Aufgelegt!

Vom Abschied der Telefonzelle

_von Sten Nadolnyaus: Cicero, 8/2008Mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Verlages_

Jede zehnte Telefonzelle soll in den nächsten Jahren abgebaut werden, kündigte die Telekom an. Und: Die Zahl der „unwirtschaftlichen“ öffentlichen Fernsprecher nehme weiter zu. Irgendwann werden sie also ganz verschwunden sein – ein Nachruf:

Nie war sie da, wenn man sie brauchte. Diese unbestreitbare Tatsache musste irgendwann zur Erfindung des Mobiltelefons führen. Die Telefonzelle ist selbst schuld, wenn sie verschrottet wird, denn was nie da ist, kann uns gestohlen bleiben, jawohl.

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Auch diese Szene gehört vielleicht schon bald nicht mehr zum Straßenbild.

Desgleichen: Wieder kein Briefkasten weit und breit! Und: Welcher Trottel vom Dienst macht hier eigentlich die Fahrpläne? Kein Unternehmen der freien Wirtschaft könnte sich das leisten, dort ist der Kunde König, hier aber zahlt der Steuerzahler für ein Versagen ohne Ende. Es sind wieder sämtliche Münztelefone voll, ein Skandal, und das von unserem Geld!

Erinnern Sie sich an diese Tonart? Das Schimpfen auf die alten staatlichen Monopolunternehmen Post und Bahn hatte große rhetorische Tradition, es war in Trauer und Zorn ebenso eindrucksvoll wie wirkungslos, psychologisch folgte es Watzlawicks „Anleitung zum Unglücklichsein“.

Zeiten und Unternehmen haben sich geändert, Kommunikation, Infrastruktur und Versorgung funktionieren auf andere Weise nicht, und die Erregung nimmt völlig neue Wege. Jetzt ist uns die Bundespost, weil Vergangenheit, richtig lieb geworden, und die guten gelben Telefonzellen ebenfalls, auch das Warten, bis man dran war, das „Mensch ärgere dich nicht“ mit Münzen und Telefonbüchern. („Natürlich ist wieder genau die Seite, die ich brauche, herausgerissen!“) Ja, auch die Erschwerung des Lebens durch die Telefonzellen (heute scheinbar behoben durch das Mobiltelefon) lässt uns dankbar zurückdenken: Gewinnt Kommunikation nicht gerade durch ihre Erschwerung an Qualität und Niveau? Wurden nicht die schönsten Briefe mit dem Gänsekiel geschrieben, kamen Gespräche nicht am besten auf den Punkt durch das Emailleschild „Fasse dich kurz, nimm Rücksicht auf Wartende“ oder durch die drohenden Gebärden draußen vor der Glaswand oder, zweifellos am meisten, durch das Klickeradoms der unaufhaltsam wegrollenden Münzen?

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Hier stehen die Apparate noch einträchtig nebeneinander.

Telefonzellen gab es zuerst in Berlin, und bei ihrer Einführung (1881) durch den die deutsche Sprache liebenden Generalpostmeister Heinrich Stephan hießen sie „Fernsprechkioske“ – Türkisch war ihm offenbar lieber als Latein. Sie traten bald den Weg aus dem Postamt ins Freie an, boten Schutz vor Wind, Regen und Zuhörern, nahmen Geldstücke an; man musste nicht mehr mittels einer Kurbel die Aufmerksamkeit des „Fräuleins vom Amt“ erregen.

Für alle, die unterwegs sind, bedeuten die Telefonzellen, etwa auf Bahnhöfen und Flughäfen, bis zum heutigen Tage eine große Hilfe. Nicht immer funktioniert unser Handy dort, wo wir ankommen. Die geschlossene Zelle mit Glaswänden ist eine sinnvolle Einrichtung, auch wenn sie manchem zu eng erscheint, hin und wieder schlecht riecht und auch wenn sie die Vandalen zu nächtlichen Taten animiert. Die Post und dann die Telekom versuchten es mit offenen Zellen, die nur noch Dächer waren (das war immerhin im Interesse der Rollstuhlfahrer) und schließlich mit „Basistelefonen“, die keinerlei Schutz mehr boten, dafür aber als unzerstörbar galten (Irrtum). Die Umfärbung der Zelle vom gut sichtbaren Postgelb zu Grau und Magenta war bereits ein Schritt zu ihrer Abschaffung, denn im heutigen Stadtbild kam das einer Tarnfarbe gleich – man sah sie fortan seltener. Und ich denke, dass nur der Designer wirklich glücklich war.

Vermutlich werden wir der Zelle als Filmrequisit, als Rettung und Rettungs-Erschwerung in unzähligen Geschichten, mehr nachtrauern als der Zelle vor der Haustür. Unvergessen die Fernsprechteilnehmerin Tippi Hedren, die in einer Zelle von Alfred Hitchcocks Vögeln attackiert wird, hier ist diese ganz buchstäblich Rettung. Hitchcock verriet François Truffaut in ihrem berühmten Gespräch seinen Wunsch, einmal einen Film zu drehen, der ausschließlich in einer Zelle spielte. Später gab es so einen Film, aber gedreht von Joel Schumacher: „Nicht auflegen!“ Da drohte der Gesprächspartner den Mann in der Zelle zu erschießen, wenn er auflegte oder die Zelle verließe. In der Wirklichkeit sind Leute wohl eher deshalb erschossen worden, weil sie zu spät auflegten. Und damit sind wir abermals im Film: Jedes Kind weiß, was ein an der Schnur hin- und herbaumelnder Hörer bedeutet, die Kamera kann uns den Schwenk zum Boden ersparen.

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Wieder wird eine „alte gelbe“ Telefonzelle abgebaut.

Ach, man müsste noch viel weiter ausholen, um zum tieferen Sinn des Geschehens vorzustoßen! Am Anfang war die Zelle, müsste man sagen, und auch jetzt ist sie noch nicht am Ende. Und dann flugs eine Anthropologie darauf aufbauen, dieses ganze Zellige im Leben beschreiben, all diese räumlich engen, aber für unsere individuelle Freiheit so notwendigen Zufluchten, die Zelle als Lösung für uns und andere, und wie wir sie nun wieder um einiges mehr in uns selbst tragen müssen oder wenigstens unsichtbar um uns herum, mit dem Handy am Ohr und mit unserem Geheimnis tief in der Brust. „Feind hört mit“, auch das stand einst an der Zellenwand. Er hört immer noch mit, mehr denn je (es ist ihm nur gelungen, das Schild zu entfernen). Aber zum Glück versteht er nur Nebensächliches.


Der Autor ist promovierter Historiker und veröffentlichte unter anderem die Romane „Die Entdeckung der Langsamkeit“, den „Ullsteinroman“ und zuletzt mit Hartmut von Hentig „Deutsche Gestalten“.