Stolpersteine Bundesplatz 17, früher Kaiserplatz 17

Hausansicht Bundesplatz 17

Die Stolpersteine für Hans und Marion Zellner, Johanna Schlochauer wurden am 20.5.2014 verlegt.

Die Stolpersteine für Helene Davidson, Gerta Lea und Peter Kaiser wurden am 4.6.2021 verlegt und von Sigrun Marks gespendet.

Der Stolperstein für Deby Doba Rybier wurde ebenfalls am 4.6.2021 verlegt und nach einem Aufruf der „Initiative Bundesplatz e.V.“ von Mitgliedern, Nachbarn, engagierten Bürgern, Firmen und Organisationen gespendet.

Stolperstein Marion Zellner

HIER WOHNTE
MARION ZELLNER
GEB. MIESCHEL
JG. 1904
FLUCHT 1937 BELGIEN
VERHAFTET 1943 MARSEILLE
INTERNIERT DRANCY
1944 RAVENSBRÜCK
FLUCHT APRIL 1945
VERSTECKT / ÜBERLEBT

Marion Zellner geb. Mieschel wurde am 13. Januar 1904 in Magdeburg geboren. Sie stammte aus einer protestantischen Familie, ihr Vater war der schon 1907 oder 1908 gestorbene Bürovorsteher der Magdeburgischen Baugewerbegenossenschaft Wilhelm Mieschel, die Mutter war die Klavierlehrerin Anna Luise Margarete Mieschel geb. Dittmann.

Am 30. April 1928 heiratet Marion Mieschel in Magdeburg Herbert Goldschmidt. Marion hat mit der Eheschließung offenbar ihre Arbeit aufgegeben, wie das damals üblich war.

1931 wurde Goldschmidt für die Staatspartei zum Bürgermeister der Stadt Magdeburg gewählt. Damit war er Stellvertreter des sozialdemokratischen Oberbürgermeisters Ernst Reuter, der später als Regierender Bürgermeister von Berlin berühmt wurde.

Am 11. März 1933, eine Woche nach dem Sieg der Nationalsozialisten bei der Reichstagswahl, wurden Goldschmidt und Reuter von SA-Trupps aus dem Rathaus gejagt. Goldschmidt wurde gezwungen, ohne Mantel mit einer Hakenkreuzfahne an der Spitze eines SA-Zugs mit Musik durch Magdeburg zu laufen. Er wurde dabei schwer misshandelt. Beide Männer wurden in sogenannte Schutzhaft genommen und nach drei Stunden freigelassen. Herbert Goldschmidt wurde am 24. April 1933 auf Grund des “Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“, das sich gegen politisch oder rassisch „Unerwünschte“ richtete, fristlos entlassen.

Das Ehepaar verließ Magdeburg nach diesem Vorfall fluchtartig, weil mit weiteren lebensbedrohlichen Anschlägen zu rechnen war. Sie gingen nach Berlin und lebten dort, wie sie in einem ihrer Lebensläufe schrieb, in bescheidensten Verhältnissen, “wo aber weder für meinen Mann noch für mich bei dem jüdischen Namen irgendeine Möglichkeit bestand, eine Existenz aufzubauen. Herbert Goldschmidt bekam nur eine kleine stark gekürzte Pension…“. Marion hat durch Handarbeiten und Stricken etwas zum Lebensunterhalt dazuverdient. Sie versuchte ihren Mann zu überreden, Deutschland zu verlassen, aber wie viele Verfolgte war er der Meinung, das Naziregime werde bald abgewirtschaftet haben und man müsse durchhalten – was sich als Irrtum herausstellte.

Nach Aussagen von Marion war die Ehe der beiden freundlich und harmonisch, aber nicht sonderlich aufregend für eine so junge Frau. Sie hatten geheiratet, als sie gerade 24 Jahre alt war, und er war immerhin 14 Jahre älter. Sie hat sich immer voller Hochachtung und mit Wärme über ihn geäußert. Er war außerordentlich engagiert und ging in seiner beruflichen Tätigkeit auf. Dann kamen die Belastungen der Nazizeit, in denen er offenbar nicht die Kraft fand, die Situation durch Emigration zu verändern.

So kam es, dass sie sich 1936 in einen anderen Mann verliebte: Hans Zellner, der – außer dass er auch Jude war – in nichts Herbert Goldschmidt ähnelte. Hans Zellner wurde am 18. Oktober 1901 in Hannover als Sohn jüdischer Eltern geboren. Der Vater Heinrich Zellner war Chemiker. Seine Mutter hieß Paula. Von 1930 bis 1934 war er Sekretär der Genossenschaft Deutscher Tonkünstler in Berlin. Dort wurde er als Jude entlassen. Anschließend arbeitete er als Bildberichterstatter für verschiedene amerikanische Magazine, auch für LIFE.

Marion brannte im März 1937 mit Hans Zellner nach Belgien durch, nachdem sie Herbert Goldschmidt um die Scheidung gebeten hatte, die er zunächst verweigerte. Er hat aber schließlich selbst im Oktober 1938 die Scheidung eingereicht. Marion wurde im Januar 1939 rechtskräftig schuldig geschieden.

Marion wollte sich aber nicht etwa von Herbert Goldschmidt scheiden lassen, um dem Druck der Nazis zu entgehen, sondern weil sie sich in Hans Zellner verliebt hatte. Sie hat sich bis an ihr Lebensende Vorwürfe wegen dieser Scheidung gemacht. Sie dachte, Herbert Goldschmidt wäre vielleicht durch die Ehe mit ihr geschützt gewesen. Man nannte diese Ehen „privilegierte Mischehen“, die jüdischen Partner waren vor Deportation und Ermordung geschützt. Allerdings wusste man 1936/1937 noch nicht genug darüber, wie weit der Terror und das verbrecherische Ausmaß der Nazis gehen würden. Sie hätte sich vielleicht nicht von Gold-schmidt getrennt, wenn sie gewusst hätte, was passieren würde. Auch nach der Scheidung bemühte sie sich intensiv, Herbert Goldschmidt zu helfen.

Seit 1937 lebte Marion also mit Hans Zellner in Brüssel und arbeitete mit ihm in dem Fotolabor, das sie dort betrieben. Beim Überfall der Nazis auf Polen im August 1939 wurde sie von den belgischen Behörden sofort als deutsche Staatsangehörige über die Grenze nach Deutschland abgeschoben und lebte wieder in Berlin. Hans Zellner blieb in Belgien. Er war offenbar als Verfolgter/Jude geduldet. Sie arbeitete unter ihrem Mädchennamen von 1939 bis Mai 1940 in einem Kunstgewerbegeschäft in der Nürnberger Straße in Berlin.

Sie versuchte dann bis zum Frühjahr 1940, legal nach Belgien zurückzukehren, bekam aber keine Ausreisegenehmigung – mit der Begründung, sie sei ein “unwürdiger Repräsentant des Deutschtums im Ausland”.

Hans Zellner schrieb darüber in einem Brief an seinen Bruder im Herbst 1941):

bq.
Ihr wisst ja, welche Versuche ich gemacht hatte, um Marion nach Brüssel zu bekommen, und nachdem die ganzen Formalitäten damals durchgeführt waren und sie Ende Februar 1940 kommen sollte, ein Stoss von Dokumenten beigebracht war, hat man ihr in letzter Minute die Ausreise verboten. Alles war also umsonst, und ich habe schliesslich einen Waldläufer gechartert, der sie unter abenteuerlichen Umständen am 8. Mai in Brüssel ablieferte. Zwei Tage später waren die Deutschen da – 10.Mai 1940.

Marion und Hans wurden verhaftet und getrennt mit Sammeltransporten nach Südfrankreich geschickt. Marion kam in das Camp von Gurs in den Pyrenäen, und er über mehrere Zwischenstationen in ein Lager nach St. Cyprien am Mittelmeer.
Aus dem Brief von Hans:

bq. Ich wurde verhaftet und mit 8000 Gespielen nach Frankreich gebracht. Dort reizende Aufnahme, die bis heute anhält. Also … im Camp 1, dort freiwillig gemeldet; [dann] … im Camp 2. Kurz vor Beginn der Ausbildung sind die Deutschen in der Nähe und wir landen wieder im Viehwagen – weiter bis an die spanische Grenze am Mittelmeer, 3. Camp: [St.Cyprien]. Dort findet mich Marion durch Rundschreiben. Sie war ebenfalls verhaftet und sass in einem Camp in den Pyrenäen.

Marion wurde am 13. September (nach ihrer eigenen Erinnerung im Oktober) wegen Haftunfähigkeit entlassen. Sie hatte schon von Gurs aus verzweifelt versucht herauszufinden, wo Hans war. Laut Marion war er aus St. Cyprien geflohen, als dort Typhus ausbrach (was in vielen Lagern wegen der schrecklichen sanitären Verhältnisse dauernd passierte).

Marion hatte inzwischen illegal bei einer jüdischen Familie in Mouans Sartoux bei Grasse als Haushälterin gearbeitet; sie erzählte, dass sie häufig mit dem Bus nach Nizza geschickt wurde, um dort einzukaufen. Sie wurde von der Familie schlecht behandelt, die ausnutzte, dass sie illegal war und sich nicht wehren konnte. Hans und Marion lebten nach ihrer „Wiedervereinigung“ Anfang September zwei Monate in der Villa in Cannes zusammen, bis er am 18. November 1940 von der französischen Polizei verhaftet und nun seinerseits in Gurs in den Pyrenäen interniert wurde.

Marion und Hans hatten sich in dieser Zeit – wie viele andere Emigranten in Südfrankreich – bemüht, in die USA auszuwandern. Das war sehr kompliziert, nicht nur, weil man dafür sogenannte Affidavits brauchte (also die Bürgschaft einer dort lebenden Person, die sich verpflichtete, sämtliche anfallenden Kosten für den Einwanderer zu übernehmen); die amerikanischen Konsuln gingen bei ihren Visa-Entscheidungen sehr restriktiv vor. Außer diesem Affidavit brauchte man nicht nur ein US-Visum, sondern auch die Schiffspassage, die Ausreisegenehmigung aus Frankreich, ein Transit-Visum für Spanien und eins für Portugal; außerdem brauchte man – wenn man ein Konto in Frankreich hatte – von den Franzosen eine Genehmigung, sein eigenes Geld abzuheben. Alles zur gleichen Zeit zusammen zu bekommen, und dann noch praktisch ohne Geld, war extrem schwierig, zumal die unterschiedlichen Visen unterschiedliche zeitliche Begrenzungen hatten und oft das erste schon nicht mehr gültig war, wenn das letzte endlich eintraf. Eine verzweifelte Situation!

Marion und Hans erhielten die begehrten Affidavits 1941 mit Hilfe der Quäker, für die Marion später auch bei der Kinderverschickung arbeitete. Sie bekamen auch fast die Visa, mit Hilfe des Emergency Rescue Committee in Marseille; offenbar war sogar die Schiffspassage bezahlt, aber es fehlte immer noch etwas. Hans wurde von Gurs nach Les Milles bei Aix en Provence verlegt, um von dort die Möglichkeit zu haben, sich um die weiteren für die Auswanderung notwendigen Unterlagen zu kümmern. So kam es, dass Marion und Hans am 3. Mai 1941 in Aix en Provence endlich heiraten konnten.

Trotz der erwähnten Hilfen gelang es den beiden nicht, die notwendigen Papiere rechtzeitig zusammenzubekommen. Seit der letzten Verhaftung von Hans, mit dem nach drei Wochen erfolgten Freispruch, waren, wie er in seinem Brief schrieb, die Visa-Bestimmungen verschärft worden. Hans war weiter in Les Milles interniert, und Marion lebte in Marseille im Hotel Touring direkt im Zentrum. Sie bestritt ihren Lebensunterhalt “nur von einer kleinen Unterstützung der Protestantischen Kirche, den Quäkern und von gelegentlichen kleinen Unterstützungen von Freunden aus USA“. Sie schrieb weiter: „Während der ganzen Zeit, in der ich in Frankreich vegetierte, habe ich keinerlei legale Arbeit leisten können“.

Am 13. August 1942 wurde Hans Zellner mit dem zweiten Transport, der von Les Milles abging, mit 538 anderen Gefangenen nach Drancy bei Paris verschleppt. Schon am 19. August 1942 wurde er von Drancy nach Auschwitz deportiert, wie den Transportlisten, die erhalten geblieben sind, zu entnehmen ist. Er wurde offensichtlich dort im Alter von 40 Jahren ermordet. Denn er taucht auf den Lagerlisten und den ebenfalls vorliegenden Listen der Befreiten nicht auf. Das bedeutet, dass er sofort nach seiner Ankunft dort ermordet wurde. Es wurden in solchen Fällen gar keine Lagerakten angelegt.

Am 11. November 1942 marschierte die deutsche Wehrmacht im bisher unbesetzten Süd-Frankreich ein. Marion tauchte im Februar 1943 in Marseille unter, nachdem der Sicherheitsdienst, wie sich die Geheime Staatspolizei dort nannte, mehrfach im Hotel nach ihr gefragt hatte. Französische Hafenarbeiter (Madame Cossedue, 1 rue Bernabos, in Marseille-Eustaque) haben sie, die dann mit einer gefälschten carte d’identité leben musste, bei sich zuhause versteckt und ernährt. Sie wurde am 1. Dezember 1943 bei und mit den Freunden, die sie versteckt hatten, vom Kommandeur der Sicherheitspolizei und des SD in Paris, in Marseille verhaftet – von einem jüdischen Emigranten aus Wien, Arnold Kupferberg, der sie um Hilfe gebeten hatte, an den Sicherheitsdienst verkauft – wie sie schreibt.

Damit begann Marions schrecklicher Weg durch diverse Gefängnisse und Lager – bis zuletzt ins KZ Ravensbrück. Sie wurde verhaftet, weil sie mit einem Juden verheiratet war und musste mit dieser Begründung in den Gefängnissen und Lagern in Frankreich auch den gelben Stern tragen.

Zunächst war sie im Gestapogefängnis les Beaumettes in Marseille, dann drei Monate in Drancy bei Paris, wo sie bei jedem abgehenden Transport damit rechnen musste, mit den Juden nach Auschwitz geschickt zu werden.

Der französische evangelische Geistliche Pasteur Toureille intervenierte schließlich zu ihren Gunsten und erklärte sie “eindeutig als Arierin” und verhinderte so ihren Abtransport nach Auschwitz; danach war sie im Gefängnis Frèsnes bei Paris. Sie schrieb:

bq. Nach einem Monat auf langwierigen Transporten im Gefängnis Frankfurt a.M., Halle an der Saale, Saarbrücken.“ Von dort wurde sie Anfang August 1944 ins Gefängnis in Magdeburg ‘überstellt’.

Briefabdruck Marion Zellner

Am 15. November 1944 wurde sie in das Konzentrationslager Ravensbrück überführt. Dort musste sie statt des gelben Judensterns den schwarz-gelben Winkel tragen, mit dem nicht-jüdische „Rassenschänderinnen“ gekennzeichnet wurden.

Ende April 1945 beim Vormarsch der Roten Armee sollten viele Häftlinge von Ravensbrück in Außenlager im Norden bzw. Westen verlegt werden. Dazu schrieb Marion:
“Ich bin auf einem Transport, der nach dem Lager Rechlin gehen sollte, und der bereits in die völlige Auflösung hineinkam, meine eigenen Wege gegangen” d.h. sie hat sich, wie sie sagte, „in die Büsche geschlagen“ – mitsamt ihrer offenbar aus der Registratur entwendeten KZ-Akte.
“Nach einem zweimonatigen Aufenthalt auf einem mecklenburgischen Gute, der meiner Erholung diente … [bin ich] Nach vielen Mühen und Ängsten … schliesslich im August 1945 in meiner Heimatstadt Magdeburg gelandet,” wo ihr Bruder Manfred mit seiner Familie lebte. Dieser Bruder hatte als Sozialdemokrat jahrelang aktiv gegen die Nazis gearbeitet und hatte nach der Befreiung eine leitende Stelle bei der örtlichen Polizei.

Nachdem sie sich einigermaßen von den schlimmsten Folgen der KZ-Haft erholt hatte, wurde sie ab 17. September 1945 als ärztliche Helferin bei der Gesundheitsverwaltung Magdeburg angestellt.

Sie ging nach Berlin, wo sie beim Hauptausschuss Opfer des Faschismus und beim International Rescue Committee arbeitete und 1949 in die USA. 1955 nahm sie die amerikanische Staatsbürgerschaft an. Sie kehrte 1965/66 nach Deutschland zurück und lebte wieder in Berlin, wo sie kurz vor ihrem 100. Geburtstag am 3. November 2004 gestorben ist.

Text: Katharina-M. Mensing. Aus einem Vortrag im Stadtarchiv Magdeburg am 2. Dezember 2008. Gekürzt und bearbeitet von Helmut Lölhöffel.
Quellen: Gespräche der Autorin mit Marion Zellner, Briefe von Hans Zellner sowie zahlreiche Akten, Unterlagen und Dokumente.

Stolperstein Hans Zellner

HIER WOHNTE
HANS ZELLNER
JG. 1901
FLUCHT 1937 BELGIEN
INTERNIERT LES MILLES
1942 DRANCY
DEPORTIERT 19.8.1942
ERMORDET IN
AUSCHWITZ

Stolperstein Johanna Schlochauer

HIER WOHNTE
JOHANNA
SCHLOCHAUER
GEB. JOSEPH
JG. 1863
DEPORTIERT 29.1.1943
THERESIENSTADT
ERMORDET 28.10.1943

Johanna Schlochauer, geb. Joseph, wurde am 31. Oktober 1863 in Alt-Ukta, Sensburg (Ostpreußen) geboren. Am 29. Januar 1943 wurde sie von Berlin aus nach Theresienstadt deportiert, wo sie am 28. Oktober 1943 im Alter von 80 Jahren starb. Heute wissen wir von den furchtbaren Lebensbedingungen in Theresienstadt, dem Hunger, den Krankheiten und Seuchen, der drangvollen Enge, denen gerade die alten Menschen schutzlos ausgesetzt waren.

Johanna Schlochauer

In Yad Vashem, der Holocaust Gedenkstätte in Jerusalem, ist ein Gedenkblatt für Johanna Schlochauer von ihrem Enkelsohn Yoram Shetzer/Sheffi aus dem Moschaw Moleded zu finden. Während eines Besuchs bei ihm im März 2014 gab er die folgenden Informationen zu Johanna Schlochauer und ihrer Familie:

Wohn- und Geschäftshaus David Schlochauer in Ukta, Sensburg (Ostpreußen)

Wohn- und Geschäftshaus David Schlochauer in Ukta, Sensburg (Ostpreußen)

In den 1880er Jahren heiratete sie in Ukta den Kaufhausbesitzer David Schlochauer. Ukta entwickelte sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu einer größeren Ansiedlung, wodurch es auch zum Aufschwung des Handels kam.

Der erste Sohn, Moritz, wurde im September 1886 in Ukta geboren. Er fiel 1917 als Soldat des 45. Infanterie-Regiments. Die Tochter Lena wurde im Februar 1888 geboren, im Juli 1892 die Tochter Ella, in den folgenden Jahren kamen sechs weitere Kinder zur Welt. Nach dem Tod ihres Mannes 1924 blieb Johanna Schlochauer noch bis in die 1930er Jahre in Ukta, zog dann erst nach Berlin.

Ella Shetzer mit Sohn Joram und Tochter Renate, etwa 1925 in Ukta

Ella Shetzer mit Sohn Joram und Tochter Renate, etwa 1925 in Ukta

Ihre Tochter Ella heiratete Georg Shetzer, der das Geschäft von David Schlochauer nach dessen Tod übernahm. 1920 wurde der Sohn Yoram, 1921 die Tochter Renate geboren, beide noch in Ukta. 1930 starb Georg Shetzer.

Yoram wurde nach Nordhausen in ein Internat der Odenwaldschule, 1936 dann in ein Internat in die Schweiz geschickt. Dort blieb er bis 1939, wurde mit Ausbruch des Zweiten Weltkrieges aus der Schweiz ausgewiesen und konnte 1940 noch mit dem letzten italienischen Schiff Palästina erreichen. Während des Krieges kämpfte er in den jüdischen Brigaden der britischen Armee und lebte nach der Gründung des Staates Israel mit seiner Frau Batya, zwei Söhnen und einer Tochter in dem 1937 von deutschen Juden gegründeten Moschaw Moleded im Unteren Gallil.

Ella Shetzer mit Sohn Joram und Tochter Renate, etwa 1936 in Berlin

Ella Shetzer mit Sohn Joram und Tochter Renate, etwa 1936 in Berlin

Yorams Mutter Ella Shetzer kam mit seiner Schwester Renate ebenso wie seine Großmutter Johanna Schlochauer in den 1930er Jahren nach Berlin, wo er sie in einer Wohnung in der Nähe des Kurfürstendamms besuchte. Leider erinnerte er sich nicht mehr an den Straßennamen. Seine Mutter und Schwester blieben aber nur für kurze Zeit und flohen dann vor der Judenverfolgung nach Holland und von dort nach Ausbruch des Krieges nach England. Ella kehrte jedoch nach Holland zurück. Seine Schwester Renate erhielt in England die Möglichkeit, mit einer Gruppe junger Erwachsener nach Palästina zu fliehen, fuhr aber, um sich von ihrer Mutter zu verabschieden, nochmals nach Holland.

Ella Shetzer

Ella Shetzer

Dort wurden beide im Januar 1944 von den Nationalsozialisten verhaftet und über Westerbork nach Bergen-Belsen deportiert. Ella starb am 6. März 1945 im Alter von 53 Jahren an Typhus.

Renate Shetzer

Renate Shetzer

Renate am 18. April 1945 im Alter von 24 Jahren auf dem Todesmarsch in Torgau.

Andere Kinder haben die Shoah überlebt. Rosa, Gustav und Frieda konnten 1933,1934 und 1936 nach Palästina entfliehen. Johanna Schlochauer hat sie dort noch 1936 besucht, war aber entgegen den Bitten ihrer Kinder nach Deutschland zurückgekehrt.

Lena (verheiratete Davidson) wohnte seit 1939 bis zu ihrem Untertauchen Ende 1942 mit ihrer Mutter im Vorderhaus parterre zur Untermiete bei der in einer von den Nazis so genannten „privilegierten Mischehe“ lebenden Gerta Lea Kaiser, geb. Lipsky. Mit Hilfe von Hermann Kleinjung, eines der stillen Helden, die verfolgten Juden beistanden, konnte Lena in einem Versteck in Berlin überleben. Nach der Befreiung ging sie in die USA zu ihrem Mann und ihren drei Kindern, die sich vor dem Krieg dorthin hatten retten können.

Yoram Shetzer mit seiner Frau Batja im Moschaw Moledad im unteren Gallil 1998

Yoram Shetzer mit seiner Frau Batja im Moschaw Moledad im unteren Gallil 1998

Der 93jährige Yoram Shetzer/Sheffi und sein Sohn Shaul haben Informationen und Fotos zu dieser Biografie und zur Familiengeschichte beigesteuert. Ihm ist es vergönnt, nach dem schmerzhaften Verlust von Großmutter, Mutter und Schwester durch die Shoah nun im Alter eingebettet zu sein in einem großen Familienkreis mit Kindern, Enkeln und Urenkeln.

Aus den Archiven in Berlin und Brandenburg ist zu ersehen, dass Johanna Schlochauer für kurze Zeit zunächst in Charlottenburg in der Mommsenstraße 4 zur Untermiete bei Alice Wallach wohnte und dann nach Wilmersdorf zum Kaiserplatz 17 zog. Von hier wurde sie am 29. Januar 1943 nach Theresienstadt deportiert, wo sie am 28. Oktober 1943 ums Leben gebracht worden ist.

Zum Gedenken an Alice Wallach und Elisabeth Herbst, die ersten Berliner Mitbewohnerinnen Johanna Schlochauers, liegen zwei Stolpersteine an der Mommsenstraße 4 .

Recherche und Text: Sigrun Marks (Stolpersteininitiative Stierstraße, Berlin-Friedenau)

Stolperstein Helene Davidson

HIER WOHNTE
HELENE DAVIDSON
GEB. SCHLOCHAUER
JG. 1888
SEIT OKT. 1942
VERSTECKT GELEBT
1943 NECKARGEMÜND
MIT HILFE ÜBERLEBT

Helene Davidson wurde als erste Tochter von Johanna und David Schlochauer am 17. Februar 1888 in Alt-Ukta/Sensburg in Ostpreußen geboren. Sie hatte fünf Geschwister – die Brüder Moritz und Gustav sowie die Schwestern Ella, Rosa und Frieda.

Am 18. November 1906 heiratete sie in London den Kaufmann Adolf Davidson und wanderte mit ihm nach San Salvador aus. Sie gebar vier Kinder, trennte sich 1920 von ihrem Mann und kehrte mit ihren Kindern nach Deutschland zurück. Bis etwa 1933/1934 lebte sie mit ihnen in Berlin-Charlottenburg in einer Villa in der Kastanienallee 9.

Da ihre Kinder wegen des NS-Regimes Deutschland wieder verließen und nach San Salvador zurückkehrten, verließ sie ihre Villa und zog in den folgenden Jahren zu verschiedenen Familien als Untermieterin, Ende der 30er Jahre hierher zum Bundesplatz 17 (damals Kaiserplatz 17) in die Wohnung ihrer Cousine Gerta Lea Kaiser. Ihre Villa in der Kastanienallee 9 wurde von Nazis geplündert.

Von 1928 – 1942 arbeitete sie als spanische Korrespondentin bei der Firma Reuther & Co (Exportgeschäft) in der Meineckestraße 6 in Berlin-Charlottenburg. Im September 1939 musste die Firma sie als Jüdin in ihrem Gehalt zurückstufen, erhielt aber eine Spezialerlaubnis, sie weiter zu beschäftigen, da sie Außenstände von südamerikanischen Schuldnern eintreiben sollte. Zum 1. Oktober 1942 musste die Firma sie wegen ihrer jüdischen Herkunft aber doch entlassen.

Anfang Oktober 1942 sollte Helene Davidson von der Gestapo abgeholt werden. Sie war zufällig nicht zuhause und konnte nach der Warnung durch Gerta Lea Kaiser mit Hilfe des „Stillen Helden“ Hermann Kleinjung, der ebenfalls bei Reuther & Co beschäftigt war, in einer Wohnung in der Krummen Straße in Charlottenburg untertauchen. Gerta Lea Kaiser konnte sie mit Lebensmitteln versorgen. Im August 1943 wurde das Haus durch eine Bombe zerstört. Wieder mit der Hilfe von Hermann Kleinjung konnte Helene Davidson sich im September 1943 unter falschem Namen mit einem befreundeten Ehepaar nach Süddeutschland retten.

In ihrem in den 50er Jahren geführten Restitutionsverfahren gab sie zu Protokoll:

bq. Da ich mich in Berlin, ohne schließlich entdeckt zu werden – ganz zu schweigen von der Frage der heimlichen Lebensmittelversorgung – nicht mehr halten konnte, schloss ich mich meinen Freunden und Leidensgenossen, (…) dem Rechtsanwalt und Notar Dr. Siegfried Bieberfeld und seiner Frau Johanna, geborene Traub, an und floh mit ihnen nach Heidelberg, bzw. der Stadt Neckargmünd. Auch dort führte ich, gemeinsam mit den Eheleuten Bieberfeld, ein geheimes Leben, Tag und Nacht von Ängsten, entdeckt und deportiert zu werden, umschwebt.(…) Im Ganzen habe ich vom 12. Oktober 1942 bis zum 1. Mai 1945 im Untergrund gelebt, also zusammen 933 Tage.

1946 wanderte Helene Davidson in die USA aus und zog Ende 1952 zu ihren Kindern nach San Salvador. Dort ist sie am 3. Dezember 1970, 82jährig, verstorben. In ihren letzten Lebensjahren konnte sie von der Rente leben, die sie in einem aufwändigen Restitutionsverfahren von den Berliner Behörden erkämpft hatte.

Recherche/Text: Sigrun Marks, (Stolpersteininitiative Stierstraße, Berlin-Friedenau) Quellen:
  • Landesarchiv Berlin,
  • Archiv Stille Helden,
  • Familien Chronik

Stolperstein Gerta Lea Kaiser

HIER WOHNTE
GERTA LEA KAISER
GEB. LIPSKY
JG. 1891
VERHAFTET JAN. 1943
WEGEN PFLEGE DES
BEHINDERTEN SOHNS
ENTLASSEN JAN. 1943
SEIT AUG. 1943
VERSTECKT ÜBERLEBT

Gerta Lea Kaiser geb. Lipsky, geb. am 23.5.1891 in Osterode (Ostpreußen) war eine Nichte von Johanna Schlochauer, also eine Cousine von Helene Davidson. Sie war verheiratet mit Franz Kaiser, katholisch. Die Ehe wurde 1922 geschieden. Der 1917 geborene, gemeinsame Sohn Peter war geistig behindert und lebte im Evangelischen Johannesstift. Sie war Zahnärztin und hatte ihre Praxis in dem Haus Bundesplatz 17 (ehemals Kaiserplatz 17), in dem sie auch wohnte. Ihre Praxis wurde 1937 konfisziert.

Seit Ende der 30er Jahre wohnten Johanna Schlochauer und deren Tochter Helene, verheiratete Davidson, bei ihr zur Untermiete in zwei möblierten Zimmern.

Gerta Lea Kaiser wurde im Februar 1943 verhaftet und in die Große Hamburger Straße gebracht, wurde aber aufgrund der gerichtlichen Pflegschaft ihres behinderten Sohnes aus dem Sammellager wieder entlassen. Im August 1943 tauchte sie mit ihrem Sohn unter. Mutter und Sohn fanden bei dem ihr bekannten Ehepaar Karl und Helen Schulz Unterschlupf. Karl Schulz war Ufa Regisseur und stellte ihnen für die gesamte Zeit ihrer Illegalität bis zum Kriegsende ihr Wochenendholzhäuschen in Groß Köris im Kreis Teltow in Brandenburg zur Verfügung und versorgte sie zum Teil auch mit Lebensmitteln. Auch erhielt sie die Hilfe von zwei Friedenauer Familien, die ihr Lebensmittel zukommen ließen.

Sie wurde am 29. Januar 1946 vom Magistrat der Stadt Berlin als „Opfer des Faschismus” anerkannt. Nach dem Krieg lebte sie am Bundesplatz 11 (ehemals Kaiserplatz 11), In den 50er Jahren am Hohenzollerndamm. Sie unterstützte Helene Davidson durch Zeugenaussagen beim Restitutionsverfahren.

Über ihren weiteren Lebensweg und den ihres Sohnes Peter haben wir leider nichts recherchieren können.

Recherche und Text: Sigrun Marks, (Stolpersteininitiative Stierstraße, Berlin-Friedenau) Quellen:
  • Landesarchiv Berlin,
  • Zentrum Judaicum,
  • Archiv Stille Helden,
  • Familien Chronik

Stolperstein Peter Kaiser

PETER KAISER
JG. 1917
MIT DER MUTTER
VERSTECKT ÜBERLEBT

Peter Kaiser wurde 1917 als einziger Sohn der jüdischen Gerta Kaiser geb. Lipsky, und ihres katholischen Mannes Franz Kaiser geboren. Das Kind war gelähmt und geistig zurückgeblieben.

Die Ehe wurde 1922 geschieden. Bis 1933 gehörte Peter keiner Religionsgemeinschaft an (Discident) und lebte im „Evangelischen Johannesstift”. Dann ließ Gerta Kaiser ihn zum Juden erklären. Sie schrieb dazu im Rahmen ihres Anerkennungsverfahrens als „Opfer des Faschismus“ im Fragebogen des Magistrats der Stadt Berlin, Hauptausschuss “Opfer des Faschismus” im Oktober 1945:

bq. Ich ließ meinen Sohn der gelähmt u. geistig etwas zurück geblieben ist, 1933 … zum Juden erklären, mußte aber wieder den Austritt aus der jüd. Gemeinde erbitten, da mich die Oberschwester des “Ev. Johannesstiftes” …darauf aufmerksam machte, daß mein Sohn als Jude keine Aufnahme mehr im Johannesstift finden würde und er einem sehr ungewissen Schicksal entgegengehen würde. Die Angst vor dem getötet werden meines Jungen überwog alles andere. Er wurde wiederDiscident. … Janua® 43 wurde ich mit meinen Verwandten und Bekannten, die in meiner Wohnung wohnten, durch die “… Aktion” nach der Gr. Hamburger gebracht; wurde aber auf Grund der „gerichtlichen Pflegschaft” meines Sohnes durch die Burgsh. (Bürgschaft?) wieder entlassen. Von August 43 mußte ich wegen einer für mich und meinen Sohn sehr kritischen Lage illegal leben. Der Ufaregisseur Carl Schulz stellte mir im Walde ein kleines Holzhaus zur Verfügung…. Ich lebte ein und dreiviertel Jahr mit meinem gelähmten Jungen illegal.
(Quelle: Archiv Centrum Judaicum)

Peter Kaiser lebte mit seiner Mutter Gerta Lea Kaiser von August 1943 bis zum Kriegsende versteckt in einem Wochenendhäuschen in Groß Köris im Kreis Teltow in Brandenburg, das Freunde seiner Mutter ihnen zur Verfügung gestellt hatten. Über seinen weiteren Lebensweg nach dem Krieg konnte nichts herausgefunden werden.

Recherche und Text: Sigrun Marks, (Stolpersteininitiative Stierstraße, Berlin-Friedenau) Quellen:
  • Landesarchiv Berlin,
  • Centrum Judaicum,
  • Archiv Stille Helden,
  • Familien Chronik

Stolperstein Deby Doba Rybier

HIER WOHNTE
DEBY DOBA RYBIER
GEB. EPSTEIN
JG. 1884
DEPORTIERT 6.3.1943
ERMORDET IN
AUSCHWITZ

Deby Doba Rybier – in einigen Dokumenten wird auch ihr dritter Vorname Chaja genannt – wurde als Deby Doba Chaja Epstein am 15. Dezember 1884 in Wischnewa geboren. Der Ort gehörte im Laufe der polnischen Teilungen und regionalen Auseinandersetzung unterschiedlichen Staatsgebieten an und liegt heute in Weißrussland. Er ist auch der Geburtsort des späteren israelischen Staatspräsidenten und Friedensnobelpreisträgers Schimon Peres.

Gemäß Ergänzungskarten zur Volkszählung 1939 lebte sie am Kaiserplatz 17 zusammen mit ihrem am 7. Januar 1877 geborenen Mann Louis und der am 4. Januar 1911 geborenen Tochter Helene. Ihr Mann Louis ist am 16. August 1941 im Konzentrationslager Buchenwald umgekommen. Über den Verbleib der Tochter ist nichts weiter bekannt.

Laut Vermögenserklärung war Deby Rybier zuletzt Zwangsarbeiterin bei der Firma Elite in Berlin-Tempelhof in der Friedrich-Wilhelm Straße 52/4. 1974 bat das Landgericht Hamburg um Übersendung der Vermögenserklärung vom 5. März 1943 in der Rückerstattungssache Enrique Rybier gegen das Deutsche Reich. Ob es sich dabei um ihren Sohn oder Enkel gehandelt hat, ist nicht bekannt.

Deby Rybier wurde am 6. März 1943 mit dem sogenannten „35. Osttransport“ zusammen mit weiteren 662 Menschen aus Berlin nach Auschwitz deportiert und dort ermordet.

Recherche und Text: Birgitta Berhorst und Friedrich Berghald
Quellen: Gedenkbuch des Bundesarchivs,
Deportationsliste des „35. Osttransports“, 35. Osttransport (statistik-des-holocaust.de)