Rede der Bezirksbürgermeisterin Monika Thiemen bei der Gedenkveranstaltung zum 9. November am Montag, dem 10.11.2003, 17.00 Uhr am Mahnmal am Bahnhof Grunewald

Rede der Bezirksbürgermeisterin Monika Thiemen

bei der Gedenkveranstaltung zum 9. November

am Montag, dem 10.11.2003, 17.00 Uhr am Mahnmal am Bahnhof Grunewald

Sehr geehrter Herr Dr. Brenner!
Sehr geehrter Herr Behar!
Sehr geehrter Herr Polizeipräsident Glietsch!
Sehr geehrte Schülerinnen und Schüler!
Sehr geehrte Auszubildende der Landespolizeischule!
Sehr geehrte Damen und Herren!

Gerade in diesen Tagen können wir wieder einmal feststellen, wie dringend notwendig eine Gedenkveranstaltung wie diese ist. Deshalb danke ich Ihnen allen herzlich für Ihre Teilnahme.

Der 9. November ist weltweit ein Gedenktag, der an die Verbrechen des Naziregimes erinnert. In viele Sprachen ist das Wort “Reichskristallnacht” eingegangen. Wir sprechen inzwischen lieber von der Pogromnacht, denn mit dem Begriff “Reichskristallnacht” wollten die Nationalsozialisten selbst ihre Taten verharmlosen: Fast alle Synagogen in Deutschland wurden in dieser Nacht angezündet, fast alle Geschäfte von Deutschen jüdischer Herkunft wurden zerstört und geplündert, viele deutsche Juden wurden verhaftet, gedemütigt, misshandelt und mehr als 100 getötet. Am Morgen des 10. November waren die Gehwege übersät mit Glasscherben.

Diese Gewaltexzesse waren nur ein Vorspiel, sie waren nur der Auftakt für das viel größere, bis heute unfassbare Verbrechen. Es folgte die Ausgrenzung der Juden aus der Öffentlichkeit und aus allen Lebensbereichen.

Es folgte die Brandmarkung mit dem gelben Stern. Und schließlich folgte die Deportation in die Vernichtungslager, wo Millionen ermordet wurden. Die Mahnmale hier am Bahnhof Grunewald erinnern daran: Vom 18. Oktober 1941 bis zum Februar 1945 fuhren die Deportationszüge, die mehr als 50.000 jüdische Bürgerinnen und Bürger Berlins in die Vernichtungslager transportierten, nach Lodz, Riga und Auschwitz. Es waren unsere Landsleute, es waren Männer, Frauen und Kinder, die sich nichts hatten zu Schulden kommen lassen. Es waren deutsche Staatsbürgerinnen und Staatsbürger, denen alle staatsbürgerlichen Rechte aberkannt worden waren.

Inzwischen wurden die nationalsozialistischen Verbrechen bis ins Detail erforscht. Die Bücher füllen ganze Bibliotheken, aber bis heute fehlt uns die Erklärung. Wir können es nicht verstehen.

Wir können nicht verstehen, wie es geschehen konnte, weshalb so viele weg geschaut haben, weshalb so viele mit gemacht haben.

Gerade weil das Verbrechen jede menschliche Dimension sprengt, weil es dafür kein Verständnis geben kann, weil es keine Erklärung dafür gibt, wie es geschehen konnte – gerade deshalb ist es so wichtig, dass wir es nicht in Vergessenheit geraten lassen. Gerade deshalb sind Veranstaltungen wie diese so notwendig.

Die öffentliche Diskussion über die Beteiligung der Firma Degussa am Bau des zentralen Mahnmals beim Brandenburger Tor zeigt gerade in diesen Tagen wieder einmal, wie schwierig uns der Umgang mit unserer Geschichte noch immer fällt. Darf eine Firma, die Nachfolgerin einer Tochterfirma ist, die das tödliche Zyklon B für die Vernichtungslager hergestellt hat, darf eine solche Firma mitwirken am Bau einer Gedenkstätte?

Darf sie es dann, wenn sie sich aktiv mit ihrer Vergangenheit auseinandergesetzt hat, wenn sie bewiesen hat, dass sie bereit ist, Verantwortung zu übernehmen?

Ich habe keine Antwort auf diese Fragen. Aber die Diskussion zeigt doch, dass die Geschichte nicht vergangen ist, dass sie nie vergehen kann, dass wir uns der Vergangenheit stellen müssen, dass wir der Verantwortung nicht entkommen können, auch wenn wir als Kinder oder Enkel der Tätergeneration nicht persönlich schuldig geworden sind.

Mit der zeitlichen Entfernung zu dem Verbrechen wächst die Distanz. Die Nachkriegszeit liegt spätestens seit dem Ende der DDR und des Warschauer Paktes hinter uns. Wir befinden uns in einer neuen Epoche der europäischen Entwicklung.

Diese neue Epoche hat einen neuen Blick auf unsere Geschichte im 20. Jahrhundert mit sich gebracht. Ein neues Interesse an der Nachkriegszeit ist entstanden, aber auch eine Unsicherheit in der Bewertung und Gewichtung der Ereignisse.

Nach der intensiven Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und mit dem Holocaust geraten jetzt die Zerstörungen verstärkt in den Blick, die der Zweite Weltkrieg in Deutschland angerichtet hat. Vermehrt wird wieder diskutiert über die Vertreibungen nach dem Krieg. Sie werden erforscht und bereits mit großem Erfolg für ein großes Publikum aufbereitet.

Von entscheidender Bedeutung ist dabei aus meiner Sicht, dass der Blick auf die alliierte Kriegsführung und auf das Schicksal der nach 1945 Vertriebenen nicht dazu missbraucht wird, die deutschen Verbrechen zu relativieren oder gar zu entschuldigen. Das gegenseitige Aufrechnen der Opferzahlen führt nicht weiter.

Das Leiden der Deutschen während der Flächenbombardements auf die deutschen Städte am Ende des Zweiten Weltkriegs und bei den Vertreibungen nach dem Zweiten Weltkrieg kann und darf nicht vergessen werden. Aber die Erinnerung daran taugt nicht als Entlastungsstrategie. Angesichts der Unbegreiflichkeit der Verbrechen gibt es eine Sehnsucht nach Entlastung. Aber diese Sehnsucht führt in die Irre. Die Verbrechen der Nazis werden durch das Leiden der Deutschen nicht geringer. Im Gegenteil: Das Leiden im eigenen Land war die Folge der Nazi-Verbrechen. Und: Die Nazis waren nicht von einem anderen Stern nach Deutschland gekommen, sondern es waren Deutsche, Hitler war durch eine demokratische Wahl an die Macht gekommen.

Und vor allem: Wer die Ermordung der Juden mit den Leiden der Deutschen aufwiegen will, der setzt die Ausgrenzung der Juden durch die Nazis gedanklich fort. Denn die Juden, die in Deutschland ausgegrenzt, vertrieben und schließlich ermordet wurden, waren eben auch Deutsche, und wir sollten endlich dafür sorgen, dass sie auch in unserem Gedächtnis Deutsche bleiben. Wenn wir vom Leiden der Deutschen im Zweiten Weltkrieg sprechen, dann meinen wir auch und gerade das Leiden der jüdischen Deutschen. Dieser Bahnhof erinnert uns daran. Von hier aus wurden Berlinerinnen und Berliner in die Vernichtungslager deportiert. Es waren unsere Nachbarn und die unserer Eltern und Großeltern.

Besonders abwegig war der Versuch eines Bundestagsabgeordneten, den Holocaust zu verharmlosen mit dem Hinweis auf die Beteiligung einiger Juden an den stalinistischen Verbrechen in der Sowjetunion. Ein Bundeswehr-General meinte, diesen Unsinn auch noch als mutige Tat loben zu müssen. Ich bin froh, dass viele Repräsentanten der CDU sich ohne wenn und aber von dem unverantwortlichen Unsinn ihres Abgeordneten distanziert haben. Und ich bin auch froh, dass Verteidigungsminister Struck den General sofort aus der Bundeswehr entlassen hat.

Die Verbrechen der Nationalsozialisten sind durch nichts zu entschuldigen oder zu relativieren. Die fabrikmäßig organisierte Vernichtung von Millionen Menschen aus rassistischen Gründen war ein Bruch mit allen Regeln und Errungenschaften der Zivilisation. Dass es dafür keine Entschuldigung geben kann, darüber sollten sich die demokratischen Parteien einig sein und alle, die in diesem Land Verantwortung tragen, egal an welcher Stelle.

Gerade der 9. November stellt uns immer wieder die Frage, wie es geschehen konnte – vor aller Augen. Wie es sein konnte, dass zwar Feuerlöschzüge zu den brennenden Synagogen fuhren, dass sie aber nicht löschen durften, sondern nur verhindern mussten, dass das Feuer auf benachbarte Häuser übergriff.

Es gab Ausnahmen. So verhinderte ein Polizist, dass die Synagoge in der Oranienburger Straße ausbrannte. Er sorgte dafür, dass der Brand, der bereits gelegt war, wieder gelöscht wurde. Sein Name ist Wilhelm Krützfeld. Er war Vorsteher des Reviers Nr. 16 am Hackeschen Markt und deshalb zuständig für die Synagoge in der Oranienburger Straße. Auch andere Polizisten haben damals mutig Widerstand geleistet. Meist taten sie es heimlich, denn es war gefährlich. Alfred Kerr, der berühmte Theaterkritiker, wohnte mit seiner Familie hier um die Ecke in der Douglasstraße. Seine Tochter Judith Kerr hat in ihren Erinnerungen davon berichtet, dass ihr Vater von Polizisten vor der bevorstehenden Verhaftung durch die SS gewarnt wurde, so dass er noch rechtzeitig fliehen konnte. Auch die Schwedische Kirche in der Landhausstraße in Wilmersdorf konnte nur deshalb vielen verfolgten Juden zur Flucht verhelfen, weil sie heimlich von der örtlichen Polizei unterstützt wurde.

In der Rosenstraße mitten in Berlin haben mutige nichtjüdische Frauen gegen die Verhaftung ihrer jüdischen Ehemänner öffentlich protestiert, die daraufhin aus der Haft entlassen wurden. Gerade ist der Film “Rosenstraße” in die Kinos gekommen, der diesen Protest dokumentiert und mit persönlichen Schicksalen verknüpft.

Dies waren Einzelaktionen, die das große Verbrechen nicht verhindern konnten, aber diese Einzelnen haben gezeigt, dass es möglich war, etwas zu tun. Ihr Mut ist für uns heute ein Vorbild.

Ich freue mich, dass heute so viele Auszubildende der Polizei unter uns sind. Und ich freue mich, dass auch Polizeipräsident Glietsch gekommen ist. Sie zeigen damit, dass die Auseinandersetzung mit unserer Geschichte auch für die Polizei von großer Bedeutung ist. Ihre Aufgaben im demokratischen Rechtsstaat kann sie letztlich nur erfüllen, wenn sie unsere Geschichte kennt und daraus lernt.

Ich danke den Schülerinnen und Schülern des Gottfried-Keller-Gymnasiums, dass Sie die Tradition dieser Gedenkveranstaltung auch in diesem Jahr weitergeführt und gemeinsam mit den Auszubildenden der Landespolizeischule Berlin diese Veranstaltung organisiert haben. Ich danke dem Zeitzeugen Isaak Behar, der mit seiner Arbeit in unseren Schulen dafür sorgt, dass die Erinnerung weiter getragen wird und der immer wieder Jugendliche dafür begeistert, sich für diese Erinnerungsarbeit zu engagieren.

Ich danke dem Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde Berlins, Herrn Dr. Alexander Brenner, dass er heute bei uns ist. Es ist für unsere Stadt ein unschätzbares Glück, dass trotz der historischen Belastung wieder eine jüdische Gemeinde in Berlin entstanden ist und dass diese Jüdische Gemeinde sich so intensiv in und für Berlin öffentlich engagiert.

In einigen Tagen beginnen die von Ihnen organisierten jüdischen Kulturtage, die aus dem kulturellen Leben unserer Stadt nicht mehr wegzudenken sind. Herzlichen Dank auch dafür.

Mit dieser Gedenkveranstaltung demonstrieren vor allem Jugendliche, dass sie sich der Verantwortung stellen, die aus unserer Geschichte erwächst und dass sie aus dieser Geschichte gelernt haben. Dafür danke ich ihnen allen sehr.

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