Alter schützt vor Liebe nicht

Ein Schreibheft mit einem Stift

von Susanne Danowski

Auf dem Dachboden in einem alten Wäschekorb, unter verschlissenen Laken und Tüchern fand ich vor langer Zeit ein Heft, in dem jede Seite in einer zierlichen Schrift beschrieben war. Leider konnte ich die Zeichen nicht entziffern und legte bedauernd das Heft beiseite.

Nun hat sich vor ein paar Wochen meine Tante Flora zu einem Besuch angesagt. Tante Flora heißt eigentlich Florentia und ist so alt, dass keiner mehr sagen konnte, wie alt sie eigentlich war. Sie war klein, flink, hatte einen äußerst wachen Verstand und war immer noch bei bester Gesundheit. So war ich nicht verwundert, dass sie wieder mal auf Reisen ging und freue mich auf sie.

Ich richtete für Tante Flora das alte Gästezimmer her. Darum hatte sie gebeten, weil sie von dort den schönsten Blick in den Garten hat. Als ich ihr nun am Tage ihrer Ankunft noch einen Gartenblumenstrauß auf den Tisch stellte, denke ich wie von ungefähr an das alte unleserliche Heft. Schnell laufe ich in die Bibliothek und hole es. „Wenn jemand etwas damit anfangen konnte, dann doch wohl Tante Flora“, denke ich und lege das Heftchen auf den Tisch neben die Vase.

Dann war es auch schon so weit, mein Mann fährt mit dem Auto laut hupend die Einfahrt rauf. Und kaum hält das Gefährt, steigt Tante Flora fröhlich lachend aus. Wir fallen uns in die Arme. Ich bin trotz der großen Freude behutsam, denn die Tante scheint noch zerbrechlicher geworden zu sein.

Wir gehen ins Haus, essen, trinken und reden und reden, trinken und essen. Erst als es schon stockfinster ist, bringe ich das Tantchen in ihr Zimmer. Sofort fällt ihr das Heft auf. „Was ist das?“ fragt sie neugierig und ich erkläre ihr, wie und wo ich es gefunden hatte, dass ich neugierig bin, es aber nicht entziffern kann. „Lass es nur liegen, ich sehe es mir an. Aber für heute bin ich zu müde.“

Mit diesen Worten schickt sie mich aus dem Zimmer und ich fügte mich.

Am nächsten Morgen, der Frühstückstisch ist gedeckt, der Kaffee gebrüht, die Brötchen verströmen ihren verführerischen Duft. Nur Tante Flora erscheint nicht bei Tische.

Erst am frühen Nachmittag kommt Tante Flora die Treppe herunter. Unsere besorgten Gesichter erhellen sich sofort, als wir das Glitzern in ihren Augen sehen. Sie verlangt nur nach einer Tasse Kaffee und bittet mich, sie ihr ins Zimmer zu bringen.

Tante Flora sitzt im großen Sessel. Auf dem Teetischchen, auf dem ich den Kaffee abstelle, liegt das Heftchen. „Es tut mir leid, dass ich Euch erschreckt hab, weil ich so lange geschlafen habe. Das passiert mir sonst nicht. Aber die Neugier hat mir keine Ruhe gelassen, ich hab in das Heftchen gesehen und konnte es nicht mehr aus der Hand legen. So bin ich erst zum Schlafen gekommen, da ging schon die Sonne auf“ Nun ist es an mir, neugierig zu sein. „Du kannst die Schrift lesen? Was steht darin, sagst du es mir…?“

Aber Tante Flora bremst meinen Redefluss und hat wieder dieses Glitzern in den Augen. „Komm heute Abend, wenn alle zu Bett sind, in meine Kammer, dann will ich dir das Geheimnis anvertrauen“

Als es ruhig geworden war im Haus, stürme ich die Treppe hoch. Die Tür zum Gästezimmer war nur angelehnt. Flora sitzt im alten Lehnsessel, neben ihr die Stehlampe hüllt sie in ein warmes Licht. Sofort fühle ich mich in Kindertage zurückversetzt, vermute die Märchenfiguren im Dunkel des Zimmers.

Flora hatte das Heft auf dem Schoß und schaut mich mit diesem Glitzern in den Augen an. Ich setze mich bequem in einen Sessel ziehe die Beine an und kuschele mich in eine Decke. Dann warte ich darauf, was Flora mir zu sagen hat und ich weiß, dass ich einfach Geduld haben muss.
Und dann spricht Flora mit klarer Stimme los:

Das Heft ist ein Tagebuch, ein besonderes Tagebuch. Und ich habe nicht rausbekommen, wann es geschrieben wurde. Aber nun höre zu.

Morgen werde ich 61 Jahre alt. Heute hat Max mich verlassen. Ich hatte es erwartet. Er schlief schon lange allein in seinem Zimmer und hat mich schon ewige Zeit nicht mehr zur Nacht besucht. Ich weiß auch von seiner langjährigen Liaison mit Luise, die als Kindermädchen für unsere Zwillinge gearbeitet hatte. Sie hat vor einigen Monaten geheiratet und in mir keimte da Hoffnung, dass er wieder zu mir zurückkehren würde.

Aber da hatte ich mich getäuscht. Max war nun kaum noch zu Hause. Wenn wir uns zufällig begegneten, reagierte er unwirsch. Gestern Abend kam er nach Hause, um seine Sachen zu packen und er sagte viel Unschönes zu mir und über mich. Aber er hat meine Tränen nicht gesehen. Ich fühle mich alt, verbraucht und hässlich. Ich habe ihm zwei Kinder und mein Leben geschenkt und nun wirft er mich weg.

Flora machte eine Pause und nahm einen großen Schluck aus ihrem Weinglas. Ich war traurig ob der Geschichte der mir fremden Frau. War sie mir fremd? Wie kommt das Heft dann auf meinen Boden?

Flora blättert die nächste Seite auf und räuspert sich.

Ich habe nicht viel geschlafen, aber ich hatte einen eigenartigen Traum. Ein Engel brachte mich in ein Land das lichtdurchflutet und voller Liebe und Freude war. Er sagte mir, ich solle mir den Weg gut merken, dann werde ich es auch finden. Als ich aufwachte war ich plötzlich gar nicht mehr so traurig.

Und ich fasste mutig den Entschluss, das Haus, das mein Leben gefressen hatte, zu verlassen. Ich lasse fast alles zurück, nehme nur ein paar Kleider zum Wechseln mit und Proviant. Abends fiel mir ein, dass heute ja Geburtstag war. Ich habe mir eine gute Flasche Wein aus dem Keller geholt, aus dem Regal, das Max mir verboten hatte. Ich prostete mir selbst im Spiegel zu. Ich sah das müde Gesicht, die Falten um die Augen, die herabgezogenen Mundwinkel, die schmalen Lippen, das schüttere stumpfe Haar. Fast konnte ich Max verstehen. Was kann ich denn noch vom Leben erwarten?

Mit den ersten Sonnenstrahlen laufe ich los. Die Luft ist noch frisch und die Straßen sind leer. Keiner sieht meinen Auszug. Ich verlasse die Stadt und wandere durch die Felder. Die Bauern sind schon fleißig, sie winken mir einsamer Wanderin freundlich zu. Mittags, als die Sonne hochsteht mache ich eine erste Rast unter einem alten Baum, dessen Krone mir Schatten spendet.

Nach dem Mahl werde ich schläfrig. Da erscheint der Engel wieder; „Du bist auf dem richtigen Weg. Finde Dein Ziel, wenn Du an die Liebe glaubst“ flüstert er mir zu. Erschrocken öffne ich die Augen, aber niemand war zu sehen. Ich schnüre mein Bündel und laufe weiter. Am Abend suche ich mir in einer einfachen Herberge eine Schlafstatt. Nach einem leichten Abendessen entfliehe ich dem Lärm der Gaststube und mache noch einen Spaziergang.

Am Dorfrand finde ich einen Weiher mit klarem Wasser. Niemand ist zu sehen. Da gebe ich meinem heimlichen Wunsch nach, steige aus den Kleidern und gleite nackt ins kühle Nass. Das tut gut. Der lange Marsch ist vergessen, der Staub wäscht sich ab. Aber als ich aus dem Wasser komme… oh Schreck… sind meine Sachen weg. Keine Wäsche, kein Kleid, kein Schuh liegt mehr da, wo ich mich entkleidet habe. Was soll ich tun?

Ich schaue mich um, ob von irgendwo Hilfe oder neues Unheil droht. Da sehe ich neben einer Weide eine kleine Reisetruhe stehen. Ist das die Rettung? Ich laufe hin und öffne den Deckel. Welch ein Glück. In der Truhe liegt ein Kleid, so schön wie ich noch keines gesehen habe. Nachtblau mit goldenen aufgestickten Sternen, die im letzten Abendlicht glitzern. Auch Wäsche und Schuhe finde ich. In meiner Not ziehe ich die Sachen an und schleiche mich zurück ins Dorf.

Als ich die Gaststube betrete, erstirbt der unerträgliche Lärm der Männer und unter ihren bewundernden Blicken eile ich in meine Kammer. Ich setze mich aufs Bett. Wie lange ist es her, dass ich von einem Mann so angesehen wurde, wie eben? Ich kann mich nicht erinnern, aber es tut gut und ich halte mich ein bisschen gerader.

Auch in dieser Nacht träume ich wieder vom Engel: „Die Kleider sind deine, nimm sie und trage sie mit Stolz. Auch wenn du um deine Liebe trauerst, musst du nicht in Sack und Asche gehen. Dein Mann ist deiner Tränen nicht wert. Er weiß ja gar nicht, wen er zurück gestoßen hat“

Am Morgen sind alle meine Kleider weg aber ich finde neue in lebhaften Farben und Wäsche, mit Spitzen verziert und Schuhe mit Schnallen und Riemchen.
Ich probiere ein mohnrotes Gewand an, das mit einem breiten schwarzen Gürtel gehalten wird. Das Mieder hebt den Busen und ich drehe mich stolz vor dem halbblinden Spiegel. Der Widerschein des Rots färbt auch meine Wangen und ich lächele mich an.

Ich packe mein Bündel und mache mich wieder auf den Weg. Die Blicke der Männer sehe ich wohl und mein Schritt wird fester. Ich kenne den Weg nicht, aber ich fühle mich geleitet und bin frohgemut.

Abends erreiche ich eine Stadt. Ich finde eine Herberge für die Nacht und nach einem leichten Mahl schlafe ich schnell ein. Ich wundere mich nicht mehr, als der Engel erscheint. „ Nimm meine Gaben und du wirst einen Jungbrunnen finden, wenn du dem Ruf deines Herzens folgst und für die Liebe bereit bist“ flüstert er mir ins Ohr. Ich will antworten, dass ich ja eine alte verbrauchte verlassene Frau bin, aber der Engel ist schon nicht mehr da.

Am Morgen erwache ich ausgeruht und fröhlich. Neben meinen Sachen finde ich eine mir unbekannte Haarbürste. Der griff ist aus edlem Holz geschnitzt, die Borsten sind weiß und schmiegsam. Ich probiere sie aus und kämme mich. Ich traue meinen Augen kaum. Die Haare erstrahlen in ihrem früheren Glanz. Ich kann sie kaum bändigen in ihrer wiedergewonnenen Fülle. Ich binde bunte Bänder in die Flechten und lasse die Haube weg. So ausgestattet und frisch gekleidet mache ich mich erneut auf den Weg.

Ich wandere durch Felder, über Wiesen und gelange in einen Wald. Bevor ich ihn durchschritten habe, wird es dunkel. Als ich mich nach einer geschützten Stelle umschaue, wo ich lagern könnte, sehe ich ein Licht durch die Bäume schimmern. Mutig gehe ich dorthin und stehe vor einer kleinen Hütte. Ich klopfe. Eine gebückte Alte öffnet die Tür und bittet mich, bevor ich meinen Wunsch vortragen konnte, hinein.

Im Kamin knackt ein Feuer und auf dem Tisch stehen zwei Gläser neben einer Flasche Wein. Ich blicke zu der Alten, aber die lächelt nur wissend. „Setz Dich, trinke einen Schluck vom Rebensaft, dein Bad ist gleich bereit“ Der Wein schmeckt samtig und hinterlässt in mir ein wohliges Gefühl. Ohne Widerstand lasse ich mich auskleiden und dankbar steige ich in den Zuber mit warmem, schäumendem Wasser.

Mit geschlossenen Augen gebe ich mich der Wonne hin. Die Alte kommt und beginnt mich mit einem weichen Schwamm einzuseifen. Erst wäscht sie mir die Schultern, den Rücken, die Arme. Dann umkreist sie sacht meine Brüste. Eine vergessene Lust durchflutet mich als sie mir Bauch, Schenkel und zuletzt auch mein Geheimstes seift. Ich lasse es geschehen. Ob wohl der Wein dran schuld ist, dass ich es so schamlos genieße?

Als ich selig aus dem Wasser steige, fühle ich mich geschmeidig und leicht. Meine Haut scheint zu schimmern und die Brüste scheinen mir fester und praller. Die Alte zeigt mir schmunzelt mein Bett in der Kammer und ich schlafe augenblicklich ein. Auch der Engel dringt wieder in meine Träume vor: „Lerne zu genießen, was dir das Leben bietet und hänge nicht dem Verlorenen nach. Die Lust wohnt noch immer in dir. Wecke sie und gib ihr ein Zuhause“

Der Morgen findet mich vergnügt zwischen den Laken. Die Alte ist weg, aber auf dem Tisch steht ein üppiges Frühstück für mich. Ich esse mich satt und mache mich wieder auf den Weg zum Jungbrunnen. Ich sehne mich, nach dem gestrigen Abend, danach wieder jung zu sein und die Freuden der Liebe zu spüren. Ich laufe zügig und verlasse bald den Wald. Ich genieße das Licht und die Wärme auf der Haut.

Übermütig lockere ich das Mieder, das die Strahlen auf meinem Busen tanzen können. Dann lüpfe ich die Röcke und biete auch meine Beine der Sonne dar. An einem Heuschober mache ich Rast, strecke die Glieder und fühle mich wohl in meiner Haut. Keine Müdigkeit die mich lähmt. Aus meinem Bündel ragt eine Flasche mit dem köstlichen Wein und ich habe Durst.

Als ich gerade den Korken aus dem Flaschenhals ziehe, steht plötzlich ein Herr neben mir. Ich springe auf und erschrocken ziehe ich die Röcke über die Knie und bedecke meinen entblößten Busen. Doch der Herr greift beherzt nach der Flasche, die mir gerade aus der Hand gleiten will. „Den Wein sollten wir wohl eher trinken als verschütten. Er holt aus seinem Tornister zwei Becher und setzt sich neben mich. Er füllt sie und gemeinsam stoßen wir an. „Ich bin Hubertus. Und wie darf ich dich nennen?“

Brav nenne ich ihm meinen Namen. Dann muss ich kichern. Hubertus streicht mit einen Grashalm über meine Beine. Dabei schiebt er die Röcke weiter nach oben, dass meine Schenkel wieder der Sonne ausgesetzt sind. Wir lassen die Becher klingen und trinken erneut einen Schluck. Hubertus rückt näher und schiebt dabei eine Hand in mein Mieder. Ich spüre, wie sich seine Finger um meine Brust wölben.

Er küsst mich auf den Mund und löst dabei frech die Bänder meines Kleides. Ich lasse es geschehen und merke, wie sich die Lust in meinem Leib zu regen beginnt. Auch als er das Mieder öffnet und das Kleid zu Boden gleitet spüre ich keine Scham. Er sieht mich an, wie ich nackt in der Sonne stehe und ich sehe in seinen Augen ein liebevolles Leuchten. Seine Hände gleiten über meinen Leib.

Sie stören sich nicht an den kleinen Röllchen in der Taille, streicheln weich die Zeichen des Alters auf meinem Bauch, an den Schenkeln, am Po. Und ich erkenne, dass die Signale, die die Finger an ihn senden, kräftige Regungen bei ihm auslösen. Ich öffne beherzt seinen Hosenbund, um seinem Anzeiger das Wachsen zu erleichtern.

Wir drängen zueinander, dann ineinander. Wild stürzen wir der großen Welle zu, die uns bald überschwemmt und uns ermattet und gelöst zurück lässt. Er hält mich weiter liebevoll im Arm. Ich spüre noch das Pulsen des heißen Blutes in meinen Adern und höre seinen schnellen Herzschlag hinter seiner Brust. Der leichte Wind kühlt die verschwitzte Haut. Wir können nicht voneinander lassen, nicht die Hände, nicht die Augen, wir dringen mit allem was wir haben in uns ein.

Er blickt mir direkt in die Seele. Als die Sonne sich zur Ruhe legen will, fragt Hubertus: „Wohin willst du? Woher kommst du?“ „ Ich bin auf dem Weg zum Jungbrunnen gewesen, aber ich glaube, ich bin angekommen. Du hast mir das Alter genommen“

Und das war die Wahrheit. Der Engel erschien mir nie wieder in meinem Träumen. Aber nach neun Monaten wurde uns, entgegen aller Regeln, eine Tochter geboren. Wir nannten sie Florentia, was blühend, im besten Alter bedeutet.