Wir wussten nicht, welches Schicksal uns erwarten würde

Ellen Hess mit ihren Eltern, 1929 | Ellen Hess with her parents in 1929

Als zehnjähriges Kind während der Hitlerzeit merkte sie, dass nicht die ganze deutsche Bevölkerung antisemitisch eingestellt war, sondern es viele Mutige gab, die ihr Leben aufs Spiel setzten, indem sie weiter mit Juden in Verbindung blieben. Dies zu betonen, ist Ellen Hess wichtig. In „aktuell“ schildert sie ihre Ausreise im Jahre 1939, die am Anhalter Bahnhof in Berlin begann.

Auf der Schulbank der 236. Volksschule | At her school desk at the 236th primary school

Auf der Schulbank der 236. Volksschule

Mein Name ist Ellen Hess, geborene Baum, geboren am 20. Februar 1928 im Krankenhaus Moabit in Berlin. Mein Vater hieß Jakob Baum, von Beruf Vertreter. Meine Mutter, Frida Baum, geb. Dwinatzki wurde von ihm geschieden, als ich ein Jahr alt war. Er war ein guter Vater und holte mich von der Wohnung in der Fichtestraße 25 in Berlin-Kreuzberg ab, wo meine Mutter und ich mit meinen Großeltern David und Mathilde Dwinatzki wohnten, um mit mir spazieren zu gehen oder um Ausflüge zu machen. Zum Beispiel erinnere ich mich an eine Dampferfahrt auf dem Tegeler See oder an Ausflüge in den Zoologischen Garten. Meine Mutter hatte ein inniges Verhältnis zu ihrer Schwester Margarethe Hirschowitz, geborene Dwinatzki, verheiratet mit Albert Hirschowitz, die die beiden Kinder Ruth und Gerd hatten. Letztere waren wie meine Geschwister. Mit Gerd ging ich regelmäßig in Kinos, wie in das „Hofjäger“ oder das „Kapitol“ in der Nähe der Hasenheide. Er nahm mich zu allen Filmen mit, die er auch sehen wollte, und einmal verkleidete ich mich, damit ich den Film „M“ (Mörder) mit Peter Lorre sehen konnte, der für kleine Kinder verboten war.

Bis 1934 war mein Leben normal, wie das eines jeden anderen Kindes. Ich spielte Hoppse auf der Straße vor unserem Haus, gegenüber der bekannten Gasanstalt. Im Winter lief ich Schlittschuh im nahen Friedrichshain. Plötzlich jedoch änderte sich alles: Meine besten Freundinnen Inge Assman und Irmchen Blümel, die beide in meiner Nähe wohnten, sagten mir eines Tages, dass sie nicht mehr mit mir spielen könnten und wir uns auch nicht mehr gegenseitig besuchen dürften, da ihre Eltern dies verboten hatten. Das machte mich tieftraurig, und ich konnte es gar nicht richtig verstehen.

Kurz danach bat meine Klassenlehrerin der 236. Volksschule, Bergmannstrasse, Frau Herta Schmidt, darum, dass meine Mutter in die Schule kommen möge, da sie ihr etwas mitzuteilen hätte. In meiner Anwesenheit sagte sie ihr, dass sie mich aus der Schule herausnehmen müsse, da ich sonst viel Leid erfahren würde. Sie war mir sehr zugetan und zum Abschied schrieb sie mir folgende Poesie in mein Poesiealbum: „Das Ewige ist stille, laut die Vergänglichkeit, schweigend geht Gottes Wille über den Erdenstreit.“ Sie wollte uns sicherlich damit zeigen, dass eines Tages Gerechtigkeit auf dieser Erde geschehen wird.

Das Möbelgeschäft ihres Onkels Abert Dwinatzki in der Skalitzer Straße, in dem auch ihre Mutter arbeitete | Her uncle Abert Dwinatzki's furniture shop in Skalitzer Straße, where her mother also worked

Das Möbelgeschäft ihres Onkels Abert Dwinatzki in der Skalitzer Straße, in dem auch ihre Mutter arbeitete

Ich erinnere mich auch, dass wenn meine Großeltern, meine Mutter und der zu Besuch kommende Bruder meiner Mutter, Arthur Dwinatzki, am Tisch versammelt waren, sie ganz leise über den aufsteigenden Antisemitismus sprachen. An ihren Gesichtern konnte ich merken, dass sie sehr aufgeregt waren.

Zwischen den Jahren 1936 und 1938 machte ich schöne Reisen mit meiner Mutter, einmal nach Dänemark, auf die Insel Bornholm. Mich beeindruckte sehr, dass die Frauen dort nackt auf den Felsen Sonnenbäder nahmen. Zwei Mal reiste ich mit meiner Mutter nach Budapest, wohin meine Großeltern väterlicherseits und mein Vater inzwischen ausgewandert waren. Sie wohnten in der Straße Eötvös ucca. Per Dampfer fuhr ich mit meinem Vater auf die Margareteninsel, und er ging mit mir zu dem bekannten Wellenbad Gellért.

Mein Onkel Albert hatte ein Möbelgeschäft in der Skalitzer Straße, wo übrigens meine Mutter als Verkäuferin angestellt war. Eines Tages kam ein Käufer in das Geschäft, der Möbel kaufen wollte, die später nach Hollywood versandt werden sollten. Es stellte sich heraus, dass es sich um den weltbekannten Filmregisseur William Dieterle (u. a. „Das Leben des Emile Zola“, „Salomé“) handelte. Er war nur kurz von Hollywood nach Berlin gekommen. Er kam mit meinem Onkel ins Gespräch, und mein Onkel bat ihn, die 10.000 US Dollar nicht gleich zu bezahlen, sondern ihm erst dann zu überweisen, wenn mein Onkel ausgewandert wäre. In der Tat hielt dieser wunderbare Mensch sein Versprechen und überwies den Betrag meinem Onkel später nach Argentinien.

Meine Cousine Ruth Hirschowitz gehörte der Widerstandsgruppe BAUM an. Am Eingang des Friedhofs Weißensee steht ein großer Gedenkstein für diese Gruppe. Die Mitglieder wurden fast alle ermordet (sie hatten u. a. Gegenpropaganda gegen die Nazis in Telefonbüchern versteckt). Ruth und ihre Familie konnten sich retten, indem sie im Juli 1938 nach Argentinien auswanderten.

Aus der Familie Baum konnte als einziger nur mein Vater auswandern. Ein Freund aus den USA schickte ihm ein Affidavit. Seine drei Brüder und die Eltern kamen ins Konzentrationslager. Sein ältester Bruder Edgar, dem es finanziell am besten ging, wurde 1938 evangelisch, aber das nützte ihm nichts.

Als mein Großvater Anfang 1938 plötzlich an einer Krankheit starb und ich umgeschult werden musste, brachten wir meine Großmutter im jüdischen Altersheim unter und mieteten uns ein möbliertes Zimmer bei einem jüdischen Rechtsanwalt, Herrn Kauf, der in der Nähe meiner neuen jüdischen Schule, Große Hamburgerstraße, wohnte.

Am 10. November 1938, auf dem Heimweg von der Schule, sah ich plötzlich eine Synagoge brennen und die Schaufenster jüdischer Geschäfte in Brand. Ich selbst, zehn Jahre alt, bekam Angst, obwohl ich das volle Ausmaß des Geschehens nicht verstand. Meiner Mutter jedoch wurde bewusst, dass der Moment gekommen war, wo wir unbedingt auswandern müssen. Man riet ihr, zum Reisebüro „Palestine Lloyd“ zu gehen, wo man angeblich Visen für Montevideo bekäme. Es klappte, und sie musste 5.000 französische Francs in der Filiale Paris deponieren.

Der Dampfer „General San Martin“ | The steamer the “General San Martin”

Der Dampfer „General San Martin"

Das Geld meiner Mutter reichte jedoch nicht aus, da sie die Schiffsfahrten für Hin- und Rückweg zahlen musste, denn es handelte sich um Touristenvisen. Ein Verwandter aus New York schickte den fehlenden Betrag nach Paris. Unsere Reise begann am Anhalter Bahnhof und führte über Paris nach Boulogne-Sur-Mer. Dort begann unsere Schiffsfahrt mit dem Dampfer „General San Martin“ der Hamburg Süd Schifffahrtsgesellschaft. Mich beeindruckten der Luxus des Schiffes und das gute Essen (wunderbares Frühstück, dann um 11 Uhr morgens Hühnerconsommé, Mittagessen, nachmittags Kaffee und wunderbares Abendessen).

Meine Mutter und ich waren zwei von 28 deutschen Juden, die sich auf dem Schiff befanden. Wir beschlossen alle, nur unter uns zu bleiben, da wir Angst hatten, uns mit den anderen Passagieren zu unterhalten.

Als wir in Montevideo ankamen und schon froh waren von Bord zu kommen, ließ die uruguayische Hafenpolizei uns nicht von Bord mit der Ausrede, mit den Visa sei irgendetwas nicht in Ordnung. Ein befreundetes Ehepaar namens Gongula konnte uns nur von unten zuwinken. Wir wussten nicht, welches Schicksal uns erwarten würde, höchstwahrscheinlich das Konzentrationslager, falls das Schiff uns nach Hamburg zurückbrächte.

Die „General San Martin“ kam am 28. Februar 1939 in Buenos Aires an. Sie verblieb 20 Tage im Hafen, um die Maschinen für die Rückfahrt nach Hamburg zu überholen. Die argentinischen Behörden ließen uns ebenfalls nicht von Bord. So konnten wir unsere lieben Verwandten, die Familie Albert Hirschowitz, die inzwischen nach Buenos Aires ausgewandert war, nicht in unsere Arme schließen. Wir konnten uns nur gegenseitig zuwinken. Sie kamen jeden Tag, nur um uns zu sehen. Als der Dampfer sich wieder auf die Rückfahrt machte, wurde unsere Gruppe von Tag zu Tag nervöser. Manche wollten sich ins Meer werfen. Ich besinne mich nur auf zwei Namen unserer Gruppe: Ein Ehepaar Friedländer mit Tochter Inge und ein junger Mann, Herr Bach.

Es beeindruckte uns alle sehr, wie schlau Herr Bach sich rettete – als Einziger: Er hatte Verwandte in Recife, Brasilien. Diese ließen sich von der Hamburg Süd zwei Ausweise ausstellen, um das Schiff in Pernambuco besuchen zu können. Es kam aber nur eine Person an Bord und als der Matrose mit seinem Gong läutete und schrie „Besucher von Bord“, ging Herr Bach ohne Gepäck ganz ruhig, seinen Ausweis zeigend, von Bord. Er benutzte den zweiten Ausweis.
Die Nervosität unter den jüdischen Passagieren steigerte sich von Stunde zu Stunde. Es wurde entschieden, dass wir Hilfsgesuche per Western Union Telegramm an Churchill, Roosevelt und De Gaulle schicken. Wir haben nie eine Antwort bekommen.

Meine Mutter sagte mir eines Morgens: „Wollen wir es doch auch so machen wie der Herr Bach und versuchen, im nächsten Hafen von Bord zu gehen.“ Wir hatten schon mehrere Kleider übereinander angezogen, aber im letzten Moment hatten wir nicht den Mut und blieben an Bord.

Dr. Moritz Hochschild rettete Tausenden Juden das Leben | Dr Moritz Hochschild saved the lives of thousands of Jews

Dr. Moritz Hochschild rettete Tausenden Juden das Leben

Wir hatten schon den Atlantik überquert, als wir plötzlich die Nachricht erhielten, dass wir in Lissabon endlich aussteigen können. Anscheinend hatte jemand uns 27 Personen Visen für Bolivien verschafft. Später wurde uns klar, dass wir dies Herrn Dr. Moritz Hochschild, Oruro, Bolivien, zu verdanken hatten, einem deutschen Juden, Agnostiker und Freund des damaligen bolivianischen Präsidenten Busch. Bis heute danke ich ihm und dem Land Bolivien dafür, dass so viele Menschenleben gerettet wurden, und dieser Text soll auch eine Hommage an ihn sein. Man nennt Hochschild den „bolivianischen Schindler“ und schätzt, dass er 10.000 Menschen das Leben gerettet hat. Mehr als Schindler.

Nach drei Wochen, die wir in Lissabon in einer Pension verbrachten (ich nehme an, das wurde vom jüdischen Hilfsverein bezahlt), gingen wir an Bord des italienischen Schiffes „Oracio.“ Im Gegensatz zu dem luxuriösen Dampfer „General San Martin“, wurden wir hier in der 3. Klasse im unteren Teil des Schiffes in einem Saal zusammen mit zirka 30 Sinti und Roma untergebracht, die ebenfalls auf der Flucht waren. Mitte Juni 1939 kamen wir in Arica, Chile, an.

Von dort aus nahmen wir den Zug nach Bolivien. Der erste Stop war der Ort Viacha. Dort erwarteten uns freiwillige Hilfspersonen mit Getränken und Sandwiches. Alsdann fuhr der Zug weiter nach Cochabamba. Dort wurden wir ebenfalls erwartet. Leider konnten wir uns nicht gleich dort niederlassen, da man uns sagte, wir müssten erst drei Wochen in einem Lager in Sacaba, einem kleinen Ort ganz in der Nähe, verbleiben, um uns zu akklimatisieren. Man hatte dort für uns einen Schlafsaal aufgebaut, in dem wir alle schliefen. Man schickte mich in die Schule, damit ich langsam Spanisch lernen konnte. Die Kinder waren sehr nett zu mir. Endlich war ich wieder unter Kindern, was in dem letzten halben Jahr nicht der Fall gewesen war. Als die Zeit in Sacaba zu Ende war, gab mir meine Lehrerin ein Zeugnis für die Schule in Cochabamba. Damit konnte ich das bekannte Lyzeum Adela Zamudio besuchen. Man brachte uns in einer Pension unter, deren Verwalter ein gewisser Herr Gutentag war. Im Ganzen waren wir eineinhalb Jahre in Cochabamba.

Da die Schwester meiner Mutter mit ihrer Familie in Buenos Aires ansässig war, wollten wir unbedingt dorthin. Das Visum von Bolivien nach Argentinien wurde uns jedoch von bolivianischer Seite nicht genehmigt. So planten wir, illegal nach Buenos Aires zu kommen.

Verlobungsfoto von Ellen und Josef Hess aus dem Jahr 1946 | Photo from 1946 celebrating the engagement of Ellen and Josef Hess

Wir nahmen den Zug von Cochabamba in die Grenzstadt Villazon und blieben einige Tage im Hotel Londres. Da dessen Inhaber, Herr Zapata, sein Versprechen uns zu helfen nicht hielt, entschlossen wir uns, selbst zu handeln und kreuzten die Brücke nach La Quiaca, Argentinien. Dort kaufte meine Mutter zwei Fahrkarten für den Zug bis zur Stadt Tucuman, da es hieß, direkt bis Buenos Aires durchzufahren, sei wegen der Kontrollen gefährlich. Wir hatten Glück: Als meine Mutter von Weitem den Kontrolleur sah, versteckte sie sich mit mir in der Toilette. Als er klopfte, sagte sie „ocupado“ (besetzt). Da ging er weg und kam zum Glück nie wieder.

Als wir am Bahnhof Retiro ankamen, nahmen wir eine Pferdedroschke. Sie brachte uns mitten in die Stadt in die Straße Tucuman 1650, wo unsere Familie wohnte. Groß war die Freude, und wir schlossen uns gegenseitig in die Arme. Stundenlang sprachen wir über all die Ereignisse.

Ich ging wieder in die städtische Schule. Danach konnte nicht die Rede davon sein, dass ich weiter studiere, da kein Geld vorhanden war. Ich war 13 Jahre alt und betreute ein kleines Mädchen. Danach lernte ich Maschine schreiben, Stenographie in Spanisch, Deutsch und Englisch. Ich verdiente dann gut. Unter anderem war ich bei der Deutsch-Argentinischen Handelskammer tätig.

1946 heiratete ich Josef Hess, geboren in Hintersteinau. Wir bekamen drei Kinder. Seit 1991 bin ich Witwe und wohne in Vicente Lopez, einem Vorort von Buenos Aires, mit einer guten Assistentin und meiner Schildkröte Manuela.

Obwohl ich meine Geburtsstadt Berlin unmöglich vergessen kann, bin ich jetzt doch hier zu Hause.

Ellen Hess, Buenos Aires, Argentinien
Chiffre 122201