Gedenken an Selma und Paul Latte und die Hachscharah-Einrichtung in Berlin-Niederschönhausen

Eine Spurensuche

von Gudrun Schottmann und Christof Kurz

Im November 2013 erfuhren wir von dem Leiter der Stolpersteingruppe Pankow, dass das Mehrfamilienhaus, in dem wir seit 2001 in Berlin-Pankow mit unserer Familie wohnen, bis 1934 dem jüdischen Flaschenfabrikanten Paul Latte und seiner Frau Selma gehört hat. Eine Radioreportage des RBB im Rahmen der Reihe „Wegmarken – Berlin im Nationalsozialismus“ über das Ehepaar Latte und die auf dem Gelände ihrer Flaschenfabrik in Berlin-Niederschönhausen befindliche Hachscharah-Einrichtung hat uns angeregt, mehr über das Schicksal des Ehepaares und die Geschichte der Hachscharah-Einrichtung herauszufinden. Erste wertvolle Informationen konnten wir durch das Buch von Inge Lammel „Jüdische Lebenswege in Pankow“ bekommen.

Die Ehrengäste (Nachkommen von Selma und Paul Latte, Dennis Kew, Bernard Grunberg) mit den Initiatoren Gudrun Schottmann und Christof Kurz sowie Bezirksstadtrat Jens-Holger Kirchner

Die Ehrengäste (Nachkommen von Selma und Paul Latte, Dennis Kew, Bernard Grunberg) mit den Initiatoren Gudrun Schottmann und Christof Kurz sowie Bezirksstadtrat Jens-Holger Kirchner

Selma und Paul Latte lebten ab 1920 in der Buchholzer Straße 23–31 in Berlin Niederschönhausen und betrieben auf dem dortigen großen Gelände eine florierende Flaschengroßhandlung. Anfang 1934 stellte das Ehepaar der Jüdischen Gemeinde Berlin einen Teil des Grundstückes für eine Hachscharah-Einrichtung zur Verfügung.

Hachscharah-Einrichtungen entstanden vermehrt nach 1933, meist im ländlichen Raum, um jungen jüdischen Menschen eine handwerkliche Ausbildung zu ermöglichen und sie auf die Emigration vorzubereiten. Dies wurde angesichts der zunehmenden Ausgrenzung und Verfolgung immer notwendiger, da es ohne nachgewiesene praktische Kenntnisse kaum eine Möglichkeit gab, ein Einreisevisum für Palästina oder andere Länder zu erhalten. Unter der engagierten Leitung von Leopold Kuh konnten in Niederschönhausen vermutlich 200–300 junge Männer und Frauen eine Ausbildung in der Tischlerei, Schlosserei, Schmiede und in Hauswirtschaft absolvieren. Durch die erworbenen handwerklichen Fähigkeiten erlangten etliche der in Niederschönhausen ausgebildeten jungen Menschen ein Arbeitszertifikat für Palästina und andere Länder und konnten damit der Ermordung entkommen. Die Einrichtung bestand vermutlich bis 1941 und stellt ein wichtiges Zeugnis der jüdischen Selbsthilfe dar.

Selma und Paul Latte wurden Ende 1938 enteignet und mussten nach Hermsdorf in ein sogenanntes Judenhaus ziehen. Sie wurden am 13. Januar 1943 nach Theresienstadt deportiert und starben nach kurzer Zeit an den unmenschlichen Lebensbedingungen.

In Hermsdorf sind Stolpersteine für das Ehepaar verlegt. In Niederschönhausen, ihrer langjährigen Lebens- und Wirkungsstätte, waren sowohl das Ehepaar Latte als auch die Hachscharah-Einrichtung völlig unbekannt und vergessen. Dies war der Beginn einer Spurensuche, die am 21. Juni 2016 schließlich zu der Einweihung des Selma- und Paul- Latte-Platzes und der Errichtung einer Gedenkstele führte.

Enthüllung des Namenschildes für den Selma- und Paul-Latte-Platz durch die Ehrengäste und Bezirksstadtrat Jens-Holger Kirchner

Enthüllung des Namenschildes für den Selma- und Paul-Latte-Platz durch die Ehrengäste und Bezirksstadtrat Jens-Holger Kirchner

Unsere zweieinhalbjährige private Recherche war mit vielen Anfragen bei verschiedensten Institutionen und Besuchen in zahlreichen Archiven verbunden. In den Archiven fanden sich Unterlagen, die die Ausgrenzung, Ausplünderung und Deportation des Ehepaares Latte dokumentieren. Durch insgesamt mehr als 100 Fotos der Fotografen Herbert Sonnenfeld, Abraham Pisarek und Roman Visniak, Berichte von Hachscharah-Teilnehmenden in dem Büchlein „Das ist unser Weg“ und zahlreiche Zeitungsberichte aus den dreißiger Jahren wurde die Hachscharah-Einrichtung Niederschönhausen für uns lebendig. 103 Niederschönhausener Hachscharah-Teilnehmende sind namentlich bekannt. Von diesen gelang 39 Menschen die Emigration (vor allem nach Großbritannien, USA, Palästina, Australien, Argentinien), 16 Menschen wurden ermordet, drei Menschen haben die Deportation überlebt, zu knapp der Hälfte der Menschen fanden sich keine weiteren Informationen.

Je mehr wir in Erfahrung bringen konnten, desto mehr wurde es uns ein Anliegen, an Selma und Paul Latte und die Hachscharah in Niederschönhausen zu erinnern. Wir beantragten im März 2014 beim Bezirksamt Pankow, einen kleinen Platz neben dem ehemaligen Gelände der Flaschenfabrik (Charlottenstraße/Beuthstraße) nach dem ermordeten Ehepaar zu benennen. Zudem hielten wir es für sinnvoll, auf dem Platz eine Gedenktafel zur Erinnerung an das Ehepaar Latte und die Hachscharah-Einrichtung zu errichten. Anfang Juni 2015 befürwortete die Gedenktafelkommission des Bezirkes Pankow das Vorhaben, wobei die Hälfte der Kosten durch uns aufgebracht werden musste. Zahlreiche private Spender haben zu der Errichtung der Stele beigetragen!

Das Kulturamt des Bezirks Pankow fand das Thema so interessant, dass Anfang 2016 eine Historikerin, Frau Dr. Buser, beauftragt wurde, die Geschichte der Flaschenfabrik und der Hachscharah Niederschönhausen professionell aufzuarbeiten und eine Publikation darüber zu erstellen.

Im Dezember 2016 wird die Berliner Verkehrsgesellschaft (BVG) die an dem Platz befindliche Bushaltestelle in „Selma- und Paul-Latte-Platz“ umbenennen.

Bernard Grunberg und Dennis Kew mit Gudrun Schottmann

Bernard Grunberg und Dennis Kew mit Gudrun Schottmann

Entscheidend bei unserer Spurensuche waren auch persönliche Kontakte, die wir knüpfen konnten: zu Eva Seker, Großnichte von Selma Latte, deren Mutter Ruth Jany viele Jahre bei dem Ehepaar Latte in Niederschönhausen aufgewachsen war; zu Bernard Grunberg, der als 15-Jähriger fast ein Jahr in der Hachscharah-Einrichtung Niederschönhausen verbracht hat, Ende 1938 von Leopold Kuh auf die Kindertransportliste gesetzt wurde und so als einziges Mitglied seiner Familie die Shoah überlebt hat; und zu Dennis Kew, dem Sohn von Leopold Kuh. Diese eindrücklichen persönlichen Begegnungen motivierten uns zusätzlich sehr, das mühsame und oft sehr zähe Genehmigungsverfahren beim Bezirksamt Pankow immer wieder voranzubringen.

Am 21. Juni, dem 140. Geburtstag von Selma Latte, wurde schließlich der Platz eingeweiht und die Gedenkstele enthüllt. Zu der Einweihung waren, mit großzügiger und unkomplizierter Unterstützung des Berliner Emigrantenprogrammes, sieben Nachkommen des Ehepaares Latte aus Israel, Österreich und den Niederlanden sowie Bernard Grunberg und Dennis Kew aus Großbritannien angereist. An der bewegenden Zeremonie nahmen rund 100 Menschen teil, Kulturstaatssekretär Tim Renner sprach Grußworte, Mitglieder des Konzertchores der Friedenskirche Niederschönhausen gestalteten wunderbar den musikalischen Rahmen. Es war für alle, vor allem für die Ehrengäste, ein sehr berührendes Erlebnis. Abgerundet wurde die Einweihung am 22. Juni durch eine Lesung des Schweizer Schriftstellers Urs Faes aus seinem Buch „Sommer in Brandenburg“ und ein Konzert des David-Orlowsky-Trios im Betsaal des ehemaligen Jüdischen Waisenhauses in Pankow. Die Künstler wirkten ohne Gage mit, die Stiftung Senfkorn Pankow unterstützte die Veranstaltung finanziell. Es war ein sehr stimmungsvoller Abend mit begeisternder Musik und vielen Gesprächen und Begegnungen.

Wir hoffen, dass die Erinnerung an Selma und Paul Latte und die Hachscharah Niederschönhausen auch über diese Tage hinaus lebendig bleiben wird. Das Schülerprojekt des Max-Delbrück-Gymnasiums in Pankow zu dem ehemaligen „Latte-Gelände“ und die Publikation von Frau Dr. Buser, die im Herbst erscheinen soll, tragen sicher dazu bei. Unser Dank gilt den Menschen, die auf ganz unterschiedliche Weise dazu beigetragen haben, dass aus einer kleinen Frage ein Ort des Gedenkens geworden ist. An dieser Stelle möchten wir uns auch gern nochmals bei Herrn Christian Krüger von der Senatskanzlei Berlin für die angenehme und konstruktive Zusammenarbeit bedanken.

Gudrun Schottmann und Christof Kurz
Wilhelm-Wolff Straße 37a
13156 Berlin
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