Unverhoffter Ausbruch

Eine Kuh auf der Weide

A.C.Leinad

Berliner Schnauze, ein Synonym für schnelle Reaktion, manchmal freche Ausdrucksweise, aber doch meistens mit viel Herz. Nein, Berliner nehmen für gewöhnlich kein Blatt vor den Mund. Ganz egal, ob sie angesprochen werden oder nur auf eine Rempelei hin in Aufregung geraten. Manchmal ist es geradezu umwerfend, was man da so alles zu hören bekommen kann.

Neulich bummele ich ganz friedlich durch meinen Supermarkt, studiere gerade die Fettprozente am Käseregal, als ich in der Nebenreihe einen Streit höre. Eine ziemlich junge Männerstimme und eine etwas zickig klingende, ältere Frauenstimme. Zunächst ließ ich mich nicht bei meinen Studien stören. Eigentlich wollte ich weitergehen, aber nun fing mich das Wortgefecht doch an zu interessieren.

„Wie kommen Sie dazu, mir die Packung aus dem Korb nehmen zu wollen?“ fragte ruhig der junge Mann und legte seine Hand auf die ergriffene Spaghettipackung. „Weil ich sie zuerst gesehen habe und Sie mit Absicht danach gegriffen haben.“ So die Antwort aus einem keifenden Munde. „Schließlich war es die letzte im Regal, wer weiß, wann es wieder Nachschub gibt!“ Es folgte noch ein unfreundliches Gemurmel, das ich nicht verstehen konnte. Die Neugier veranlasste mich, meinen Einkaufswagen nun auch in die Regalreihe zu schieben, wo irgendein letztes Päckchen Anlass, zu einem offenbar ernsthaften Streit, gegeben hatte.

Da hatte ich sie nun vor mir, die beiden Kampfhähne. Sie, eine etwas korpulente, ältere Dame, so um die 60 herum. Korrekt gekleidet, der rotbraune Schopf war sorgfältig gefärbt und frisiert. Eine Brille mit dünnem Rand saß, etwas herunter gerutscht, auf der Nase und ließ die Trägerin mit kampflustigen Augen über den Rand schauen. Ansonsten bot ihr Gesicht einen etwas verhärmten Eindruck.

Die herunter hängenden Mundwinkel gaben ihm einen unzufriedenen Ausdruck. Ihre Gesten waren belehrend, bei jedem Satz fuhr der Zeigefinger durch die Luft. Da sie wortgewandt, mit gutem Ausdruck sprach, stellte ich mir vor, dass sie sicherlich einmal in verantwortungsvoller Position gearbeitet hatte. Ich hatte den Eindruck, sie hat noch keinen Frieden mit ihrem Seniorendasein geschlossen.

Er, der junge Mann, sah eher schüchtern aus. Groß gewachsen, flachsblond mit kurzem Schnitt, einen Ohrring kess im rechten Ohr und salopp gekleidet. Er trat von einem Bein auf das andere, wollte wohl nicht so unhöflich sein und die alte Dame einfach stehen lassen. „Wollen Sie denn gerade heute Spaghetti machen?“ fragte er ruhig. „Wissen Sie, ich kann nämlich noch nicht viel kochen und habe heute Freunde zum Essen da. Es wäre nett, wenn Sie mir das Päckchen lassen.“

Na, da hätte ich wohl gelacht und ihm noch einen guten Rat gegeben, wie er seine Gäste überraschen kann. Nicht so besagte Dame. Sie plusterte sich auf, holte tief Luft und zischte los: „Eine Unverschämtheit, das soll der Geschäftsführer klären. Die heutige Jugend hat überhaupt keinen Anstand mehr und weiß nicht, was sie den Älteren schuldig ist. Es ist völlig egal, ob ich die Spaghetti heute oder nächstes Jahr koche, ich will sie heute kaufen, basta!“

Meine Güte, so ein Gezeter wegen einer so unwichtigen Kleinigkeit. Obwohl ein Schiedsrichter den beiden behilflich sein könnte, ging es mir so durch den Kopf. Natürlich waren meine Sympathien auf der Seite des jungen Mannes in diesem Augenblick. Inzwischen brüllte die Dame durch die Halle nach dem Geschäftsführer.

Eilfertig kam eine junge Frau herbei, die sich als Leiterin des Marktes vorstellte und nach den Wünschen der Kundin fragte. „Also, dieser Flegel hier hat mir das letzte Päckchen Spaghetti vor der Nase weggenommen, obwohl ich es zuerst sah. Er hat nur so schnell danach gegrapscht, weil er mich provozieren wollte. Ich bestehe darauf, dass er mir die Ware heraus gibt und aus dem Laden verwiesen wird.“

Es folgte noch eine Reihe von verbalen Beschimpfungen der heutigen Jugend, begleitet von ziemlich wildem Gefuchtel mit den Händen. Schweißtröpfchen bedeckten nun die Stirn der eifernden Dame und sie prustete ziemlich erschöpft. Die Marktleiterin sah etwas ratlos zwischen den beiden Kontrahenten hin und her. Schließlich rang sie sich zu einer Entschuldigung durch, dass sie leider Schwierigkeiten mit der Nachlieferung hatte und daher im Augenblick wirklich keine weiteren Spaghetti mehr am Lager seien.

Sie empfahl, nachdem sie die Beweggründe des jungen Mannes angehört hatte, sich doch gütlich zu einigen. Zustimmend nickte der Jüngling in der Hoffnung, nun werde seine „Gegnerin“ sich doch seiner höflich vorgetragenen Begründung erinnern und zustimmen. Weit gefehlt, ihr musste an diesem Tag eine besonders große Laus über die Leber gelaufen sein. Jedenfalls pumpte sie ihre Stimmgewalt förmlich auf und spie ihre Empörung über den unmöglichen Laden und die Unfähigkeit der Leiterin aus.

Alles in wohl gesetzten Worten versteht sich. Man ist schließlich gebildet. Die junge Frau und der blonde Jüngling sahen sich an. „Ich danke Ihnen für den Versuch der Schlichtung“, sagte er mit einem freundlichen Lächeln. „Keine Ursache, ist doch selbstverständlich…“ sie wollte noch etwas in Richtung der tobenden Kundin hinzufügen. Da sah sie die leicht erhobene Hand des jungen Mannes und hielt inne.

Er wandte sich der noch hochrot schnaufenden Dame zu und sagte: „Hier haben Sie Ihre Spaghetti und werden Sie selig damit. Für mich sind Sie eine arme Kuh, Gnädigste!“ Sprach’s und ging seiner Wege, liebevoll seiner Großmutter gedenkend, die so etwas wohl niemals fertig gebracht hätte.