Agile Arbeit in der Software-Entwicklung: Chancen und Risiken für die mentale Gesundheit

Computerarbeitsplätze in einem Großraumbüro

Ein Bericht aus der Arbeit des Referats Gewerbeärztlicher Dienst/Arbeitspsychologie

Neue Arbeitsformen wie die agile Projektarbeit versprechen den Mitarbeitenden viele Vorteile und Freiheiten. Im Manifest für agile Software-Entwicklung werden beispielsweise ressourcenschonende Prinzipien wie Nachhaltigkeit, Einfachheit und Selbstorganisation beschrieben.
In der Theorie bieten diese Arbeitsformen daher ein enormes Potenzial für die mentale Gesundheit, denn die Möglichkeit zur Selbstbestimmung, Handlungsspielräume und eine positive Fehlerkultur sind wesentliche Gestaltungsfaktoren, die sich nachweislich positiv auf die Arbeitsmotivation und auf die mentale Gesundheit insgesamt auswirken.

Hybrides Arbeiten als Risikofaktor?

Findet agile Arbeit jedoch in einem Umfeld statt, welches durch hohen Arbeits- und Konkurrenzdruck geprägt ist, verkehrt sich der Vorteil dieses selbstbestimmten Arbeitens häufig ins Gegenteil: Mitarbeitende wollen ihr Engagement unter Beweis stellen, das Projekt – oder sogar parallel mehrere Projekte – voranbringen und im Team überzeugen und nehmen dabei keine Rücksicht auf die eigene Gesundheit und die eigenen Leistungsgrenzen. Aus den Sprints wird ein Marathon, der auf Dauer ins Burnout führen kann.
Vertrauensarbeitszeit und das Arbeiten außerhalb des Büros, beispielsweise von zu Hause aus (Stichwort: mobiles oder hybrides Arbeiten, Remote-Arbeit), verstärken diese Risiken noch, da eine Überprüfung der tatsächlichen Arbeits- und Ruhezeiten durch den Arbeitgeber erschwert wird. Für Führungskräfte ist das Führen auf Distanz eine ganz eigene Herausforderung, denn online fällt es sehr viel schwerer, zu erkennen, wie es den jeweiligen Mitarbeitenden gerade wirklich geht.
Hinzu kommen regelmäßig Anforderungen, die unter dem Begriff Techno-Stress zusammengefasst werden; beispielsweise das ständige selbständige Einarbeiten in neue Programme oder die endlose Aneinanderreihung von Videokonferenzen.

Fehlende Kenntnisse beim Thema Arbeitsschutz

Zur Sensibilisierung und Überprüfung von Berliner Arbeitgebern zu diesem wichtigen Thema wurde einer der arbeitspsychologischen Schwerpunkte im Frühjahr 2025 auf die Besichtigung von Betrieben gelegt, deren Hauptgeschäft die Entwicklung von Software-Anwendungen ist. Dabei handelt es sich in über zwei Dritteln der Fälle um kleine und mittelständische Unternehmen. Die meisten Unternehmen dieser Branche beschäftigen weniger als 10 Mitarbeitende.
Hier zeigt sich ein Effekt, der auch in anderen Branchen typisch ist: Je kleiner das Unternehmen, desto seltener sind die Arbeitgeber zum Thema Arbeitsschutz informiert und desto seltener wird das Thema systematisch berücksichtigt, geschweige denn dokumentiert. Insofern war es für das LAGetSi keine Überraschung, dass in sämtlichen besuchten Betrieben Verstöße gegen mindestens eine relevante gesetzliche Bestimmung festgestellt wurden; in 40 % der Fälle fehlten selbst die ganz grundlegenden Kenntnisse und organisatorischen Schutzmaßnahmen.
Das bedeutet nicht, dass den Arbeitgebern die Gesundheit und Zufriedenheit ihrer Mitarbeitenden nicht wichtig wären – im Gegenteil: Die meisten sind sich dieser wertvollen personellen Ressource durchaus bewusst.
Zwar konnte das LAGetSi in gut 80 % der besuchten Unternehmen feststellen, dass es Mitarbeitende gab, die zu Überarbeitung oder Selbstüberforderung neigten.
Die gute Nachricht ist, dass den Geschäftsführern in drei Viertel der Fälle diese Gefahren bewusst waren („Wir kennen doch unsere Pappenheimer“) und sie gezielte Maßnahmen benennen konnten, die sie ergriffen hatten, um ihre Mitarbeitenden zu schützen.
Leider wurden diese Maßnahmen in den seltensten Fällen in der Gefährdungsbeurteilung dokumentiert, geschweige denn systematisch hinsichtlich ihrer Wirksamkeit überprüft.

Arbeitsschutz zusammen gestalten

Für die Dienstkräfte des LAGetSi ist es bei der Besichtigung eines Betriebes wichtig zu sehen, dass sich der Arbeitgeber mit dem Thema Arbeitsschutz beschäftigt hat und dass eine systematische Weiterentwicklung und Optimierung der Schutzmaßnahmen zu erkennen ist. Sie überprüfen die grundlegende Arbeitsschutzorganisation, fragen nach den Unterweisungen (auch für die mobile Arbeit!), lassen sich die Gefährdungsbeurteilungen vorlegen und überzeugen sich davon, dass die gesetzlichen Regelungen an den Arbeitsplätzen gemäß Arbeitsstättenverordnung eingehalten werden, im Zweifelsfall auch per Nachbesichtigung.
Besonderes Augenmerk richten die arbeitspsychologischen Fachkräfte des LAGetSi auf die Beurteilung der psychischen Belastung.
In Hinblick auf die besonderen Herausforderungen, die mit agiler Projektarbeit verbunden sind, wird vor allem hinsichtlich der betrieblichen Möglichkeiten zur Vermeidung von Stress durch ein zu hohes Arbeitspensum und die Interaktion mit Kunden gefragt und beraten.
Da die Dienstkräfte des LAGetSi überzeugt davon sind, dass hier die Mitarbeitenden selbst die besten ExpertInnen sind, fragen sie stets, wie und an welcher Stelle die Mitarbeitenden bei der Beurteilung der Belastung und bei der Ableitung von Maßnahmen mit einbezogen worden sind, und wie die Maßnahmen hinsichtlich ihrer Wirksamkeit überprüft werden.

Die meisten vom LAGetSi besuchten Betriebe erhielten mündliche Hinweise und die Möglichkeit, ihre Arbeitsschutzmaßnahmen in angemessener Zeit nachzubessern.

Schon gewusst?

Die Beurteilung der Arbeitsbedingungen nach § 5 Arbeitsschutzgesetz (auch „Gefährdungsbeurteilung“ genannt) schließt seit 2013 die Beurteilung psychischer Belastungen explizit mit ein.

Der Begriff „Burnout“ (übersetzt in etwa: Ausgebrannt-Sein) bezeichnet gemäß der aktuellen Neufassung in der internationalen Klassifikation (ICD-11) einen Zustand, der u.a. durch eine massive Erschöpfung charakterisiert ist und der aus einer Überforderung durch chronischen Arbeitsstress resultiert.
Menschen, die ein Burnout erleben, fallen häufig sehr lange aus dem Erwerbsleben aus – die Erholung dauert im Schnitt ein Jahr, teilweise auch deutlich länger.

Ein Burnout wird derzeit (noch) nicht als Berufskrankheit gelistet.

Die einfachste Möglichkeit für Kleinunternehmen, sich zum Thema Arbeitsschutz zu informieren und den Betrieb zum Schutz der Gesundheit und Leistungsfähigkeit der Mitarbeitenden gesetzeskonform aufzustellen, ist die Beratung durch die zuständige Berufsgenossenschaft – für Software-Entwicklung ist dies meist die VBG – bzw. die Beauftragung einer externen Fachkraft für Arbeitssicherheit.

Zahlen, Daten, Fakten

Das LAGetSi hat in den letzten drei Jahren gut 200 Betriebsbegehungen mit dem Ziel durchgeführt, speziell die Beurteilung von und den Umgang mit psychischen Belastungen bei der Arbeit in Berliner Unternehmen zu überprüfen und somit erfolgreich zum Schutz der mentalen Gesundheit in der Hauptstadt beigetragen.

Gewerbeärztlicher Dienst / Arbeitspsychologie

Referat II C

Persönlich erreichen Sie uns:
montags zwischen 13.00 Uhr und 15.00 Uhr
mittwochs zwischen 10.00 Uhr und 12.00 Uhr

E-Mail nicht für Dokumente mit elektronischer Signatur!