Wer ist die Frau auf dem Cover?

Kurz vor der Wiedereröffnung der Volkshochschulen haben wir ein paar Freiwillige in und vor den Häusern fotografiert. In Situationen, die auch nach dem aktuellen Hygienekonzept so stattfinden könnten. Dr. Marie Biloa Onana war bei der lustigen Aktion dabei. Nun wollen wir mehr über die Frau auf dem Deckblatt erfahren.

Frau öffnet Tür

Marie, heute hast Du den dritten Tag nach Wiedereröffnung der Volkshochschule unterrichtet. Wie hast Du die letzten 15 Wochen mit der Pandemie empfunden?

Das erste Mal in meinem Leben hatte ich viel Zeit für mich allein. Und für meine Familie. Anfang April habe ich realisiert, dass ich Angst bekomme. Diese Stimmung, die entsteht, wenn man durchs Fenster auf leere Straßen sieht. Meine Familie in Kamerun hat sich große Sorgen um mich gemacht, als das Virus begann, in Europa um sich zu greifen. Die Medien weltweit haben die Ängste von Menschen befördert. Auf einmal habe ich mir diese existenziellen Fragen gestellt: Was ist sicher? Was bedeutet es, zu leben? Was ist Glück? Ich habe immer viel gearbeitet. In dieser Pause habe ich mich zwangsweise auf mich selbst besonnen. Was wünsche ich mir? Was brauche ich?

Als klar wurde, dass das hier nicht nach ein paar Wochen vorüber sein würde, begannen die Berliner Volkshochschulen Fortbildungen für Kursleitende zum Online-Unterrichten anzubieten. Ich habe mich angemeldet, aber die Tools nicht verstanden. Ich konnte es nicht ertragen, dass ich dieses online unterrichten nicht durchdringe. Meine große Stärke ist die Interaktion mit meinen Teilnehmenden.

„Wenn ich das nicht mehr kann, wie kann ich mein Wissen in der Zukunft weitervermitteln?“, habe ich meinen Sohn gefragt. Wer bin ich, wenn ich nicht unterrichten kann? Also habe ich mich hineinkatapultiert in die digitale Welt. Ich habe an vier, fünf Webseminaren pro Tag teilgenommen. Zu jedem Seminar, das angeboten wurde, habe ich mich angemeldet ohne mir die Titel anzusehen. (lacht) Ich war eine schlimme Wiederholungstäterin. Mit einem zweiten Computer habe ich die Interaktion zwischen Kursleiterin und Teilnehmenden simuliert.

Jetzt kann ich sagen: Ich kann das. Das Potenzial, online Kurse anbieten zu können, gehört ab jetzt zu meinen Kompetenzen dazu.

Frau öffnet Tür mit Maske

Deckblatt des Programmheftes 2020, zweites Semester

Du bist seit fast 10 Jahren Deutschkursleiterin an der Volkshochschule. Ich habe nachgesehen: In über 250 Kursen hast Du bisher um die 3500 Teilnehmende unterrichtet. In der Turmstraße, Antonstraße und Linienstraße. Wie kam es dazu?

Ich wollte Anwältin oder Kinderärztin werden, dann hatte ich eine Begegnung mit einer wunderbaren Deutschlehrerin am Gymnasium in Douala in Kamerun. Sie war so gefühlvoll, sanft, natürlich und aufmerksam. Eine strahlende Figur. Und sie weckte meine Liebe für die deutsche Sprache und Literatur und den Wunsch, selbst Lehrerin zu werden.

Lehrer*innen haben eine Vorbildfunktion. Wir können so viel bewegen. Ein Lehrer muss diese Aura haben und die Fähigkeit, Schüler zum Lächeln zu bringen. Wir Kursleitende motivieren unsere Teilnehmenden. Meine damalige Lehrerin hat alles gegeben, also habe ich alles gegeben. So sehe ich die Lehrerfunktion: Menschen so zu bewegen, dass sie was Besseres erreichen wollen. Mein Sohn sagt, ich sei ungeduldig. Im Kursraum bin ich eine ganz andere Person. Die Arbeitswelt ist mir wichtig. Ich mache alles mit Herz und halbe Geschichten gibt es bei mir nicht. Ich bin eine Perfektionistin! (lacht)
Wie es dazu kam? Ich habe in Yaoundé mein Bachelor- und Masterstudium im Fach Germanistik „Neuere deutsche Literatur“ abgeschlossen. Dann war ich zweimal über ein DAAD-Stipendium in Berlin. 1996 für meine Magisterarbeit („Maitrised´ allemand“) über Heinrich Böll an der Freien Universität (FU) und 2003 für meine Doktorarbeit an der Humboldt Universität. Parallel zum Magister habe ich die pädagogische Hochschule absolviert und meine Anerkennung als Deutschlehrerin bekommen.

Vormittags Pädagogik, abends FU und zwischendurch ist mein Sohn Wilfried auf die Welt gekommen. (lacht) Vor jeder Prüfung haben meine Professoren gezittert, ob ich im neunten Monat morgens erscheinen werde oder doch vorher zum Kreißsaal abbiege. (natürlich lacht sie hier und das Lachen reißt in diesem Interview nicht ab)

Als Deutschlehrerin in Kamerun zu arbeiten war einfach. Ich hatte homogene Gruppen, alle sprachen dieselbe Herkunftssprache. Aber hier an der Volkshochschule habe ich meine interkulturelle Kompetenz ausgebaut. Jeder Kurs ist anders. Andere Menschen, eine andere Atmosphäre. Ich habe so viel über andere Länder gelernt. Zu unterrichten ist auch eine Art Weiterbildung. Nicht nur fachlich, sondern auch zur Menschenkenntnis. Die Teilnehmenden sind meine große Kraftquelle. Sie sind glücklich mit meinem Unterricht und sie zeigen mir das.

Lachende Frau mit Hula-Hoop-Reifen

Du hast mir erzählt, dass Du vorwiegend gute Erfahrungen an der Volkshochschule gemacht hast. Ich nehme an „vorwiegend“ sagst Du aus gutem Grund?

Nehmen wir den ersten Unterrichtstag nach Corona: In dem Haus, in dem ich unterrichte, fand parallel die Anmeldung zu den Deutschkursen statt. Wegen des Hygienekonzepts haben die neuen Teilnehmenden mit Abstand in einer Reihe auf ihren Termin gewartet. Meine Kolleginnen und ich sind an der Reihe vorbeigelaufen, um zu unseren Kursräumen zu gehen. Ich wurde als einzige aufgehalten und gebeten, mich hinten in der Schlange der Kund*innen anzustellen. Zweimal musste ich erklären, dass ich hier Kursleiterin bin.

Oder nehmen wir den Satz im Dozentenzimmer, den ich manchmal höre: „Du sprichst aber gut Deutsch.“ Da antworte ich dann: „Das ist leider kein Kompliment. Das ist mein Job!“

Als nicht-muttersprachliche Deutschlehrerin unterrichte ich bestimmt anders. Mit der Brille einer Person, die selbst einst die deutsche Sprache erlernt hat. Und das ist kein Nachteil, ganz im Gegenteil!

Ich sage Dir, über strukturellen Rassismus, auch in seiner subtilen Form, könnte ich Bücher schreiben.

Kursleiterin steht mit Deutschbuch im Unterrichtsraum

Auf den Straßen in Berlin und der Welt werden gerade keine Bücher, aber vielleicht Geschichte geschrieben. Du hast vor 10 Jahren Deine Doktorarbeit mit dem Titel „Der Sklavenaufstand von Haiti. Ethnische Differenz und Humanitätsideale in der Literatur des 19. Jahrhunderts“ (Böhlau, 2010) publiziert. Ein Kollege hat mir neulich Dein Buch ausgeliehen. Wie siehst Du die aktuellen Black-Lives-Matter-Bewegungen in Deutschland und der Welt?

Ich bin mir hundertprozentig sicher: Es wird sich was bewegen!

Ich habe in den letzten Jahren so viele Demos mitorganisiert, für die Straßenumbenennung der M-Straße in Mitte gekämpft, war an der Vernetzung postkolonialer Vereine beteiligt. Und nun verkündet z.B. die BVG, dass sie den U-Bahnhof M-Straße einfach umbenennen wird, weil sie „jegliche Form von Rassismus oder sonstiger Diskriminierung“ ablehne. Ein „Mohr“, ein Begriff aus der Sklaverei, bei dem Menschen aus afrikanischen Ländern über die Karibik in Europa ankamen und dort als Exoten begafft werden durften. Verletzend. Diese schnelle Wende ist der Floyd-Effekt! Bei der großen Black-Lives-Matter-Demo am Alexanderplatz habe ich es gespürt: ein Kapitel deutscher Geschichte wird gerade geschrieben.

Es gibt viele Arten von Rassismen, aber es gibt eine Rangordnung. Und auf einmal werden Schwarze Menschen sichtbar, dunkelhäutige Menschen werden auf Podien eingeladen. Es gibt eine Debatte über unser Grundgesetz, wo noch das Wort „Rasse“ steht, das nur manifestiert, was es eigentlich auflösen soll. Racial profiling bei der Polizei usw.

Foto des Buches "Der Sklavenaufstand von Haiti" von Dr. Marie Biloa Onana

Wie bist Du für Dein Buch auf Haiti gekommen?

Das Thema Haiti war zunächst ein Zufall, bis ich erkannte, dass es um mehr geht. Der Sklavenaufstand war im 18. Jahrhundert, aber das rassistische Denken und die Stigmatisierungen sind hoch aktuell. Über Haiti habe ich mich meiner eigenen Geschichte und der Geschichte Schwarzer Menschen genähert. Diese kulturübergreifende Analyse war damals etwas Neues in der Germanistik. Der Horizont für Germanisten endete damals an den Grenzen Deutschlands.

Ich wollte nicht nur über Goethe und Kleist schreiben. Wie wurde das historische Ereignis in Deutschland, Frankreich und Haiti wahrgenommen und literarisch dargestellt? Wie wurden ethnische Differenzen verarbeitet und wie hat dieses Ereignis den „Rassen“-Diskurs erheblich intensiviert und polarisiert? Das hat mich gereizt. Natürlich musste ich dafür auch die Kolonialisierung verstehen und die Rassismusdebatte analysieren. Aber für die Kolonialgeschichte gibt es Historiker und Afrikanisten.

Unendlich viele Stunden habe ich in dunklen Berliner und Pariser Bibliotheken zugebracht damals. Ich forschte ja zum 18. und 19. Jahrhundert und war auf Präsenzbücher angewiesen, die man nicht kopieren und nicht mit nach Hause nehmen durfte! (Sie schüttelt den Kopf, als könne sie sich das in der heute nicht mehr vorstellen.) Von dem Leben draußen habe ich in dieser Zeit nicht viel mitbekommen.

Und seitdem? Wie sieht eine normale Woche in Deinem Leben aus? Post-Doc und Pre-Corona?

Familie, viel unterrichten, Chor in meiner christlichen Gemeinde, ehrenamtliche Arbeit, soziales und politisches Engagement, antirassistische Aufklärungsarbeit, ein wenig forschen. In jedem Fall ohne Faulenzen und Langeweile!

Vielen Dank für das Interview

Mit einem inspirierten Gefühl und einer langen Liste mit Lesetipps für den Sommer in Berlin verabschiede ich mich von Dr. Marie Biloa Onana, die den Abend mit ihrer Familie in Kreuzberg verbringen wird.

Das Interview führte Anne Nguyen, Volkshochschule Berlin Mitte, im Juli 2020.