche Defizite für behinderte Bürger, denen viele Möglichkeiten der Stadt Berlin (West) verschlossen blieben. Dies betraf die Versorgung in den Kindertagesstätten, in den Schulen und bei beruflicher Eingliederung, Zugang zu geeigneten Wohnungen und den öffentlichen Verkehrsmitteln. Auch die Übernahme der Grundsätze der „Psychiatrie-Enquete“ (1975) des Deutschen Bundestages auf die Situation der großen Landes-Nervenkliniken mit ihren überkommenen Anstaltsstrukturen erzeugte dringenden Handlungsbedarf. Der „Bericht“ schlug dafür als Maßnahme 38 die Schaffung eines „Psychiatrie-Beirates“ vor, den es in veränderter Form als Fachgremium bis heute gibt.
Die intensive Arbeit an diesem Bericht und die Koordination der unterschiedlichen Interessen der Verwaltungen, dabei aber auch seine großen kommunikativen Fähigkeiten, qualifizierten Uwe Berg für die Schlüsselaufgabe eines bundesweit ersten „Landesbeauftragten“. Nicht zuletzt hatte er in den beteiligten, z. T. eifersüchtigen Fachverwaltungen, Mitstreiterinnen und Mitarbeiter gefunden.
Zum 15. Januar 1978 beschloss der Senat von Berlin (West) Uwe Berg in das Amt eines „Landesbeauftragten für Behinderte“ bei der Senatsverwaltung für Arbeit und Soziales zu berufen.4
In seiner parallelen Funktion als Abteilungsleiter der zuständigen Fachbehörde und zugleich Landesbeauftragter des Senats insgesamt war er für die Organisation und Durchführung des „Internationales Jahres der Behinderten“ 1981 zuständig, das in Berlin (West) zu vielen Aktivitäten und Anstößen führte, die der Bund finanzierte. Der Bericht war vielleicht auch im Hinblick auf den Aufmerksamkeitsfaktor dieses Jahres – und die damit einhergehenden Bundesmittel – initiiert worden.
Eine der ersten Aktivitäten in seiner neuen Rolle im Jahr 1979 war der „Bericht über Wohnungen und Heime für behinderte Bürger in Berlin (West) / Behindertenwohnstättenplan I“. Dieser stellte erhebliche Defizite in der Wohnungsversorgung von Menschen mit Behinderungen fest. Zum Teil skandalöse Zustände hatten zu einer Vielzahl von Petitionen betroffener Familien geführt. Es fehlten alle Formen des Wohnens, von Wohnungen für Rollstuhlnutzerinnen und –nutzer bis hin zu geeigneten Wohnungen für Wohngemeinschaften für Menschen mit geistigen oder psychischen Behinderungen, für jüngere Menschen mit Behinderungen und zeitgemäße stationäre Angebote. Die fehlenden Planungsdaten müssten verbessert werden.
Im Behindertenwohnstättenplan hieß das übergeordnete Ziel: „So wenig Heime wie möglich, so viele Einzelwohnungen wie nötig.“5 In einem ersten Schritt sollten 158 neue Heimplätze kurzfristig entstehen und 300 Plätze in Wohngemeinschaften“. Eine erste Planung 1979 ging von 3.130 – 3.730 neuen Formen von Wohnangeboten aus.6
Berlin (West) hatte in erheblichem Umfang Menschen mit Behinderungen zur Betreuung in Einrichtungen im Bundesgebiet abgegeben. Eine eigene Infrastruktur bestand in der Insellage der Stadt nur rudimentär, z. B. in den Landes-Nervenkliniken mit schlechtem Standard, der nach der „Psychiatrie-Enquete“ politisch nicht mehr haltbar war. Dies führte zu steigendem politischen Druck, auch aufgrund von Beschwerden und politischem Druck von Elternvereinen, die Unterstützung für ihre behinderten Angehörigen suchten. Fachleute gründeten gleichzeitig „Psychiatrische Hilfsvereine“, die das Anstaltssystem durch ambulante Angebote ablösen wollten.
Uwe Berg initiierte die Schaffung von Wohnformen für Menschen mit Behinderungen im Rahmen des (in West-Berlin zum politischen Kernbereich gehörenden) „Sozialen Wohnungsbaus“. Bei Vorhaben in diesem Bereich wurden Wohneinrichtungen für Menschen mit Behinderungen verpflichtend mit eingeplant und auf Mietbasis an Träger vergeben. Die Kosten der Bewohner wurden als Kosten der Unterbringung aus den laufenden Leistungen zum Lebensunterhalt nach dem damaligen Bundes-Sozialhilfe-Gesetz (bundes-)finanziert. Mit diesem Verfahren konnte der Grundsatz „ambulant vor stationär“ zügig und mit überschaubaren Kosten realisiert werden, Berlin (West) hatte im Vergleich der Bundesländer bald den höchsten ambulanten Versorgungsanteil im Wohnen aufzuweisen.
Auch “familienunterstützende Maßnahmen“ und stadtteilnahe Begegnungsstätten für ein „günstigeres soziales Klima“ waren nicht vergessen.7
Diese vielleicht sozial-technokratischen, auf jeden Fall progressiven Planungen wurden von Ulf Fink, der 1981 Sozialsenator im Senat von Richard Weizsäcker wurde, engagiert fortgeführt. Der neue Senator erkannte sie als für seine politischen Ziele der verstärkten Ambulantisierung von Sozialen Diensten, der Partizipiation und Subsidiarität und der Stärkung von Selbsthilfe förderlich und bezog sie in seine Politik ein. Viele dieser Maßnahmen belasteten nicht direkt den Landeshaushalt von Berlin (West), sondern realisierten Ansprüche an den Bund. Es war die seltene Gelegenheit, wo fachlich richtige Konzepte auch fiskalisch vorteilhaft waren.
Die Maßnahme 08 des Behinderten-Berichtes hatte aufgrund der Mängel im öffentlichen Personenverkehr ein eigenes Transportsystem für Schwerst- und Mehrfachbehinderte vorgeschlagen. Daraus folgte die Entstehung des Telebus, eines flächendeckenden Sonderfahrdienstes für außergewöhnlich gehbehinderte Menschen (zunächst als Rufbusprojekt).
Dessen eigentliches Ziel war – neben der Beförderung behinderter Bürgerinnen und Bürger – die Ermöglichung der Teilhabe behinderter Menschen im öffentlichen Raum und damit eine wachsende Nachfrage nach z. B. barrierefreien Kinos und Veranstaltungsräumen. Die öffentliche Präsenz von Menschen mit Behinderungen war eine wichtige Voraussetzung für die barrierefreie Umgestaltung der Stadt. Der Telebus (heute als Sonderfahrdienst bezeichnet) ist seit fast vierzig Jahren eine der Säulen der Sicherstellung der Mobilität der Bürgerinnen und Bürger, die den ÖPNV nicht nutzen können. Dessen Barrierefreiheit herzustellen ist eine Generationenaufgabe, der Telebus war die kurzfristig wirksame Maßnahme 8 des „Berichtes“.
Politische Absichten, die planerischen Ideen und die verfügbaren Haushalts-Mittel, aber auch die Vorstellungen und Perspektiven der Nutzerinnen und Nutzer passten häufig nicht zusammen. Die Bedürfnisse wuchsen mit den Anspruchsgrundlagen. Und der Sonderfahrdienst/Telebus ist eine freiwillige soziale Leistung des Landes Berlin, die nicht der Bund bezahlt. Solche Konflikte sind Alltag eines Veränderungsprozesses, sie sind Politik. Uwe Berg hatte in diesem Streit in seiner Doppelfunktion schwere Rollenkonflikte.8
Aus dem Bundes-Programm „Humanisierung des Arbeitslebens“ des Bundesforschungsministeriums akquirierte Uwe Berg Mittel für Investitionen in Arbeitsplätze für behinderte Menschen in den anerkannten Werkstätten. Diese Einrichtungen der beruflichen Rehabilitation bestanden damals erst seit wenigen Jahren und waren in Quantität und Qualität defizitär (kritisch häufig „Bastelstuben“genannt). Diese Arbeitsplätze als förderfähig aus dem bundesweiten Programm „Humanisierung der Arbeit“ zu setzen, zeigt das Grundprinzip, Verbesserungen für Menschen mit Behinderungen als übergreifende Aufgabe zu behandeln. Die Arbeitsplätze in Werkstätten sollten im Rahmen des Programms zu zeitgemäßen Arbeitsplätzen wie andere auch weiterentwickelt werden.9
Die Schaffung von „Fördergruppen“ für Menschen mit besonderem Unterstützungsbedarf in eigenständigen Tagesförderstätten oder an Werkstätten für Behinderte fällt auch in diese Zeit.
1985 wurde Uwe Berg im Zuge der Abwicklung des HdA-Programms als Abteilungsleiter abberufen und 1988 in seiner Funktion als Landesbeauftragter nach zehn Jahren abgelöst. Damit wurde eine wichtige Phase der Politik für Menschen mit Behinderungen beendet.
Seine Nachfolgerin wurde das ehemalige Mitglied des Deutschen Bundestags Frau Angela Grützmann, die das Amt im Hinblick auf die in den ersten zehn Jahren gesammelten Erfahrungen stärker als „Ombudsfrau“ interpretierte. Sie erinnert sich an ihren Vorgänger: „Uwe Bergs ruhige, zugewandte Art war ebenso beeindruckend, wie seine Überzeugungskraft.“10
Uwe Berg verließ Anfang der 90er Jahre die Landesverwaltung. In der Folge war er als freier Berater in verschiedenen (auch Bau-) Projekten tätig. Später widmete er sich ganz der Kulturarbeit. Nach langer und schwerer Krankheit mit großen persönlichen Einschränkungen starb er im September 2018. Er bekam die Telebus-Berechtigung, hat den Fahrdienst aber nie benutzt.
Er wurde im Friedwald Nuthetal-Parforceheide in aller Stille beigesetzt.
8 Dieser Link zu Artikeln aus den Medien der Behindertenbewegung aus den Anfangsjahren des Telebus zeigt, wie hart und grundsätzlich gestritten wurde. Danke dafür an Martin Theben.
In einer Zeit erheblicher Defizite in nahezu allen Lebensbereichen behinderter Menschen (z. B. dokumentiert durch die Psychiatrie-Enquete des Deutschen Bundestages 1975) gelang es Uwe Berg gemeinsam mit seinen Mitarbeiterinnen und Mitstreitern, ausgehend von einer politischen Vision der Gleichstellung, viele drängende Problemfelder (Wohnen, Mobilität, Arbeit) als „Querschnittsaufgaben“, die alle staatlichen Felder der Daseinsfürsorge betreffen in das Handeln der Senatsverwaltungen zu tragen. Sein Verdienst war es, trotz häufig fehlender Daten eine übergreifende und realisierbare Strategie zu beschreiben und überzeugend zu kommunizieren.
In der Folge wurden sozialpolitische Ziele allen Senatsressorts zur Aufgabe gemacht, ein seinerzeit und bis heute innovativer Ansatz.

Reinald Purmann, Dipl. Psych.
Juni 2019

Quellennachweise
1 Landesarchiv Berlin, Rep.002/9308/ 2 – Mitteilung des Senates an das Abgeordnetenhaus vom 22.09.1978
2 Landesarchiv Berlin, Rep 002 / 9308/3
3 a.a.O.
4 Landesarchiv Berlin Rep 004 / 2259
5 Landesarchiv Berlin Rep 002 / 16814
6 Landesarchiv Berlin Rep 002 16183
7 Landesarchiv Berlin Rep 002 16183
9 Landesarchiv Berlin Rep 002/16813 -6
10 Mitteilung von Frau Angela Grützmann 22.07.2019