100 Jahre S-Bahn – DNA von Berlin

Kabellegung in Spandau West um 1927

S-Bahn-Elektrifizierung in Berlin: Kabellegung in Spandau West; o.J./um 1927.

Die Jubilarin ist munter, gut in Schuss und Tag für Tag viel auf Achse. Ihr Sound gehört zur Melodie dieser Stadt. Wenn Berliner von einer Reise zurückkehren und die Züge sehen, dann wissen sie: Wir sind wieder zu Hause! Im kommenden Jahr erlebt die Jubilarin, unverwechselbar ein Stück Berlin, ihren ersten dreistelligen Geburtstag. Die S-Bahn wird 100 Jahre alt, und das ist ein Grund zu feiern.

Von Peter Neumann, Berliner Zeitung

8. August 1924: Premiere für das neue Verkehrsmittel. Die erste Strecke führt 22 Kilometer weit durch den Nordosten Berlins nach Bernau. Sie beginnt abseits der Invalidenstraße im Stettiner Vorortbahnhof, dessen Empfangsgebäude immer noch steht – heute ist die Wartehalle eine Eventlocation. Mit Höchsttempo 72 sind die Triebwagen der AEG, die grün lackiert sind und zwei Wagenklassen besitzen, zwölf Minuten schneller am Ziel als die Dampfzüge. Ein echter Fortschritt.

Es hat Jahrzehnte gedauert, bis das neue Verkehrsmittel ins Rollen kommt. 1888 reicht Siemens das erste Konzept zur Elektrifizierung für Berlin ein, weitere folgen. Doch die Bahnindustrie, die lieber Dampfloks verkauft, und die Preußische Eisenbahnverwaltung beäugen die neuen Player misstrauisch. Immer wieder wird gebremst. Zwar beginnt 1900 im Süden Berlins ein erster elektrischer Alltags-Probebetrieb, und 1907 kündigt Paul von Breitenbach, der zuständige Minister in Preußen, die Elektrifizierung Berliner Strecken an. Aber erst sechs Jahre später bewilligt der Landtag Geld – weniger, als benötigt wird. Im Jahr darauf beendet der Erste Weltkrieg die Diskussionen.

Montage einer Stromschiene S-Bahn um 1928

S-Bahn-Elektrifizierung in Berlin: Montage einer Stromschiene (Aufnahme entstand auf dem Bahnhof Stahnsdorf); o.J./um 1928

Politiker und Planer treffen kluge und weitreichende Entscheidungen. In „wirtschaftlich und schwerster Notzeit“, wie es damals heißt, erteilt das preußische Ministerium der öffentlichen Arbeiten den Auftrag, die ersten beiden Strecken zu elektrifizieren. 1921 wird zudem ein langer Expertenstreit beendet: Statt mit Wechselstrom aus Oberleitungen sollen die Züge von seitlichen Stromschienen mit 800 Volt Gleichstrom versorgt werden. Da gibt es Groß-Berlin schon ein Jahr – was die Verkehrsplanung enorm erleichtert.

Mit der „Großen Elektrisierung“ erweist sich die Elektropolis Berlin, in der Siemens mit der ersten elektrischen Lokomotive 1879 und der ersten elektrischen Straßenbahn 1881 Technikgeschichte schrieb, erneut als Motor des Fortschritts. Mit 1276 Wagen wird die Bauart Stadtbahn ab 1928 zu einer der größten Fahrzeugserien der Bahnwelt (sie wird 69 Jahre im Linieneinsatz bleiben). Bis 1929 wächst das Netz auf 230 Kilometer. Allein bis dahin werden in einem fiskalischen Kraftakt, den das Deutsche Reich und Berlin trotz Krisen und Streit durchhalten, 160 Millionen Reichsmark verbaut. Die Berliner integrieren die Bahnen in ihren Alltag und auch in ihre Freizeit, wie Robert Siodmaks Filmromanze „Menschen am Sonntag“ zeigt. 1930 werden 429 Millionen Fahrgäste befördert.

Nicht nur für die Entwicklung Berlins, das damals mit mehr als vier Millionen Menschen mehr Einwohner als heute hat, ist das neue Verkehrsmittel ein Quantensprung. Die Fahrgäste reisen nicht mehr in dunklen Abteilen, sondern in hellen Großraumwagen. Die Bahnen beschleunigen schneller, und sie gleiten ohne direkte Emissionen dahin. Sie sind sauberer und leiser als die alten Züge. Nach und nach wird die Dampftatraktion, die Berlin bis dahin mit 70 Tonnen Rußrückständen eingedeckt hat, zurückgedrängt. Positiv vermerkt wird auch, dass die Betriebskosten geringer sind. Während Dampfloks meist mit Steinkohle befeuert werden, nutzen die Kraftwerke preiswerte Braunkohle.

1. Dezember 1930: Das selbstbewusst geschwungene weiße S auf grünem Grund wird offizielles Logo. Der Grafiker Fritz Rosen, der aus einer jüdischen Familie stammt und später vor den Nazis in die USA fliehen wird, hat es für 800 Reichsmark entworfen. Zusammen mit dem nicht minder einprägsamen Namen S-Bahn (für Stadtbahn) trägt es zu einer Corporate Identity bei, wie sie damals selten ist. Auch die Fahrzeuge sind eindeutig erkennbar: Bordeauxrot und Ockergelb lösen Grün ab. Wie sehr die Farben eine Tradition werden, wird sich noch Jahrzehnte später zeigen. Als der Designer Herbert Lindinger 1985 einer neuen S-Bahn-Generation Blautöne verpassen will, verschwinden die Pläne nach erbitterten Protesten in der Schublade.

S-Bahnhof Westkreuz ca. 1928

S-Bahnhof Berlin Westkreuz um 1928

Mit dem knapp sechs Kilometer langen Nord-Süd-Tunnel kommt 1939 eine wichtige Ergänzung des Streckennetzes dazu. Der Bau ist eine der wenigen großen Investitionen, die unter den Nationalsozialisten im Berliner Nahverkehr getätigt werden. Im Zweiten Weltkrieg avanciert die S-Bahn zum wichtigsten Verkehrsmittel in Berlin. 1943 wird sie für 737 Millionen Fahrten genutzt.

2. Mai 1945, 7.55 Uhr: Mutmaßlich Nazis sind es auch, die den Tunnel wieder zerstören. An diesem Tag wird unter dem Landwehrkanal eine Sprengladung gezündet, heißt es in einer Akte. Vielleicht wird der Sabotageakt, der bis heute nicht ganz aufgeklärt ist, auch an einem anderen Tag kurz vor Kriegsende verübt. Das Datum ist so ungewiss wie die Zahl der Menschen, die später im Untergrund tot gefunden werden. Im S-Bahn-Museum heißt es, dass 93 Leichen geborgen werden. Nach dem Anschlag stehen 25 Kilometer S- und U-Bahn-Tunnel unter Wasser, rund zwei Jahre lang.

Doch zwischen den Trümmern an der Oberfläche ist schon Anfang Juni 1945 das charakteristische Singen der Gleichstrommotoren wieder zu hören. Als erster S-Bahn-Abschnitt geht die Strecke zwischen Wannsee und Schöneberg eingleisig in Betrieb, mit zwei Zugpaaren pro Tag.

Obwohl die Teilung schließlich alle Bereiche erfasst, bleibt die Deutsche Reichsbahn unter einheitlicher Leitung. Sie hat ihren Sitz in Mitte in der sowjetischen Zone, das ab 1949 zu Berlin, Hauptstadt der DDR, gehört. Um Rechte zu wahren, belässt es die DDR bei dem antiquierten Namen. Mit der S-Bahn werden Waren zwischen Ost und West geschmuggelt, und immer mehr Menschen nutzen sie als Fluchtvehikel. Auch wenn DDR-Behörden immer wieder versuchen, die Kontrollen zu intensivieren: Während das Straßenbahnnetz 1953 getrennt wird, hält die S-Bahn Berlin zusammen. „Über alle Sektorengrenzen hinweg rollt Deine S-Bahn“, steht auf Bannern. Personifiziert wird dies durch Friedrich Kittlaus, der bei der Reichsbahndirektion 24 Jahre lang für die S-Bahn zuständig ist. Der parteilose Vizepräsident lebt im Westen und hat sein Büro im Osten der Stadt, in Mitte.

13. August 1961: Umso größer ist der Schock in der Nacht zu diesem Sommersonntag. Fahrdienstleiter und Stellwerksmeister bekommen Besuch von Männern, die ihnen bislang unbekannt waren. Sie eröffnen ihnen, dass sie keine S-Bahnen mehr in den Westen lassen dürfen. Als die DDR damit beginnt, ihre innerstädtische Grenze mit Stacheldraht und anderen Sperren zu befestigen, leidet auch die S-Bahn. Gleisstücke werden herausgetrennt, Stromschienen gesenkt.

In West-Berlin schlägt die anfängliche Schockstarre bei manchen Bürgern in Wut um. „Wer S-Bahn fährt, bezahlt Ulbrichts Stacheldraht“: Unter diesem Motto rufen der Regierende Bürgermeister Willy Brandt (SPD) und der Deutsche Gewerkschaftsbund zum Boykott auf, den bei Umfragen 80 Prozent der Teilnehmer gutheißen. Auf die S-Bahn werden Steine geworfen und Sprengstoffanschläge verübt. Zwar bleibt sie betriebssicher. Doch die leeren Bahnhöfe, die betagten Züge und das wuchernden Grün atmen Melancholie. Das einst modernste Verkehrssystem wirkt in West-Berlin, das sich als glitzerndes buntes Schaufenster der Marktwirtschaft sieht, wie eine Museumsbahn.

Ganz anders sieht es im Osten der Stadt aus. Der Ausbau der U-Bahn wird durch den Mangel gebremst, die S-Bahn wird zum Rückgrat des Verkehrs. Bevor die Wohngebiete in Marzahn und anderswo komplett sind, fährt sie schon dorthin. Dagegen sinkt die Zahl der Fahrgäste im Westen der Stadt, wo die S-Bahn 1960 noch 200 Millionen Menschen befördert hat, bis 1983 auf drei Millionen. Dann wird die Reichsbahn den S-Bahn-Betrieb, der jährlich ein neunstelliges Defizit einfährt, endlich los. Ab 1984 befahren die Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) ein nochmals geschrumpftes Netz.

Als Zwitter aus Verkehrsstation und Grenzübergangstelle, Intershop-Einkaufsparadies, Terroristen- und Agentenschleuse und Intershop-Einkaufsparadies nimmt der Bahnhof Friedrichstraße im Osten Berlins eine besondere Stellung ein. Nach der Grenzschließung 1961 endet die S-Bahn aus Richtung Zoo am Bahnsteig B – das war bereits acht Jahre zuvor vorbereitet worden. Die S-Bahnen in Richtung Ostkreuz fahren dagegen vom Bahnsteig C. Wer umsteigen will, muss die Grenzkontrolle passieren. Eine Stahlwand trennt die beiden Endstationen. Es gibt zwar weiterhin eine durchgehende S-Bahntrasse, doch sie wird nur für Betriebsfahrten aktiviert. Im Nord-Süd-Tunnel ist der Tiefbahnsteig D im Bahnhof Friedrichstraße der einzige Ort, an dem Fahrgäste noch ein- und aussteigen dürfen. Die anderen Stationen werden zu „Geisterbahnhöfen“, ebenfalls bewacht von Grenzsoldaten.

2. Juli 1990, 6.21 Uhr: Mit der Abfahrt nach Wannsee wird nicht einmal acht Monate, nachdem die Mauer zu fallen begann, der durchgehende S-Bahn-Betrieb auf der Stadtbahn wieder aufgenommen. Der Prellbock im Bahnhof Friedrichstraße, vor dem am 27. Mai 1983 der Versuch einer S-Bahn-Entführung unter Schüssen endete, kommt weg. Auf der wiederhergestellten Ost-West-Verbindung rollen Zuggruppen mit den Funknamen „Heinrich“, „Berta“, Cäsar“ und „Fee“. Ebenfalls am 2. Juli 1990 öffnet die Tunnelstation Oranienburger Straße als erster Geisterbahnhof wieder.

Wiedereröffnung der S-Bahn-Strecke Potsdam - Berlin - Erkner am 01.04.1992

Wiedereröffnung der S-Bahn-Strecke Potsdam - Berlin - Erkner am 01.04.1992

Das Bautempo verlangsamt sich, doch weitere Lücken werden geschlossen. Für Sammler von Ersttagsfahrkarten ist es eine schöne Zeit. So gehen 1992 drei Verbindungen ins Umland wieder ans Netz. Der S-Bahn-Ring ist 2002 wieder komplett. Mit der Baureihe 481 wird die Flotte verjüngt.

Aber dann wird das Vertrauen der Berliner in ihre S-Bahn erschüttert. Weil das Eisenbahn-Bundesamt Mängel feststellt, müssen 2009 viele Wagen aus dem Betrieb genommen werden – die Zahl steigt über 900. Es zeigt sich, dass die Radscheiben der neuen Baureihe nicht dauerfest sind. Kritisiert wird aber auch, dass die Wartung vernachlässigt wurde. Der Notbetrieb in der größten Krise der S-Bahn führt dazu, dass selbst die Stadtbahn zwischen Zoo und Ostbahnhof nicht mehr befahren werden kann. Im Juli 2009 löst die Deutsche Bahn die Geschäftsführung ihres Tochterunternehmens ab.

Unter dem neuen Chef Peter Buchner stabilisiert sich die Lage wieder. Nach mehreren Anläufen kommt ein Vergabeverfahren in Gang, bei dem als einziger Bewerber die S-Bahn Berlin GmbH übrigbleibt. Für den Ring und die Strecken im Südosten bestellt das DB-Unternehmen bei Stadler Pankow und Siemens Mobility für 900 Millionen Euro 85 vierteilige sowie 21 zweiteilige Fahrzeuge. Die Baureihe 483/484 trägt die Traditionsfarben, allerdings ist das Rot aufgehellt.

1.Januar 2021, kurz nach Mitternacht: Auf der Linie S47 nach Spindlersfeld befördern neue S-Bahnen erstmals Fahrgäste. „Tablet“, „rasender IPad“: Die markante Kopfform fordert Spitznamenerfinder voraus. Weil die Züge leise sind, große Mehrzweckabteile und eine verbesserte Fahrgastinformation bieten, sind sie bei den Fahrgästen beliebt. Anders als alle anderen S-Bahnen haben die neuen Fahrzeuge eine Klimaanlage, die im Sommer die Temperatur um drei Grad herunterregelt.

340 Kilometer Strecke, 168 Bahnhöfe, allein im Jahr 2022 rund 410 Millionen Fahrgäste: Die S-Bahn, seit 1984 bei der Deutschen Bahn, hält Berlin und Brandenburg in Bewegung. Längst gilt sie als Teil der DNA dieser Stadt. Jenseits der offiziellen Strukturen arbeiten Bürger ehrenamtlich an der Neueröffnung des S-Bahn-Museums und an der Wiederbelebung einer Tradition: Der Weihnachtszug soll wieder fahren.

Unterdessen wächst das Streckennetz. In Mitte wird am ersten Abschnitt der City-S-Bahn gearbeitet, die als zweite Nord-Süd-S-Bahn die Innenstadt zusätzlich erschließen wird. 2024 könnte die S15 zwischen Gesundbrunnen und Hauptbahnhof starten. Um den Ausbau der Bahninfrastruktur zu beschleunigen, haben Berlin, Brandenburg und die Bahn das Programm i2030 ins Leben gerufen. Falkensee, Velten, Stahnsdorf: Von den 2030er-Jahren an werden sie wieder per S-Bahn erreichbar sein. Zuvor soll die Siemensbahn nach Gartenfeld, auf der seit 1980 kein Zug mehr fuhr, 2029 wieder ans Netz gehen – hundert Jahre, nachdem sie auf Kosten von Siemens fertiggestellt wurde.

Tipp 8. August 2024: Die Feierlichkeiten mit Programm für Familien, Technikbegeisterte und Touristen sind aufgegleist. Auch wenn an den Details noch geschliffen wird, ist jetzt schon klar: Das wird ein großer Tag für Berlin und Brandenburg. 100 Jahre S-Bahn Berlin: auf jeden Fall vormerken!