Ein Unglück kommt selten allein…/ Eine wahre Geschichte
Bild: Waltraud Käß
von Waltraus Käß
Ein persönlicher Termin sollte mich Ende Juli in den Kurort Bad Salzdetfurth, nahe der Stadt Hildesheim, führen. Monate vorher waren alle nötigen Reservierungen und Terminabsprachen erfolgt, die Fahrkarten gekauft. Zwei Tage einschließlich einer Nacht wollte ich bleiben, da braucht man kein großes Gepäck.
Da nichts im Leben bleibt wie es ist, hatte ich am Tag der Abreise mit Veränderungen zu kämpfen, die kurz vorher eingetreten waren. Die direkte Verbindung zum Hauptbahnhof mit der S-Bahn war nicht mehr möglich, der Schienenersatzverkehr zwischen Lichtenberg und Ostkreuz war eingerichtet. Dauert zu lange, denkt der kundige Reisenden, mit der U-Bahn bis Alexanderplatz und von da weiter mit der S-Bahn geht schneller, sind ja nur noch wenige Stationen.
Gesagt, getan – das dachten aber auch die Berufspendler. Und so stauten sich auf dem U-Bahnsteig in Lichtenberg die Menschen mit und ohne Koffer.
Der ICE fuhr pünktlich im Hauptbahnhof ein, ich richtete mich häuslich auf dem reservierten Platz ein, es konnte losgehen. Kurz vor Beginn der angesagten Abfahrtzeit begann es in den Lautsprechern des Zuges zu kratzen, zu pfeifen, zu quietschen, zu knistern, zu rauschen.
Die Lautstärke wurde für die Ohren immer bedrohlicher und unerträglicher. Der Zug stand. Vom Bahnpersonal keine Spur, auch nicht auf dem Bahnsteig. Wir Reisenden sahen uns hilflos in die Gesichter und jeder hoffte für sich, dass dieser Lärm nun endlich aufhört. Inzwischen waren 20 Minuten seit der vorgesehenen Abfahrtzeit vergangen, als plötzlich eine junge Frau durch den Zug rannte. Laut rief sie: “Alle, die Richtung München wollen, aussteigen. Der Zug wird evakuiert. Es gibt keine Ansage auf dem Bahnsteig.“
Sollte man das glauben oder nicht? Die ersten Reisenden standen auf, ich auch. Auf dem Bahnsteig kam gemächlich eine Mitarbeiterin der Bahn entlang, die mit dem Arm in eine Richtung wies und den Fragenden sagte: „Alle da rüber, auf Gleis 1 steht ein Ersatzzug.“ Wir befanden uns auf Gleis 6. Wie eine Völkerwanderung wälzte sich die Menschenmasse hinüber zum anderen Gleis. Der Zug war kürzer, die Wagennummern stimmten nicht mehr, die Reservierung war ohne Gültigkeit. Aber alle fanden einen Platz und mit 40 Minuten Verspätung fuhr der Zug aus dem Bahnhof.
Klar war, dass ich dadurch den Anschlusszug auf meinem Umsteigebahnhof Hildesheim nicht erreichen würde. Eine Stunde später fuhr der nächste – ich hatte genügend Pufferzeit für meinen Termin eingeplant und lag trotz allem noch gut in der Zeit. Es erwartete mich ein interessanter Bahnhof in Bad Salzdetfurth, ein so genannter Kulturbahnhof. Denn in ihm befindet sich eine Bibliothek und es soll auch Veranstaltungen geben.
Das kleine Zentrum von Bad Salzdetfurth war schnell erreicht, es sah gemütlich aus. Eine Straße, daneben der Fluss Lamme, eine hölzerne Fußgängerbrücke, die beide Seiten des Flusses verband, Fachwerkhäuser, das Hotel mittendrin. Man sah dem Städtchen nicht an, dass es 15 000 Einwohner hat. In den beiden Kurkliniken werden Moor- und Solekuren angeboten, neben anderem Gewerbe gibt es ein großes Werk für die Herstellung von Katzenstreu. Nun war ich also angekommen.
Beim Einchecken ins Hotel erfuhr ich, dass ich keine Stunde früher hätte kommen dürfen, denn dann hätte ich auf der Straße verharren müssen. Bis eine Stunde vor meiner Ankunft war dieses ganze Viertel noch wegen Gasalarm gesperrt – eine Gasleitung war gebrochen. Das nennt man dann Glück im Unglück.
Da es schon den ganzen Tag in Deutschland regnete, also auch hier, war an eine umfangreiche Erkundung des Ortes nicht zu denken, die wollte ich dann am nächsten Tag bis zur Abfahrt meines Zuges durchführen – sofern der Regen aufhören würde.
Aber so gegen 20.00 Uhr sollte doch noch ein kleiner Abendspaziergang möglich sein. Erschrocken stand ich an der Fußgängerbrücke. Schlammbraune Wassermassen rauschten durch das Flussbett und ich sah, dass bis zur Unterkante der Brücke vielleicht noch 5 cm Luft war. Kleine Baumstämme, lange Äste, sogar der eine oder andere Busch schafften es aber noch, unter der Brücke hindurch zu schlüpfen. Bei einem weiteren Kontrollgang um 21.00 Uhr wurde die Brücke gerade von der Feuerwehr gesperrt, die Wellen des Flusses schwappten bereits darüber.
In der Nacht war es unruhig im Städtchen. Ich hörte Menschen und Autos und dachte noch nicht an etwas Böses. Als um 7.15 Uhr die Sirene gleich drei Mal Alarm gab, zeigte mir der Blick aus dem Fenster das Ausmaß der Katastrophe. Soweit ich nach allen Seiten schauen konnte, sah ich nur noch Wasser. Die Katastrohe war da. Im Hotel und in den Straßen stand das Wasser etwa 50 cm hoch. Internet und Telefonie, einschließlich Handy, funktionierten nicht mehr.
Während ich als Hotelgast noch meinen Frühstückskaffee genießen konnte, kamen die Bewohner der anderen Straßenseite in Gummistiefeln, um sich eine Kanne Kaffee abzuholen, denn bei ihnen war der Strom ausgefallen. Noch blieb ich ruhig, denn mein Zug fuhr erst um 16.00 Uhr Richtung Hildesheim. Alle anderen Menschen waren in Bewegung, um ihre Häuser zu schützen. Ich erlebte eine große Solidarität, jeder half jedem.
Ich konnte nur das Geschirr im Frühstücksraum abräumen, damit die Hotelbesitzer die Zeit für die Entsorgung des Wassers aus dem Eingangsbereich nutzen konnten. Drei männliche Hotelgäste aus Ungarn, Polen und Indien halfen dabei. Sie konnten an diesem Morgen ihren Arbeitsplatz nicht erreichen. Eine Sisyphusarbeit – das Wasser floss immer wieder zurück.
Im Laufe des Vormittags hörte der Regen auf und es wird keiner glauben: So schnell wie das Wasser gekommen war, verschwand es auch wieder zwischen 13.00 Uhr und 15.00 Uhr. Plötzlich gab es nur noch den Fluss, die Straße war wasserfrei. Tasche packen, auf zum Bahnhof, ich war guten Mutes. Doch es fuhr kein Zug nach irgendwo. Die Gleise waren unterspült. Vielleicht am nächsten Tag so gegen 10.00 Uhr nochmals nachfragen.
Also eine weitere Nacht im Hotel verbringen. Am nächsten Morgen Anruf am Bahnhof, denn inzwischen war das Handy der Hotelbesitzer wieder aktiv. Meins zeigte noch den „Notfall“ an. Es fuhr immer noch kein Zug, die Reparaturen waren in vollem Gange. Außerdem war das egal, denn Hildesheim und mein Umsteigebahnhof waren inzwischen Katastrophengebiet. Der Wasserpegel lag über 7 m, dem Dreifachen des üblichen Wasserstandes. War es der Schreck, der mir den Hexenschuss in den Rücken trieb? Ich wollte nur noch heim.
Hilfe kam von der Hotelbesitzerin. Sie hatte wohl meine unglücklichen Augen gesehen. Da es noch immer keinen Internetzugang gab, rief sie ihre Freundin in Berlin an, die herausfand, dass noch Züge ab Hannover nach Berlin fahren. Es ging ganz schnell. Ich wurde in das Privatauto gebeten und in einer zwei Stunden dauernden Fahrt über Umwege und weitere Sperrungen nach Hannover gebracht. Als ich endlich im Zug saß, fiel eine große Last von mir ab.
Einen Tag später hörte ich, dass sich die Wassermassen Richtung Braunschweig und Hannover bewegten. Ich war gerade noch mal davongekommen.
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