Stolpersteine Giesebrechtstraße 15

Hauseingang Giesebrechtstr. 15

Hauseingang Giesebrechtstr. 15

Vor dem Haus Giesebrechtstraße 15 wurden am 22.10.2004 Stolpersteine für Lotte, Waldemar, Lissy Ingeborg Wagner und Agnes Schlawanski verlegt. Sie wurden von Raymond Bacharach, Susanne Burghardt-Plewig, Dieter Königer, Prof. Dr. Klaus Pohle, Karin und Peter Stobbe, Heinz-Jürgen Wolf gespendet.

Am 08.05.2011 wurde der Stolperstein für Marion Ehrlich verlegt und von David Eckel gespendet.

Stolperstein für Lotte Wagner

Stolperstein für Lotte Wagner

HIER WOHNTE
LOTTE WAGNER
GEB. SCHLAWANSKI
JG. 1895
DEPORTIERT 1943
ERMORDET IN
AUSCHWITZ

Lotte Schlawanski kam am 8. September 1895 als einziges Kind von Siegfried Schlawanski (1858–1927) und seiner Ehefrau Agnes geb. Portheim (1870–1942) in Friedland, einer Kleinstadt in der Mecklenburgischen Seenplatte, auf die Welt. Ihr Vater besaß in der Kaiserstraße ein Geschäft für Accessoires wie Hüte und Gürtel, das stetig größer wurde und in den 1920er-Jahren „Putz-, Konfektions-, Weiß- und Wollwaren“ anbot. Das Ehepaar Schlawanski lebte in einer 5-Zimmer-Wohnung. Lottes Sohn Klaus Peter Wagner, der seine Großmutter in den Schulferien besuchte, erinnerte sich sehr viel später an eine Angestellte und zwei Lehrmädchen. Der Familie muss es gut gegangen sein.

Lotte Schlawanskis Mutter hatte zwei Schwestern: Die 1869 geborene Rosa und die 1873 geborene Elise. – Die Tante Elise, verheiratet mit Richard Moses, lebte zuletzt ebenfalls in Berlin. Sie wurde 1944 in Auschwitz ermordet. In der Konstanzer Straße 3 erinnert ein Stolperstein an die Tante und den Onkel.

Im Oktober 1922 heiratete Lotte Schlawanski den Kaufmann (Simon) Waldemar Wagner, geboren am 17. Januar 1880 in Frankenstein in Schlesien (heute Ząbkowice Śląskie in Polen). Die Familie Wagner handelte in Frankenstein, Habelschwerdt (heute Bystrzyka Kłodzka/Polen) und Breslau, dem Hauptsitz der großen Firma, mit Getreide. Waldemar Wagner besaß gemeinsam mit seinen Brüdern Heinrich (1871–1935) und Moritz (1874–vor 1945 ermordet) die Firma in Breslau.

Lotte Wagner und ihr Ehemann wohnten anfangs in der Uhlandstraße 146. Dort wurden auch die beiden Kinder geboren, am 22. September 1923 der Sohn Klaus Peter und am 12. Dezember 1925 die Tochter Lissy Ingeborg.
1927 zog die wohlhabende Familie Wagner in die Giesebrechtstraße 15, Ecke Sybelstraße, das Haus gehörte der Firma. Dort wohnte sie in einer 8-Zimmer-Wohnung in der Bel Etage, dem besonders repräsentativ ausgestatteten ersten Stockwerk. Zur entsprechenden Einrichtung gehörte ein Konzertflügel. Lotte Wagner wird sicherlich ein oder mehrere Dienstmädchen gehabt und den Haushalt vor allem gemanagt haben. Die Familie besaß einen großen Bekannten- und Freundeskreis, darunter viele nichtjüdische Freunde. Nur ein paar Häuser weiter wohnten in der Giesebrechtstraße 18 der Schwager Löbel Wagner (1870–1934) mit seiner Ehefrau Zerel Lucie Wagner (1883–1943), an die ebenfalls ein Stolperstein erinnert.

Auch Lotte Wagner besaß Vermögen und Aktien: Sie war bis 1934/35 Miteigentümerin und Aufsichtsrätin einer Brotfabrik und konnte monatlich eine große Summe Geld aus der Firma entnehmen. Zu Hause in Berlin und Schlesien, erfolgreich und wohlhabend, dachten sie und ihr Ehemann nicht an Emigration.

Das änderte sich nach dem Pogrom vom November 1938. Lotte Wagners Mutter Agnes Schlawanski zog aus Friedland zur Familie ihrer Tochter, und sie versuchten gemeinsam zu emigrieren. Sohn Klaus Peter Wagner wurde 1939 mit einem Kindertransport nach Großbritannien geschickt.
Bis 1941 konnte die Familie in der 8-Zimmer-Wohnung bleiben, dann musste sie innerhalb des Hauses in kleinere Wohnungen umziehen. Waldemar Wagner und die Tochter Lissy mussten Zwangsarbeit leisten. Die Häuser wurden beschlagnahmt. Alle Versuche, nach Uruguay, China oder in die USA zu emigrieren, scheiterten.

Am 2. September 1942 wurde Lotte Wagners Mutter Agnes Schlawanski deportiert. Die Familie bezog im Oktober ihre letzte Wohnung in der Giesebrechtstraße 15. Ende Februar 1943 ging Lotte Wagners Familie in die Illegalität. Die Nachbarin Frau von Willesen, die ihnen schon länger geholfen hatte, vermittelte ein Versteck: Die Familie konnte bei Irene Kleber, deren ehemaliger Gesellschafterin, in der Goethestraße 14a für 90 RM monatlich ein Zimmer mieten. Dort (über)lebte Lotte Wagner mit Ehemann und Tochter noch ein halbes Jahr.

Über diese Zeit gibt es nur einen Bericht, basierend auf den Erinnerungen von Irene Kleber, die später als „unbesungene Heldin“ gewürdigt werden wollte und auch wurde. Ihre Rolle als „Vermieterin“ und damit als gut bezahlte Helferin, schien (scheint?) manchem ein Problem. – Geschildert wird dies von Isabel Enzenbach in einem Kapitel mit dem Titel „Die Vermieterin“ in dem Band „Überleben im Dritten Reich“.

Am 23. August 1943 wurden Lotte, Waldemar und Lissy Wagner verhaftet. Über den „Verrat“ lässt sich nur spekulieren. Die Familie blieb fast drei Wochen im Sammellager in der Großen Hamburger Straße. Am 10. September 1943 wurden Lotte Wagner, ihr Ehemann und ihre Tochter nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. – Der Vermieterin Irene Kleber passierte nichts.

Lotte und Waldemar Wagners Sohn Klaus Peter lebte seit 1953 in den USA, verheiratet und Vater von drei Kindern. Er berichtete später vom Leben seiner Familie und ergänzte gemeinsam mit seiner Familie die Angaben auf dem Grabstein in Friedland, der nun an seine Großeltern Schlawanski, seine Eltern und seine Schwester erinnert. Klaus Peter Wagner ist am 19. Juni 2019 in Miami gestorben.

Biografische Zusammenstellung
Dr. Dietlinde Peters, Recherchen: Nachlass Wolfgang Knoll

Weitere Quellen
Berliner Telefonbücher;
Breslauer Adressbücher,
Isabel Enzenbach: Die Vermieterin, in Wolfgang Benz (Hrsg.): Überleben im Dritten Reich, Juden im Untergrund und ihre Helfer, München 2003, S. 185–197
Find A Grave-Index 1600 bis heute, über ancestry: Daten/Grabstein der Familie Portheim/Wagner in Friedland;
Norbert Francke / Bärbel Krieger: Die Familiennamen der Juden in Mecklenburg: Mehr als 2000 jüdische Familien aus 53 Orten der Herzogtümer Mecklenburg-Schwerin und Mecklenburg-Strelitz im 18. und 19. Jahrhundert. Schriften des Vereins für jüdische Geschichte und Kultur in Mecklenburg und Vorpommern e. V., Verein für jüdische Geschichte und Kultur in Mecklenburg und Vorpommern e.V., Schwerin 2001;
Norbert Francke/Bärbel Krieger: Schutzjuden in Mecklenburg, Schwerin 2002;
HU Datenbank jüdischer Gewerbebetriebe in Berlin 1930-1945;
Jewish Transmigration Bureau (JDC) 1940–1942, Einzahlungskarten, digitalisiert;
https://www.geni.com/people/;
https://www.juedische-gemeinden.de;
sztetl.org.pl.

Von der Koordinierungsstelle Stolpersteine Berlin

Stolperstein für Waldemar Wagner

Stolperstein für Waldemar Wagner

HIER WOHNTE
WALDEMAR
WAGNER
JG. 1880
DEPORTIERT 1943
ERMORDET IN
AUSCHWITZ

(Simon) Waldemar Wagner kam am 17. Januar 1880 in Frankenstein in Schlesien (heute Ząbkowice Śląskie in Polen) als jüngstes von sechs Kindern des Kaufmanns Markus Wagner und seiner Ehefrau Lina geb. Ellguth (auch Linna Elguther) auf die Welt. Frankenstein, ungefähr 60 km südwestlich von Breslau (heute Wrocław/Polen) hatte 1880 um die 8000 Einwohner, nur etwa zwei Prozent waren Juden. Die Familie Wagner handelte über mehrere Generationen in Frankenstein, Habelschwerdt (heute Bystrzyka Kłodzka/Polen) und Breslau, dem Hauptsitz der großen Firma, mit Getreide.
Waldemar Wagners Brüder Heinrich (1871–1935) und Moritz (1874–?, vor 1945 ermordet) blieben in Schlesien. Die Brüder Löbel (1870–1934) und Louis (1877–1943 London) sowie die Schwester Regina (1872–1942 ermordet) gingen wie Waldemar nach Berlin.

Waldemar Wagner war gemeinsam mit seinen Brüdern Heinrich und Moritz Eigentümer der Firma in Breslau. Im Oktober 1922 heiratete er die 1895 in Friedland/Mecklenburg geborene Lotte Schlawanski. Das Ehepaar wohnte anfangs in der Uhlandstraße 146. Dort wurden auch die beiden Kinder geboren, am 22. September 1923 der Sohn Klaus Peter und am 12. Dezember 1925 die Tochter Lissy Ingeborg.

1927 zog die Familie in die Giesebrechtstraße 15, Ecke Sybelstraße, das Haus gehörte der Firma Wagner. In der Bel Etage, dem besonders gut ausgestatteten ersten Stock, bewohnte Waldemar Wagner mit Frau und Kindern eine 8-Zimmer-Wohnung. Die wohlhabende Familie besaß einen großen Bekannten- und Freundeskreis, darunter viele nichtjüdische Freunde. Nur wenige Häuser entfernt lebten in der Giesebrechtstraße 18 der Bruder Löbel Wagner und seine Frau Zerel Lucie (1883–1943). 1932 gründete Waldemar Wagner eine eigene Firma für den Handel mit Getreide und Futtermitteln. Die 1939 aufgelöste Firma besaß eine Geschäftsadresse im Bürohaus Börse in der Burgstraße und seit 1936 Räume in der Giesebrechtstraße 15 mit einem Lager im Westhafen. In der Fontanestraße 17 im Grunewald erbte er zudem in dieser Zeit mit seinem Bruder Moritz und der Witwe des Bruders Heinrich ein Haus.

Zu Hause in Berlin und Schlesien, erfolgreich und wohlhabend, dachte Waldemar Wagner in den ersten Jahren nach 1933 nicht an Emigration. Nach dem Pogrom vom November 1938 änderte er seine Meinung. Die Familie versuchte gemeinsam mit der aus Friedland zugezogenen Schwiegermutter Agnes Schlawanski zu emigrieren. Sohn Klaus Peter Wagner wurde 1939 mit einem Kindertransport nach Großbritannien geschickt. Bis 1941 konnte die Familie in der 8-Zimmer-Wohnung bleiben, dann musste sie innerhalb des Hauses in kleinere Wohnungen umziehen. Die Nachbarin Frau von Willesen half beim Verkauf der Möbel und lagerte den Rest auf den eigenen Namen bei einer Spedition ein. Waldemar Wagner musste als Zwangsarbeiter bei der Jüdischen Gemeinde und, wie seine Tochter Lissy, bei der Firma Horst Weinreich in Kreuzberg arbeiten. Seine Häuser wurden beschlagnahmt. Alle Versuche, nach Uruguay, China oder in die USA zu emigrieren, scheiterten.
Am 2. September 1942 wurde die Schwiegermutter Agnes Schlawanski deportiert. Die Familie bezog im Oktober ihre letzte Wohnung in der Giesebrechtstraße 15. (Untermieter war Dr. Richard Treitel (1879–1947), vor 1933 ein bekannter Jurist und Journalist und ein Verwandter von Martha Treitel, für die es einen Stolperstein am Savignyplatz 4 gibt.)

Ende Februar 1943 verließ Waldemar Wagners Familie das Haus in der Giesebrechtstraße und ging in die Illegalität. Die Suche nach einem Versteck war schwierig, aber mit Hilfe von Frau von Willesen konnte sie bei deren ehemaliger Gesellschafterin Irene Kleber in der Goethestraße 14a für 90 RM monatlich ein Zimmer mieten. Dort (über)lebten Waldemar Wagner, seine Ehefrau Lotte und die Tochter Lissy noch ein halbes Jahr. Über diese Zeit gibt es nur einen Bericht, basierend auf den Erinnerungen von Irene Kleber, die später als „unbesungene Heldin“ gewürdigt werden wollte und auch wurde. Ihre Rolle als „Vermieterin“ und damit als gut bezahlte Helferin, schien (scheint?) manchem ein Problem. – Geschildert wird dies von Isabel Enzenbach in einem Kapitel mit dem Titel „Die Vermieterin“ in dem Band „Überleben im Dritten Reich“.

Am 23. August 1943 wurden Waldemar Wagner, Ehefrau Lotte und Tochter Lissy verhaftet. Wer sie verraten hat? Die Familie blieb fast drei Wochen im Sammellager in der Großen Hamburger Straße. Am 10. September 1943 wurden Waldemar, Lotte und Lissy Wagner nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. – Der Vermieterin Irene Kleber passierte nichts.
Waldemar Wagners Sohn Klaus Peter lebte seit 1953 in den USA, verheiratet mit Yvonne Braunsberg und Vater von drei Kindern. Er berichtete später vom Leben seiner Familie und ergänzte gemeinsam mit seiner Familie die Angaben auf dem Grabstein in Friedland, der nun an seine Großeltern Schlawanski, seine Eltern und seine Schwester erinnert. Klaus Peter Wagner ist am 19. Juni 2019 in Miami gestorben.

Biografische Zusammenstellung
Dr. Dietlinde Peters, Vorrecherchen: Wolfgang Knoll

Weitere Quellen
Berliner Telefonbücher;
Breslauer Adressbücher;
Isabel Enzenbach: Die Vermieterin, in Wolfgang Benz (Hrsg.): Überleben im Dritten Reich, Juden im Untergrund und ihre Helfer, München 2003, S. 185–197;
Find A Grave-Index 1600 bis heute, über ancestry: Daten/Grabstein der Familie Portheim/Wagner in Friedland;
Norbert Francke / Bärbel Krieger: Die Familiennamen der Juden in Mecklenburg: Mehr als 2000 jüdische Familien aus 53 Orten der Herzogtümer Mecklenburg-Schwerin und Mecklenburg-Strelitz im 18. und 19. Jahrhundert. Schriften des Vereins für jüdische Geschichte und Kultur in Mecklenburg und Vorpommern e. V., Verein für jüdische Geschichte und Kultur in Mecklenburg und Vorpommern e.V., Schwerin 2001;
Norbert Francke / Bärbel Krieger: Schutzjuden in Mecklenburg, Schwerin 2002;
HU Datenbank jüdischer Gewerbebetriebe in Berlin 1930-1945;
Jewish Transmigration Bureau (JDC) 1940–1942, Einzahlungskarten, digitalisiert;
Landesarchiv Berlin, Personenstandsunterlagen/über ancestry;
https://www.geni.com/people/;
https://www.juedische-gemeinden.de;
sztetl.org.pl.

Von der Koordinierungsstelle Stolpersteine Berlin

Stolperstein für Lissy Ingeborg Wagner

Stolperstein für Lissy Ingeborg Wagner

HIER WOHNTE
LISSY INGEBORG
WAGNER
JG. 1925
DEPORTIERT 1943
ERMORDET IN
AUSCHWITZ

Lissy Ingeborg Wagner kam am 12. Dezember 1925 in Berlin als Tochter des Kaufmanns Waldemar Wagner (1880–1943) und seiner Ehefrau Lotte geb. Schlawanski (1895–1943) auf die Welt. Ihr Vater stammte aus Frankenstein in Schlesien (heute Ząbkowice Śląskie in Polen). Seine Familie handelte seit mehreren Generationen mit Getreide. Er hatte vier Brüder und eine Schwester, die später teils in Schlesien, teils in Berlin lebten. Lissy Wagners Mutter stammte aus Friedland in Mecklenburg und war ebenfalls das Kind einer Kaufmannsfamilie, die gutsituiert war, aber wohl nicht so wohlhabend wie die Familie des Vaters.

Ihr Vater war gemeinsam mit seinen Brüdern Heinrich (1871–1935) und Moritz (1874–vor 1945 ermordet) Eigentümer der großen Getreidefirma mit dem Hauptsitz in Breslau. Die Eltern hatten 1922 geheiratet. Die Familie wohnte anfangs in der Uhlandstraße 146, dort wurde am 22. September 1923 auch ihr Bruder Klaus Peter geboren.

1927 zog die Familie in die Giesebrechtstraße 15. Dort lebte Lissy Wagner bis zum Frühjahr 1943, die letzten zehn Jahre ihres Lebens waren geprägt von der NS-Diktatur. Sie wohnte mit Eltern und Bruder in einer 8-Zimmer-Wohnung, sicherlich mit einem eigenen Zimmer. Die Familie besaß viele Bekannte und Freunde. Nicht weit entfernt lebten die „Berliner“ Verwandten: So in der Giesebrechtstraße 18 Lissy Wagners Onkel Löbel Wagner (1870–1934) mit seiner Ehefrau Zerel Lucie Wagner (1883–1943). – Mit wem das Kind Lissy gespielt hat, wer die Mitschülerinnen waren, können die Adressbücher leider nicht berichten.

Von 1932 bis 1936 besuchte Lissy Wagner die 20. Volksschule in der Bleibtreustraße, heute Joan-Miró-Grundschule. Danach wechselte sie zur jüdischen Privatschule von Toni Lessler am Roseneck und von dort zur Privatschule von Dr. Leonore Goldschmidt, ebenfalls am Roseneck. Zuletzt besuchte sie die Oberschule der Jüdischen Gemeinde in der Wilsnackerstraße. Staatliche Schulen durfte sie als Jüdin nicht mehr besuchen, und 1942 endete der Schulbesuch ganz. Stattdessen musste sie wie ihr Vater Zwangsarbeit bei der Firma Horst Weinreich in Kreuzberg leisten.
Bis zum Pogrom vom November 1938 dachten die Eltern nicht an Emigration. Dann zog die Großmutter Agnes Schlawanski aus Friedland zur Familie Wagner und die Familie versuchte gemeinsam zu emigrieren. Bruder Klaus Peter, der das Schiller-Realgymnasium besucht hatte, wurde 1939 mit einem Kindertransport nach Großbritannien geschickt. Bis 1941 konnte die Familie in der 8-Zimmer-Wohnung bleiben, dann musste sie innerhalb des Hauses in kleinere Wohnungen umziehen. Alle Emigrationsversuche scheiterten. Am 2. September 1942 wurde Lissy Wagners Großmutter Agnes Schlawanski deportiert. Die Familie bezog im Oktober ihre letzte Wohnung in der Giesebrechtstraße.

Ende Februar 1943 tauchte Lissy mit ihren Eltern unter. Die Nachbarin Frau von Willesen, die ihnen schon länger geholfen hatte, vermittelte ein Versteck: Die Familie konnte bei Irene Kleber, der ehemaligen Gesellschafterin von Mutter und Tochter von Willesen, in der Goethestraße 14a für 90 RM monatlich ein Zimmer mieten. Dort (über)lebte Lissy mit den Eltern noch ein halbes Jahr. Es gab wenig Platz, und ab und zu gingen sie ohne „Stern“ nach draußen.
Am 23. August 1943 wurden Lissy Wagner und ihre Eltern verhaftet. Über den „Verrat“ lässt sich nur spekulieren. Die Familie blieb fast drei Wochen im Sammellager in der Großen Hamburger Straße. Am 10. September 1943 wurden Lissy, Lotte und Waldemar Wagner nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. – Der Vermieterin Irene Kleber passierte nichts.
Über diese Zeit gibt es nur einen Bericht, basierend auf den Erinnerungen von Irene Kleber, die später als „unbesungene Heldin“ gewürdigt werden wollte und auch wurde. Ihre Rolle als „Vermieterin“ und damit als gut bezahlte Helferin, schien (scheint?) manchem ein Problem. – Geschildert wird dies von Isabel Enzenbach in einem Kapitel mit dem Titel „Die Vermieterin“ in dem Band „Überleben im Dritten Reich“.

Lissy Wagners Bruder Klaus Peter lebte seit 1953 in den USA, verheiratet und Vater von drei Kindern. Er berichtete später vom Leben seiner Familie und ergänzte gemeinsam mit seiner Familie die Angaben auf dem Grabstein in Friedland, der nun an seine Großeltern Schlawanski, seine Eltern und seine Schwester erinnert. Klaus Peter Wagner ist am 19. Juni 2019 in Miami gestorben.

Biografische Zusammenstellung
Dr. Dietlnde Peters, Vorrecherchen: Wolfgang Knoll

Weitere Quellen
Berliner Telefonbücher;
Breslauer Adressbücher;
Isabel Enzenbach: Die Vermieterin, in Wolfgang Benz (Hrsg.): Überleben im Dritten Reich, Juden im Untergrund und ihre Helfer, München 2003, S. 185–197;
Find A Grave-Index 1600 bis heute, über ancestry: Daten/Grabstein der Familie Portheim/Wagner in Friedland;
Norbert Francke / Bärbel Krieger: Die Familiennamen der Juden in Mecklenburg: Mehr als 2000 jüdische Familien aus 53 Orten der Herzogtümer Mecklenburg-Schwerin und Mecklenburg-Strelitz im 18. und 19. Jahrhundert. Schriften des Vereins für jüdische Geschichte und Kultur in Mecklenburg und Vorpommern e. V., Verein für jüdische Geschichte und Kultur in Mecklenburg und Vorpommern e.V., Schwerin 2001
Norbert Francke/Bärbel Krieger: Schutzjuden in Mecklenburg, Schwerin 2002;
HU Datenbank jüdischer Gewerbebetriebe in Berlin 1930-1945;
Jewish Transmigration Bureau (JDC) 1940–1942, Einzahlungskarten, digitalisiert;
https://www.geni.com/people/;
https://www.juedische-gemeinden.de;
sztetl.org.pl.

Von der Koordinierungsstelle Stolpersteine Berlin

Stolperstein für Agnes Schlawanski

Stolperstein für Agnes Schlawanski

HIER WOHNTE
AGNES
SCHLAWANSKI
GEB. FORTHEIM
JG. 1870
DEPORTIERT 1942
THERESIENSTADT
ERMORDET SEPT. 1942
IN TREBLINKA

Agnes Portheim kam am 3. Dezember 1870 in Fürstenberg/Mecklenburg als Tochter des Kaufmanns Louis Portheim (1839–1918) und seiner Ehefrau Rikchen (Friederike) geb. Liebenthal (1847–1920) auf die Welt.

Fürstenberg, das heute zu Brandenburg gehört, liegt inmitten von Seen und Flüssen in der Mecklenburgische Seenplatte. (Während der NS-Diktatur befand sich dort das Frauenkonzentrationslager Ravensbrück.) Die Familie der Mutter von Agnes gehörte zu den alteingesessenen jüdischen Familien der Stadt. Ihre Eltern lebten wohl – seit wann oder ob schon immer, bleibt unklar – in der Kleinstadt Friedland, ebenfalls in der Mecklenburgischen Seenplatte. Agnes hatte zwei Schwestern: Die 1869 geborene Rosa und die 1873 geborene Elise. Rosa lebte später mit ihrem Ehemann Emil Jacob und drei Kindern im nicht weit entfernten Stavenhagen. Sie starb 1928. Elise, verheiratet mit Richard Moses, lebte in Ball/Pommern und zuletzt in Berlin. Sie wurde 1944 in Auschwitz ermordet. In der Konstanzer Straße 3 erinnert ein Stolperstein an das Ehepaar.

Agnes Portheim blieb in Friedland. Sie heiratete den 1858 geborenen Kaufmann Siegfried Schlawanski und bekam 1895 ihr einziges Kind, die Tochter Lotte. Siegfried Schlawanski besaß ein „Putzgeschäft“, er verkaufte also Accessoires wie Hüte und Gürtel. Fast 30 Jahre später war das Angebot größer geworden, 1927/28 wurden „Putz-, Konfektions-, Weiß- und Wollwaren“ angeboten. Das Geschäft war ein Eckladen mit zwei Schaufenstern in der Kaiserstraße 40 (heute Riemannstraße). Enkel Klaus-Peter Wagner, der seine Großmutter in den Schulferien besuchte, erinnerte sich sehr viel später an eine Angestellte und zwei Lehrmädchen. Das Ehepaar Schlawanski lebte in einer 5-Zimmer-Wohnung. Der Familie muss es gut gegangen sein.
Nach dem Tod ihres Ehemannes im Dezember 1927 führte Agnes Schlawanski das Geschäft allein weiter. Als wohlhabende Frau führte sie ein selbstständiges Leben. Sie besaß Aktien und Ackerland, fuhr zur Kur, fuhr nach Berlin. Dort lebten ihre Tochter Lotte, die den Kaufmann Waldemar Wagner geheiratet hatte, und ihr Neffe Walter Jacob (1908–1942 Dachau).

Im April 1933 schloss Agnes Schlawanski ihr Geschäft in Friedland. Seit 1936/37 lebte sie immer öfter bei der Familie ihrer Tochter in Berlin. Dort war sie auch, als am 9. November 1938 ihre Wohnung in Friedland zerstört und geplündert wurde. Agnes Schlawanski verkaufte daraufhin Grundbesitz und Einrichtung und zog im Januar 1939 offiziell zur Familie Wagner in die Giesebrechtstraße 15. In der folgenden Zeit musste sie sich immer weiter „einschränken“: Die Familie musste innerhalb des Hauses in kleinere Wohnungen ziehen, die Agnes Schlawanski gebliebenen Aktien wurden eingezogen, Schmuck und Wertsachen musste sie abgeben. Von ihrem Konto durfte sie anfangs noch einen geringen monatlichen Freibetrag zum Lebensunterhalt abheben, dann blieb nur ihre Rente. – Auch der Versuch, mit den Verwandten in die USA zu emigrieren, scheiterte.

Am 2. September 1942 wurde Agnes Schlawanski in das Ghettolager Theresienstadt deportiert.
Dort blieb sie nur wenige Wochen. Sie schrieb noch eine Karte an die Familie, dann verstummte sie: Am 29. September 1942 war Agnes Schlawanski in das Vernichtungslager Treblinka verschleppt und ermordet worden.

Auch ihre Tochter Lotte, der Schwiegersohn und die Enkeltochter wurden ermordet, es überlebte allein der Enkelsohn Klaus-Peter Wagner, der mit einem Kindertransport nach England gerettet wurde. Er berichtete später vom Leben seiner Familie und ergänzte gemeinsam mit seiner Ehefrau und seinen Kindern die Angaben auf dem Grabstein in Friedland, der nun an seine Großeltern, Eltern und Schwester erinnert.

Auf dem Stolperstein wird der Geburtsname von Agnes Schlawanski fälschlicher Weise mit Fortheim angegeben, korrekt ist jedoch Portheim.

Biografische Zusammenstellung
Dr. Dietlinde Peters, Vorrecherchen: Wolfgang Knoll

Weitere Quellen
Berliner Telefonbücher;
Isabel Enzenbach: Die Vermieterin, in Wolfgang Benz (Hrsg.): Überleben im Dritten Reich, Juden im Untergrund und ihre Helfer, München 2003, S. 185–197;
Norbert Francke / Bärbel Krieger: Die Familiennamen der Juden in Mecklenburg: Mehr als 2000 jüdische Familien aus 53 Orten der Herzogtümer Mecklenburg-Schwerin und Mecklenburg-Strelitz im 18. und 19. Jahrhundert. Schriften des Vereins für jüdische Geschichte und Kultur in Mecklenburg und Vorpommern e. V., Verein für jüdische Geschichte und Kultur in Mecklenburg und Vorpommern e.V., Schwerin 2001;
Norbert Francke/Bärbel Krieger: Schutzjuden in Mecklenburg, Schwerin 2002;
Landesarchiv Berlin, Personenstandsunterlagen/über ancestry;
https://www.geni.com/people/;
https://www.juedische-gemeinden.de;
Jewish Transmigration Bureau (JDC), 1940-1942, Einzahlungskarten, digitalisiert
Find A Grave-Index 1600 bis heute, über ancestry;
Daten/Grabstein der Familie Portheim/Wagner in Friedland;
Daten/Grabstein der Eltern Louis und Riekchen Portheim. In Friedland;
Daten/Grabstein der Schwester In Neubrandenburg;
Malchower Tageblatt vom 11.10.1899 (Annonce);
Volkszählungen Mecklenburg Schwerin 1900, 1919 (digitalisiert).

Von der Koordinierungsstelle Stolpersteine Berlin

Stolperstein für Marion Ehrlich

Stolperstein für Marion Ehrlich

HIER WOHNTE
MARION EHRLICH
JG.1928
DEPORTIERT 29.11.1942
ERMORDET IN
AUSCHWITZ

Marion Ehrlich kam am 27. Januar 1928 in Berlin als Tochter des Rechtsanwalts Dr. Hugo Ehrlich und seiner Frau Gertrud, geb. Stern, zur Welt. Ihr Bruder Gerd war 1922 geboren worden. Seit 1937 wohnte die Familie in der Charlottenburger Giesebrechtstraße 15.

Als Marion Ehrlich eingeschult wurde, waren die Nationalsozialisten schon an der Macht. In ihren ersten Schuljahren wird sie vermutlich mehr als einmal die Schule gewechselt haben; zuletzt besuchte sie die Schule der Jüdischen Gemeinde in der Wilsnacker Straße.

Während des Pogroms im November 1938 wurde Marions Vater verhaftet und ins KZ Sachsenhausen eingeliefert; erst 1940 wurde er wieder entlassen und starb Ende desselben Jahr an den Folgen der Haft. In diesem Jahr 1940 musste die Familie in ihrer 7-Zimmer-Wohnung in der Giesebrechtstraße immer enger zusammenrücken: nach und nach füllte sich die Wohnung mit jüdischen Untermietern, die ihre Wohnungen hatten verlassen müssen. Als die Ehrlichs dort auszogen, hatten zuletzt 14 Menschen in der Wohnung gelebt.

Im Oktober 1941 drohte der Familie – nach Angaben Gerd Ehrlichs – zum ersten Mal die Deportation, weil er als „politisch verdächtig“ galt. Mit Hilfe von Dr. Benno Walter, einem Freund der Familie und Kollegen von Hugo Ehrlich, gelang es, dies zu verhindern (Aimée und Jaguar, S. 105). Bis 1938 war Dr. Benno Walter als Rechtsanwalt tätig gewesen und dann in den Dienst der Jüdischen Gemeinde getreten, wo er als Vorstandsmitglied in der Abteilung Fürsorge tätig war. Vermutlich aufgrund der akuten Bedrohung der Familie Ehrlich gingen Gertrud Ehrlich und Dr. Benno Walter, wahrscheinlich Ende 1941 oder 1942, eine Ehe ein, denn Angestellte der Jüdischen Gemeinde und ihre Familien waren vorerst von Deportationen ausgenommen. Zuletzt lebte die Familie in der Levetzowstraße 11a.

Als im Juni 1942 die letzten noch verbliebenen jüdischen Schulen aufgelöst wurden, musste die 14-jährige Marion Ehrlich Zwangsarbeit leisten – auf dem Jüdischen Friedhof in Weißensee. Dort waren viele andere Gleichaltrige als Helfer eingesetzt, auf dem riesigen Friedhofsgelände waren die Jugendlichen meist unter sich und konnten wohl auch einige unbeschwerte Stunden erleben; sogar Sportgeräte standen zur Verfügung, die der Rabbiner Heinz Meyer aus den Beständen der nun geschlossenen Schulen besorgt hatte. Auf diesem Friedhof erlebte Marion Ehrlich ihre erste Liebe, mit dem ein Jahr älteren Harry Kindermann.

Im November 1942 ging dann alles, wie Gerd Ehrlich berichtete, sehr schnell: Auf einer Sitzung der Jüdischen Gemeinde am 19. November weigerte sich Benno Walter, ebenso wie andere Vorstandsmitglieder, an der Organisation der Deportationen mitzuwirken. Noch am selben Tag wurde er verhaftet und für den nächsten Transport nach Osten eingeteilt. Im Sammellager Große Hamburger Straße traf er seine Frau Gertrud und seine Stieftochter Marion, denen man sofort den Deportationsbeschluss zugestellt hatte. Marions Bruder Gerd blieb ein paar Tage in der elterlichen Wohnung, verkaufte die verbliebenen Wertsachen und bereitete so sein Leben als „U-Boot“, wie die untergetauchten Juden sich nannten, vor. (Aimée und Jaguar, S. 27–28)

Nach zehn Tagen im Sammellager wurden die Eheleute Walter zusammen mit der 14-jährigen Marion mit dem „23. Osttransport“ vom 29. November 1942 nach Auschwitz deportiert und ermordet.
Gerd Ehrlich lebte knapp ein Jahr lang als „U-Boot“ in Berlin. Erst als er auf seine ehemalige Mitschülerin Stella stieß, die für die Gestapo als „Greiferin“ arbeitete, und der Verhaftung knapp entging, entschloss er sich zur Flucht ins Ausland. Im Oktober 1943 passierte er in Singen die grüne Grenze zur Schweiz. Er wanderte 1946 in die USA aus, wo er 18 Jahre lang an der Towson State University in Maryland unterrichtete. Er starb 1998.

Recherchen und Text: Helga Gläser

Quellen: Simone Ladwig-Winters: Anwalt ohne Recht. Das Schicksal jüdischer Rechtsanwälte in Berlin nach 1933, 2. ergänzte und erweiterte Aufl., Berlin 2007, S. 143/144, 279; Erica Fischer: Aimée und Jaguar. Eine Liebesgeschichte Berlin 1943, Köln 1994; Peter Wyden: Stella, New York 1992;
Britta Wauer, Amélie Losier: Der jüdische Friedhof Weißensee. Momente der Geschichte, Berlin 2010, S. 73–83, Foto S. 82
http://articles.baltimoresun.com/1998-07-11/news/1998192063_1_nazi-germany-ehrlich-underground , 21.2.2013
http://www.statistik-des-holocaust.de/OT23-8.jpg , 21.2.2013