Den Zehlendorfern, die damals zur Wahl gingen, war durchaus bewusst, dass mit dem Entstehen der Landgemeinde Zehlendorf für sie ein neues Kapitel in der Geschichte ihres Ortes aufgeschlagen wurde. Dass dieses Kapitel bis heute reicht und dass die kommunale Selbstverwaltung auch eine Erfolgsgeschichte sein würde, konnte damals allerdings keiner absehen.
Wenn wir das Entstehen der Landgemeinde Zehlendorf und der kommunalen Selbstverwaltung heute als eine wichtige Zäsur in der Geschichte des Ortes betrachten, die die sieben Jahrhunderte Fremdverwaltung davor von der kommunalen Selbstverwaltung danach trennt, so schien man diese Änderung damals eher mit Gleichmut hinzunehmen. Bei Durchsicht der einzigen Tageszeitung, die damals in unserem Bereich erschien, dem Teltower Kreisblatt, findet sich weder im Monat davor noch im Monat danach auch nur ein Hinweis auf dieses denkwürdige Ereignis!
Was die Leser in Nah und Fern stattdessen bewegte, stand in der folgenden Ausgabe des Teltower Kreisblatts (vom 4. Dezember 1872) auf Seite 1: Als sensationelle Neuerung im Postwesen gab es jetzt Postkarten zu vermelden, auf denen sich bereits eine Briefmarke befand, so dass, wie die Zeitung ihre Leser informierte, „es des Aufklebens der Freimarke nicht erst bedarf.“
Des Weiteren berichtete das Teltower Kreisblatt über eine Schlägerei zwischen zwei Kutschern sowie über eine saftige tätliche Auseinandersetzung zwischen mehreren Angehörigen der gebildeten Stände. Zehlendorf kam in dieser Ausgabe wie auch in den nächsten Wochen ausschließlich mit der Kleinanzeige von Fa. Kienast von der Neuen Fischerhütte vor, die wohlfeile „Kiefern, Kloben, Stubben, Tanger ( – was immer das sein mögen – ), Rüststangen, Netzriegel und Zaunstangen“ anbot.
Wir sehen, dass die Bedeutung, die die Zehlendorfer Gemeindevertretung einmal erlangen sollte, damals in der Öffentlichkeit noch nicht in dem Maße wahrgenommen bzw. gewürdigt wurde, wie wir es heute erwarten würden.
Im Rückblick kann man aber auch sagen, dass damals der Keim für etwas gelegt wurde, das sich schon bald entwickeln und gedeihen sollte. Denn wenn ihre neue Gemeindevertretung der Umwelt auch keine Nachricht wert schien, so wussten die Zehlendorfer sie doch durchaus zu nutzen.
In ihrer praktischen Arbeit erkannte die Zehlendorfer Gemeindevertretung schon bald, dass die vorgegebene Landgemeinde-Ordnung letztlich unbefriedigend war, da sie nur eine Zusammenfügung aller möglichen Gesetzesbestimmungen war. Daher modifizierte sie diese nach einiger Zeit und gab dem Ort eine maßgeschneiderte eigene Zehlendorfer Gemeindeordnung.
Wie gut die Zehlendorfer Gemeindevertretung die ihr gegebenen Möglichkeiten zu nutzen verstand, geht aus einer Zusammenstellung ihrer Arbeit hervor, die sie zwölf Jahre später, 1884, veröffentlichte. Die dort genannten 36 Punkte zeigen, wie durch die Arbeit der Gemeindevertretung das Leben im vormals ländlichen Zehlendorf den Anforderungen angepasst wurde, denen sich der boomende Vorort der Hauptstadt des deutschen Kaiserreichs stellen musste. Hier seien nur einige dieser drei Dutzend Erfolgsmeldungen genannt:
- Aufstellung eines Bebauungsplanes
- Verschönerung der Dorfaue durch Anpflanzungen
- Bildung einer freiwilligen Feuerwehr
- Ankauf des Gemeindewäldchens
- Aufstellung eines Orts-Status für den Bau von Straßen und Plätzen
- Einrichtung eines Wochenmarkts
- Verhinderung der Anlegung von Rieselfeldern unweit des Ortes
- Pflasterung von Straßen
- Vertrag mit den Charlottenburger Wasserwerken zur Lieferung von Wasser
- Einführung eines Regulativs betreffs Zahlung von Abgaben für öffentliche Lustbarkeiten
Durch die Gemeindevertretung und ihre Arbeit, so schrieb unser Ortschronist Paul Kunzendorf damals, ergaben sich „Jahre ruhiger und steter Entwicklung für Zehlendorf, und der Ort konnte sich in allen Erscheinungen des Verkehrs und des öffentlichen Lebens, vor allem in der Konkurrenz mit anderen Vororten Berlins, sehen lassen.“
Dennoch darf man sich die Kommunalpolitik nicht so durchstrukturiert und politisiert wie heute vorstellen. Gleich in der ersten Sitzung wurde von der Gemeindevertretung z.B. beschlossen, dass nicht regelmäßig, sondern nur bei Bedarf getagt werden sollte. Außerdem, so weist unser heutiger Experte für Zehlendorf im Kaiserreich, Dr. Kurt Trumpa, hin, ging damals in dem kleinen Örtchen Zehlendorf alles noch sehr viel familiärer zu als heute. Nicht nur, dass anfangs die Kommunalpolitik von den Zehlendorfer Clans gemacht wurde, sondern wenn man sich beim Friseur oder am Stammtisch traf, wurde dort genauso Politik gemacht wie bei den viel unregelmäßigeren Sitzungen der Gemeindevertretung.
Das gleiche galt auch für den ältesten Zehlendorfer Verein, den noch heute bestehenden Männer-Gesangsverein von 1873, der nur ein Jahr jünger ist als die Gemeindevertretung und der zumindest am Anfang von seinen Mitgliedern her ziemlich identisch mit den Angehörigen der Gemeindevertretung gewesen sein dürfte. Es war also gar nicht nötig, regelmäßig zu tagen, solange der Männergesangsverein nur regelmäßig probte! Abgestimmt werden musste freilich in der Gemeindeversammlung.
Trotz, oder vielleicht auch wegen, dieser familiären Atmosphäre lief die demokratische Selbstbestimmung in der Zehlendorfer Gemeindeversammlung gut an, so dass zwölf Jahre später der erwähnte Erfolgsbericht gegeben werden konnte.