Koloniale Straßennamen und ihre Umbenennung im Bezirk Mitte

Historischer Stadtplan Berlins aus dem Jahr 1772

Historischer Stadtplan Berlins aus dem Jahr 1772

1. Neue Ausführungsvorschriften des Berliner Straßengesetzes 2020

Die Ausführungsvorschriften des Berliner Straßengesetzes (AV-Benennungen) wurden 2020 erweitert, um die Umbenennung von Straßennamen mit kolonialem Bezug zu ermöglichen. Als ergänzter Umbenennungsgrund gilt nun gemäß der Ausführungsvorschrift zu § 5 des Berliner Straßengesetzes:
„Bezug auf den Kolonialismus, sofern die Straßen nach Wegbereitern und Verfechtern von Kolonialismus, Sklaverei und rassistisch-imperialistischen Ideologien oder nach in diesem Zusammenhang stehenden Orten, Sachen, Ereignissen, Organisationen, Symbolen, Begriffen oder ähnlichem benannt wurden.“

2. Umbenennung von Straßennamen mit Kolonialbezug im Bezirk Mitte

Im heutigen Bezirk Mitte finden sich Straßen und Plätze, die unter die erweiterten Gründe für eine Straßenumbenennung nach §5 des Berliner Straßengesetzes fallen. Dies gilt insbesondere für Straßennamen mit Bezügen zu „Wegbereitern und Verfechtern von Kolonialismus, Sklaverei und rassistisch-imperialistischen Ideologien“:
Im Ortsteil Wedding sind dies zunächst Straßennamen im sog. Afrikanischen Viertel, die nach Verfechtern des deutschen Kolonialismus benannt wurden (Gustav Nachtigal, Adolf Lüderitz und Carl Peters).
Im Bezirk Mitte sind seit 2016 bereits für folgende Straßennamen Umbenennungsentscheidungen getroffen worden: Nachtigalplatz, Lüderitzstraße, Petersallee (Drucksache 1405/V), Mohrenstraße (Drucksache 2586/V).

3. Die Debatte um Umbenennungen von Straßennamen im Afrikanischen Viertel

Die Diskussion über die Namen von Straßen im Afrikanischen Viertel geht bis in die 1980er Jahre zurück. Im Laufe der Jahre ergriffen der Global Afrikan Congress, der Afrikarat, die Internationale Liga für Menschenrechte und zahlreiche Initiativen das Wort und forderten die Entfernung von rassistischen und den Kolonialismus verherrlichenden Straßennamen. Auch die BVV, damals noch im Bezirk Wedding, setzte sich bereits mit der Kritik an Carl Peters auseinander, allerdings wurde die bereits damals angestrebte Umbennung nicht rechtswirksam. 2016 erteilte die Bezirksverordnetenversammlung Mitte dem Bezirksamt schließlich den Auftrag, zusammen mit Bürger*innen und Zivilgesellschaft Umbenennungsvorschläge für die Petersallee, die Lüderitzstraße und den Nachtigalplatz zu entwickeln. Diese drei Straßennamen gehen auf Personen zurück, die in koloniale Verbrechen verwickelt waren und vom deutschen Kolonialismus profitierten. Die neuen Namen sollten „die Persönlichkeiten – insbesondere Frauen – der (post-)kolonialen Befreiungs- und Emanzipationsbewegung aus Ländern Afrikas ehren.“ (Drucksache 2568/IV) Insgesamt gingen beim Bezirksamt 192 Namensvorschläge ein. Nachdem eine 10-köpfige Jury sechs Namen ausgewählt hatte, die teilweise jedoch stark umstritten waren, entschied sich die BVV dazu, ein wissenschaftlich fundiertes Verfahren zusätzlich hinzuzuziehen. Unterstützt durch wissenschaftliche Gutachter*innen konnte jede Fraktion der BVV aus den ursprünglichen Vorschlägen drei Namen auswählen. Nach dem Abschluss dieses Verfahrens beschloss die BVV folgende Umbenennungen: Lüderitzstraße in Cornelius-Fredericks-Straße, Petersallee in Anna-Mungunda-Allee und Maji-Maji-Allee sowie Nachtigalplatz in Manga-Bell-Platz (Drucksache 1405/V). Die Umbenennungsverfahren sind abgeschlossen, jedoch aufgrund anhängiger Klagen bis zu deren Abschluss unwirksam.

Zur ausführlichen Darstellung dieses Prozesses folgen Sie diesem Link.

Das Amt für Weiterbildung und Kultur des Bezirksamtes Mitte hat das Projekt „Lern- und Erinnerungsort (LEO) Afrikanisches Viertel“ ins Leben gerufen. „Von Beginn an ging es allen Beteiligten nicht nur darum, einen „Erinnerungsort“ an deutsche Kolonialpolitik vergangener Zeiten zu schaffen, sondern das verborgene Fortleben kolonialer und rassistischer Denkmuster zu entschlüsseln und aufzuarbeiten. Eine Aufarbeitung schien nicht möglich ohne eine Einbeziehung Schwarzer Menschen. Hinter der Einbeziehung Schwarzer Fachleute in den Lern- und Erinnerungsort Afrikanisches Viertel verbirgt sich ein tieferes Lerninteresse, dass über eine Betroffenheit auslösende Erinnerung an vergangenes Unrecht hinausgeht und das Potential hat, einen überzeugenden Beitrag zur Dekolonisierung von Gesellschaft und Kultur zu leisten.“ (Endrias/Weiß 2014)

Im Zuge des Projekts LEO Afrikanisches Viertel wurde eine digitale Karte erstellt. Zu den 22 Straßen im Afrikanischen Viertel (Wedding, Berlin) sind hier Texte und Audiodateien verfügbar, die User*innen vor Ort im Afrikanischen Viertel oder auch zuhause abrufen können.
Das Projekt LEO Afrikanisches Viertel und die Möwensee-Grundschule in Berlin-Mitte haben eine gemeinsame Projektwoche zum Thema „Afrika“ durchgeführt. Zahlreiche afrikanische und Schwarze Referent*innen und Künstler*innen vermittelten den Schüler*innen in einer Woche ein facettenreiches und vor allem authentisches Bild von Afrika, sowie viele Informationen über das Afrikanische Viertel und seinen geschichtlichen Hintergrund.

„Nach vielen Veranstaltungen, Projekten und Kursen endete das LEO-Projekt im Jahr 2015. Eine Fortsetzung und Verstetigung konnte in Form der Schwarzen Volkshochschule erreicht werden. Im Rahmen dieser institutionellen Öffnung etablierte der Bezirk unter Leitung von Yonas Endrias eine eigenständige Institution an der Volkshochschule Berlin Mitte mit einem eigenen „Programmbereich von Schwarzen für Schwarze“, wobei das Programm von Schwarzen Expert*innen, Teilnehmer*innen und Mitarbeiter*innen nach selbst formuliertem Bedarf, Inhalt, Lernmethode, Lernziel und Tempo bestimmt wird.“ (Endrias 2019)

Dass sich die Stadtgesellschaft im Wedding grundlegend gewandelt hat, zeigt sich nicht nur in den zahlreichen zivilgesellschaftlichen Initiativen und Gründungen wie EACH ONE TEACH ONE e.V. und des SAVVY Contemporary, mit dem der Fachbereich Kunst, Kultur und Geschichte seit vielen Jahren kooperiert, sondern auch in neuen Themenschwerpunkten und Programmen bezirklicher Einrichtungen von Volkshochschule, Musikschule und der Galerie Wedding.

4. Die Umbenennung der Mohrenstraße

In der Umbenennungsdebatte gibt es unterschiedliche Positionen bezüglich der Ausschreibung des Begriffs „Mohr/en“. Manche führen an, dass der Begriff zur Entstehungszeit wertneutral gewesen sei und heute veraltet ist. Deswegen sehen sie kein Problem in einer Ausschreibung. Andere lehnen die Ausschreibung des Begriffs mit dem Argument ab, dass der Begriff spätestens seit der Frühen Neuzeit rassistisch konnotiert gewesen sei und sich diese Konnotation auch heute noch fortsetzt. Im Sinne einer diskriminierungsarmen Sprache lehnen sie die Ausschreibung deshalb ab und verwenden die Abkürzung M* anstelle von „Mohr/en“. In seiner wissenschaftlichen Auswertung der Straßen- und Begriffsgeschichte entschied sich auch das Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt-Universität zu Berlin für die Abkürzung M*. Der vorliegende Text folgt daher – sofern nicht zitierend – dieser institutionellen Sprachregelung.

a) Umbenennung in Anton-Wilhelm-Amo-Straße am 23. August 2025

Die Umbenennung der Mohrenstraße in Anton-Wilhelm-Amo-Straße wird am 23. August 2025 vollzogen. Mit der neuen Benennung ehrt der Bezirk Mitte von Berlin einen historischen Gelehrten, der für Bildung und Aufklärung steht. Anton Wilhelm Amo war der erste bekannte Schwarze Philosoph und Jurist an deutschen Universitäten. Unter dem Titel „De iure Maurorum in Europa“, beschäftigte er sich mit der Rechtsstellung schwarzer Menschen im Europa der damaligen Zeit, die weitgehend rechtlos waren.

Von zuletzt noch sieben inhaltsgleichen Klageverfahren gegen die Umbenennung wurden aus ökonomischen Gründen sechs vor dem Verwaltungsgericht Berlin im Einvernehmen aller Beteiligter ruhend gestellt und ein Verfahren als musterhaftes Verfahren fortgeführt. Mit Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg vom 8. Juli 2025 (Az. OVG 1 N 59/23) wurde der Antrag auf Zulassung der Berufung abgelehnt und damit das Urteil des Verwaltungsgericht Berlin rechtskräftig.

Vor diesem Hintergrund hat das Bezirksamt Mitte am 18. Juli 2025 im Amtsblatt für Berlin die sofortige Vollziehung der Umbenennung angeordnet. Diese Maßnahme hebt die aufschiebende Wirkung der noch anhängigen Klagen auf. Damit ist eine rechtssichere Umsetzung der Straßenumbenennung gegeben.

Die Umbenennung wurde in einem demokratischen Verfahren beschlossen und von der Verwaltung nachweislich der Gerichtsurteile rechtmäßig und willkürfrei durchgeführt. Auch geht es in den Gerichtsverfahren nicht um die historische Bewertung des Begriffs Mohr, sondern allein um die Rechtmäßigkeit des Verwaltungshandelns.

Der Name der M*straße war seit Jahrzehnten umstritten. Das Bündnis decolonize-mitte führt an, dass die afrodeutsche Dichterin, Aktivistin und Pädagogin May Ayim (1960-1996) bereits in den 1990er Jahren gegen die Benennung des gleichnamigen U-Bahnhofs protestierte.

Seitdem haben sich eine Reihe von zivilgesellschaftlichen Organisationen und Bündnissen für und gegen die Umbenennung ausgesprochen. Neben anderen haben sich besonders afrodeutsche und afrodiasporische Verbände und Organisationen jahrzehntelang für eine Umbenennung eingesetzt. Auf der anderen Seite haben sich vor allem die Initiative Pro Mohrenstraße, aber auch einzelne Historiker*innen für eine Beibehaltung des bisherigen Namens eingesetzt.

Im August 2020 entschied die Bezirksverordnetenversammlung Mitte von Berlin, die Straße in Anton-Wilhelm-Amo-Straße umzubenennen:
„Das Bezirksamt wird ersucht, die Umbenennung der Mohrenstraße gem. Berliner Straßengesetz, AV Benennung, Ziff. 2 c), Abs. 3 und Drs. 0384/II BVV-BA-Mitte vorzunehmen und unverzüglich den Vorgang zur Umbenennung zu starten. Nach dem heutigen Demokratieverständnis ist der bestehende rassistische Kern des Namens belastend und schadet dem nationalen und internationalen Ansehen Berlins.

b) Geschichte der Straße

Das Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt-Universität hat ein allgemein zugängliches und wissenschaftlich aufgearbeitetes FAQ (2020) erstellt, dass die Geschichte der M*straße knapp darstellt, aber auch Stellung zur Semantik des Begriffs und den erinnerungspolitischen Debatten nimmt. Um die Geschichte des Straßennamens und des Begriffs M* kurz zu skizzieren, wird in diesem Text primär auf diese Zusammenfassung zurückgegriffen.

Laut dem Institut für Europäische Ethnologie entstand der Straßenname vermutlich zwischen 1706 und 1707, wovon verschiedene Berliner Chronisten und Stadtschreiber berichten.

Warum die M*straße ihren Namen erhielt ist bis heute nicht zweifelsfrei geklärt. Es existieren unterschiedliche wissenschaftliche Positionen hierzu. Im Kontext allgemeiner Forschungen zu Schwarzen Hofbediensteten im Alten Reich konnte herausgearbeitet werden, dass zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert an vielen deutschen Höfen sogenannte „Kammer- oder Hofmohren“ angestellt waren, die eine „repräsentative Funktion“ hatten und „weiße Herrschaft“ symbolisieren sollten (Kuhlmann-Smirnov 2013: 120-122). Teilweise hatten diese Hofdiener eine angesehene soziale Stellung (Firla 2004: 16f.). Die Bediensteten wurden meist als Kinder verschleppt und kamen über europäische Zwischenhändler nach Brandenburg-Preußen (Lauré al-Samarai 2019, Berliner Entwicklungspolitischer Ratschlag 2016). Das Institut für Europäische Ethnologie resümiert: „Vor diesem Hintergrund kann vermutet werden, dass die Straßenbezeichnung die Herrschaftsansprüche des preußischen Königs bekräftigen sollte.“ (Institut für Europäische Ethnologie, Humboldt-Universität zu Berlin 2020)

Der Historiker Ulrich van der Heyden (2014) ist von diesem Erklärungsansatz nicht überzeugt. In seinen Augen erhielt die Straße ihren Namen, „weil hier eine Delegation afrikanischer Repräsentanten aus der brandenburgischen Kolonie Großfriedrichsburg aus dem heutigen Ghana in Westafrika in einem Gasthaus vor den Toren Berlins für einige Monate einquartiert war.“ (van der Heyden 2014: 259) Diese Delegation von „26 führenden Persönlichkeiten“ soll am brandenburgischen Hof „wie europäische Diplomaten bzw. Herrscher“ (2014: 259f.) empfangen worden sein. Aufgrund der Präsenz der Delegation soll die Straße deshalb im mündlichen Sprachgebrauch „Mohrenweg“ (2014: 260) genannt worden sein und dann allmählich ihre bis heute geltende Bezeichnung erhalten haben. Wie das Institut für Europäische Ethnologie bemerkt, lässt sich van der Heydens Erklärung, „da keine Quellen angegeben sind, nicht nachvollziehen.“ (Institut für Europäische Ethnologie 2020)

c) Begriffsgeschichte des M*-Worts

Unabhängig von den konkreten historischen Umständen der Benennung hat der M*-Begriff eine lange Geschichte, die in der Umbenennungsdebatte ebenfalls kontrovers behandelt wurde. Auch hier stützt sich die Darstellung auf die wissenschaftliche Auswertung des Instituts für Europäische Ethnologie der Humboldt-Universität.

16. bis 18. Jahrhundert

In der Forschung umstritten ist, ob das Wort in der Frühen Neuzeit (16.-18. Jahrhundert) eine negative Konnotation hatte. Während etwa Susan Arndt und Ulrike Hamann (2011), aber auch Malte Hinrichsen und Wulf D. Hund (2014) eine herabsetzende Bedeutung des Worts bereits vor der Aufklärungszeit konstatieren, bestreitet Ulrich van der Heyden (2008, 2014) eine negative Begriffsfärbung in der Frühen Neuzeit. In einem Interview mit dem Tagesspiegel erklärte der Kulturhistoriker Wolfgang Kaschuba im Jahr 2020, dass der Begriff M* vor allem in Südeuropa bis in die Frühe Neuzeit hinein ein „Feindbild“ gewesen sei. Er sei „der Eroberer, nicht die Sklavenfigur“ gewesen. Eine erniedrigende und dienstbare Konnotation habe der Begriff erst ab dem 18. Jahrhundert erhalten (Kaschuba 2020).

Die starke These van der Heydens „[e]s lässt sich nirgendwo nachweisen, dass in Berlin oder auf dem gesamten Territorium Preußens die Bezeichnung ‘Mohr’ bis zur Zeit der kolonialen Aufteilung Afrikas zu Beginn der 1880er-Jahre negativ oder stark abwertend gebraucht wurde“ (van der Heyden 2014: 259), ist nach einer sorgfältigen Sondierung der historischen Semantik jedoch nicht haltbar.

Wie das Institut für Europäische Ethnologie (2020) an exemplarischen, diskursbegründenden und einflussreichen Schriftstellern der Frühen Neuzeit zeigt (etwa Georg Philipp Harsdörffer), finden sich negative Konnotationen und essentialistische Zuschreibungen für das M*-Wort bereits seit dem 17. Jahrhundert. Harsdörffer kontrastiert etwa Schwarze und weiße Diener mit eindeutig abwertenden Worten für den M*-Begriff:

„Einen Mohren und einen andern / weises Angesichts. Der Mohr war ungestalt / rabenschwartz / unbericht / ungelehrt / widersinnig / faul / ungehorsam / und stunde seinen Herrn vielmals nach dem Leben. Der ander Diener war hingegen schön von Angesicht / adelich in Geberden / getreu / fleissig / seinen Herren Hold / der seinen Nutzen beförderte / und seinen Schaden warnete.“ (Harsdörffer 1650 zit. nach Institut für Europäische Ethnologie 2020)

In anderen Texten der geistlichen Erbauungsliteratur, etwa der Predigtsammlung des Kapuziners Franz Joseph von Rodt, werden Reisebeschreibungen der sogenannten „Mohren-Lande“ mit einer „Vorstellung vom Teufel“ assoziiert, sogenannte M* als „abscheulich anzusehen“ markiert und mit klischeehaften Vorurteilen über Kannibalismus belegt (Rodt 1678 zit. nach Institut für Europäische Ethnologie 2020).

M* werden in zeitgenössischen Texten weiterhin mit Sünde, Lasterhaftigkeit und Bedrohlichkeit assoziiert (Institut für Europäische Ethnologie 2020).
Gleichzeitig finden sich, wie die Historikerin Kuhlmann-Smirnov ausführt, auch positive Konnotationen des Begriffs in der Frühen Neuzeit, so dass insgesamt von einer Ambiguität des M*-Begriffs ausgegangen werden muss (2013: 93).

18. und 19. Jahrhundert

Seit der Zeit der Aufklärung (18. Jahrhundert) und dem Aufstieg des wissenschaftlichen Rassismus im 19. Jahrhundert häufen sich Beschreibungen und Klassifikationen des M*-Begriffs, die bestimmte negative Eigenschaften mit biologistisch-rassistischen Argumenten zu begründen suchen (Institut für Europäische Ethnologie 2020). Bereits im 18. Jahrhundert versuchte der Anatom und Anthropologe Samuel Thomas Soemmering anhand einer anatomischen Untersuchung der Leichen Schwarzer Menschen, eine angebliche geistige Unterlegenheit mit anatomischen Merkmalen zu rechtfertigen (Hund 2009: 14-17). Hierfür gebraucht er den M*-Begriff.

“Daß im allgemeinen, im Durchschnitt, die afrikanischen Mohren doch in etwas näher ans Affengeschlecht, als die Europäer gränzen. Sie bleiben aber drum dennoch Menschen …” (Soemmering 1784 zit. nach Institut für Europäische Ethnologie 2020)

Laut Kuhlmann-Smirnov wird der M*-Begriff im Zeitalter der Aufklärung von seinem geistigen Kontext entkoppelt und taucht nun vermehrt in „Rasse“-Theorien auf (Kuhlmann-Smirnov 2013: 93).

Im 18. und 19. Jahrhundert wird die kolonial-rassistische Konnotation immer weiter gefestigt. Dies lässt sich etwa an Sprichwörtern und Abbildungen zur sogenannten „Mohrenwäsche“, in der Übertragung dieser negativen – weil mit Schmutz assoziierten – Assoziation in die Seifenwerbung und der Darstellung in naturphilosophischen Lehrbüchern ablesen.

„Wissenschaftliche Darstellungen legitimierten die rassistischen Alltagsvorstellungen. Mit der Etablierung von Entwicklungs- und im engeren Sinne Evolutionstheorien im 19. Jahrhundert setzten einige Anthropologen und Naturforscher Schwarze Menschen mit “Affenmenschen”, den evolutionären Bindegliedern zwischen Affen und Menschen, gleich.“ (Institut für Europäische Ethnologie 2020)

20. Jahrhundert bis heute

Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert und über das ganze 20. Jahrhundert hinweg findet der M*-Begriff vor allem in der Werbung und bei der Bezeichnung von Apotheken, Cafés und Restaurants eine breite Anwendung. Als gemeinsames Merkmal dieser oft mit ikonographischen Darstellungen ergänzten Begriffsverwendung lässt sich die aus der Kolonialzeit inspirierte „stereotype Darstellung Schwarzer Menschen“, meist verknüpft mit einer „exotisierten Dienstbarkeit“ (Institut für Europäische Ethnologie 2020), identifizieren. Der Historiker Joachim Zeller und sein Ko-Autor Heiko Wegemann konstatieren über die Ikonographie des M* in Werbung und Gastromomie: „Egal ob klein und niedlich oder selten auch einmal groß und aufrecht: die Botschaft besteht immer darin, schwarze Hautfarbe und das Dasein als Diener zu verknüpfen.“ (Zeller und Wegemann 2008) Die Forschung spricht in diesem Kontext auch von „Warenrassismus“ (McClintock 1995: 33). Der Begriff bezeichnet die Verbreitung kolonialer Vorstellungen und Bilder durch die europäische Konsumkultur. Das wohl bekannteste deutsche Beispiel dafür ist der Schokoladenhersteller Sarotti, der über lange Zeit seine Produkte mit der stereotypen Darstellung einer Schwarzen Person, des sogenannten Sarotti-M*, vermarktete. Die Ikonographie des Sarotti-M* fand in Deutschland über das 20. Jahrhundert hinweg millionenfache Verbreitung und gehörte zu den bekanntesten Werbeikonen überhaupt. Gleichzeitig vereinen sich in der Darstellung des Sarotti-M* viele konventionelle kolonialrassistische Stereotype über Schwarze Menschen (Ciarlo 2011: 9-11). Joachim Zeller wertet das Beispiel des Sarotti-M* als „visuelle[n] Kannibalismus“, der es weißen Menschen ermöglichte „‘Rasse‘ konsumieren zu können.“ (Zeller 2010: 159)

Kritiker*innen des M*-Begriffs halten das M*Wort deshalb nicht für „antiquiert“, wie etwa Ulrich van der Heyden argumentiert (2014: 256), sondern für weiterhin mit herabsetzenden und diskriminierenden Konnotationen und Darstellungskonventionen besetzt. Das Institut für Europäische Ethnologie führt hierfür die aktuelle Definition im Duden (Stand 10.03.2021) an und verweist auf eine beispielhafte Stellungnahme Moctar Kamaras, des Vorsitzenden des Zentralrats afrikanischer Gemeinden in Deutschland:

“Die deutsche Sprache ist voll von Redewendungen, die mit dem Begriff ‘Mohr’ neben Exotik auch Abwertung, Unterwürfigkeit, Dummheit und Infantilität verbinden. Der Begriff ist daher genau wie das N-Wort ganz ohne Zweifel eine rassistische und beleidigende Fremdbezeichnung für Schwarze Menschen.” (Kamara 2015 zit. nach Institut für Europäische Ethnologie 2020)

d) Umbenennungsdebatte

Die M*straße stand seit Jahrzehnten im Fokus einer kritischen Auseinandersetzung mit der kolonialen Vergangenheit Berlins.

Positionen für eine Umbenennung

Seit dem Jahr 2004/05 forderten 20 Mitgliedsorganisationen des Afrika-Rats Berlin-Brandenburg die Umbenennung zu Ehren einer afrikanischen Persönlichkeit.
Diesem Bündnis schlossen sich im Laufe der Zeit immer mehr Organisationen an. Seit dem Jahr 2014 gab es jährlich ein Straßenfest zur Umbenennung der M*straße. „Initiiert wurde die Veranstaltung durch die “Aktionsgruppe M-Straße”, ab 2015 wurde sie dann durch das Bündnis “decolonize-mitte” organisiert.“ (Institut für Europäische Ethnologie 2020)

Initiativen für eine Umbenennung sind u.a.:

• AfricAvenir International: http://www.africavenir.org/de.html
• Afrika-Rat: http://www.afrika-rat.org/
• Berlin Postkolonial: http://berlin-postkolonial.de/
• Berliner Entwicklungspolitischer Ratschlag: https://eineweltstadt.berlin/
• Bündnis Decolonize Berlin e.V.: https://www.decolonize-berlin.de/
• Decolonize Mitte: http://decolonize-mitte.de/
• Initiative Schwarze Menschen in Deutschland: http://isdonline.de/
• Komitee für ein afrikanisches Denkmal in Berlin (KADIB)
• Migrationsrat Berlin Brandenburg: http://www.migrationsrat.de/
• Nachbarschaftsinitiative ‘Anton-Wilhelm-Amo-Straße’: https://www.euroethno.hu-berlin.de/de
• Zentralrat der Afrikanischen Gemeinde in Deutschland: http://www.zentralrat-afrikagemeinde.de/

Impressionen vom Straßenfest aus dem Jahr 2015 finden sich beispielsweise auf Youtube:

Für die Befürworter*innen der Umbenennung ist das Kernargument die rassistische Konnotation des aktuellen Straßennamens (siehe Punkt c) und die Forderung nach einer Perspektivumkehr (Aikins 2012). Anstatt die Perspektive europäischer Staaten und Gesellschaften auf Schwarze Menschen beizubehalten, sollen im Straßenbild einflussreiche und inspirierende Persönlichkeiten aus dem afrikanischen Kontinent geehrt werden. Mit der nun auch von der BVV beschlossenen Straßennamensänderung in Anton-Wilhelm-Amo-Straße würde für die Befürworter*innen der Umbenennung eine solche Perspektivumkehr gelingen. Anton Wilhelm Amo war der erste Gelehrte afrikanischer Herkunft in Deutschland war und hat wichtige Beiträge zur zeitgenössischen Philosophie geleistet (Firla 2002, 2012; Menn/Smith 2020). Für die Nachbarschaftsinitiative Anton-Wilhelm-Amo-Straße schadet der Name M*straße außerdem dem Ansehen der dort ansässigen Institutionen, da die negativen Konnotationen des Begriffs über Briefköpfe und Signaturen auf die Institutionen abfärben würden (Institut für Europäische Ethnologie 2020).

Die M*straße heute, Blick auf den gleichnamigen U-Bahnhof und die Straße.

Die M*straße heute, Blick auf den gleichnamigen U-Bahnhof und die Straße.

Positionen gegen eine Umbenennung

Die Gegner*innen der Umbenennung sehen hingegen in dem Straßennamen keine rassistischen Konnotationen. Ulrich van der Heyden betonte in mehreren Publikationen, dass der M*-Begriff zur Zeit seiner Entstehung wertneutral für Schwarze Menschen verwendet worden sei (2008: 7, 2014: 259). Dieser Ansicht schließt sich Bodo Berwald, Vorsitzender der Initiative Pro Mohrenstraße, an. Im Einklang mit van der Heyden betont er, der M*-Begriff sei im ausgehenden 17. Jahrhundert „in der deutschen Sprache neben „Maure“ die einzige und wertfreie Herkunftsbezeichnung für Menschen außerhalb Europas“ (Berwald 2016) gewesen. Aus diesem Grund müsse man den Straßennamen im Kontext seiner damaligen Benennung sehen und nicht ahistorisch mit heutigen Maßstäben beurteilen. Wie unter Punkt c) gezeigt wurde, hält die Hypothese, der Begriff sei zur Entstehungszeit der Straße vollkommen „wertfrei“ gewesen, allerdings einer begriffshistorischen Untersuchung nicht stand.

Berwald habe laut einem Interview mit dem Deutschlandfunk Kultur außerdem viele Stunden in Archiven und Bibliotheken recherchiert und keine Hinweise darüber gefunden, dass der Name der M*straße mit dem Schwarzen Dienstpersonal am preußischen Hof zusammenhängt.
In einem weiteren Interview mit dem WDR führt Berwald an, dass in Preußen um 1700 Straßenbenennungen nur aus ehrenden Motiven erfolgt seien. Deswegen könne die M*straße zu ihrer Zeit keine negativen Konnotationen gehabt haben. Diese Hypothese ist jedoch nicht mit Quellen belegt.

Film: "Der lange Weg der Mohrenstraße"

Häuser und Straße
Film "Der lange Weg der Mohrenstraße"

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e) Resümee und Perspektiven

Unter Historiker*innen und Kulturwissenschaftler*innen herrscht weitgehend Einigkeit darüber, dass der Begriff M* im 18. und 19. Jahrhundert eine rassistische Zuschreibung erhielt, die auch mit biologistischen „Rasse“-Theorien verschmolzen wurde. Außerdem besteht weitgehender Konsens darüber, dass der Begriff vor allem in Kombination mit der Werbe-Ikonographie des 20. Jahrhunderts Schwarze Menschen häufig als dienstbar, exotisiert und untergeordnet dargestellt hat.

Wissenschaftlich umstritten ist, wie rassistisch der M*-Begriff zu seiner Entstehungszeit war. Maßgeblich für die Einordnung dürfte hier die jeweils verwendete Rassismus-Definition sein. Das Institut für Europäische Ethnologie differenziert in dieser Hinsicht eine „engere“ von einer „erweiterten“ Rassismus-Definition. Die „engere“ Definition sieht Rassismus lediglich im Fahrwasser des anthropologischen und evolutionistischen Rassismus des späten 18. und 19. Jahrhunderts und den daran anknüpfenden hierarchisierenden „Rasse“-Theorien verortet. Eine erweiterte Definition spricht hingegen bereits dann von Rassismus, wenn „unveränderliche, essentialisierende Unterschiede zwischen ‚Herkunftsgemeinschaften‘“ (Institut für Europäische Ethnologie 2020) konstruiert werden. Kombiniert man eine solche Definition mit der exotisierenden Konnotation, die der M*-Begriff in der Frühen Neuzeit hatte, ließe sich zumindest teilweise auch hier ein rassistischer Sprachgebrauch feststellen. Wie die Verfasser*innen konstatieren, hängt die Frage, ob der M*-Begriff zur Entstehungszeit der Straße rassistisch konnotiert war, letztlich von der jeweiligen Rassismusdefinition und der damit verbundenen theoretischen und politischen Verortung der Autor*innen ab (Institut für Europäische Ethnologie 2020).

Der tatsächliche Ursprung des Straßennamens konnte bisher nicht eindeutig rekonstruiert werden. Unabhängig davon muss jedoch konstatiert werden, dass Straßennamen auch jenseits von ihrer jeweiligen zeitgenössischen Benennungsmotivation im Nachgang eine Eigendynamik entfalten und neue oder erweiterte Konnotationen erhalten können.

Folgerichtig hat sich die Bezirksverordnetenversammlung Mitte im August 2020 dafür entschieden, den Weg der Perspektivumkehr zu gehen und den Namen der M*straße durch eine handlungsmächtige Persönlichkeit afrikanischer Herkunft im 18. Jahrhundert zu ersetzen. Sie ist darin dem Vorschlag vorrangig afrodeutscher und afrodiasporischer Akteur*innen aus der Zivilgesellschaft gefolgt. Betont wird dabei, dass durch die Ehrung Anton Wilhelm Amos der historische Kontext der Namensgebung der Straße nicht verloren geht. Auch der neue Name verweist weiterhin auf die preußische Geschichte des 18. Jahrhunderts und die Präsenz afrodiasporischer Menschen in Berlin – in diesem Fall jedoch mit einer Perspektive, die Schwarze Menschen als handelnde Subjekte begreift.

Dies spannt gleichzeitig einen Bogen zu größeren erinnerungskulturellen Fragestellungen in der Berliner Mitte. Der deutsche Kolonialismus hat im Umkreis der M*straße deutliche Spuren hinterlassen. Nicht nur war wenige hundert Meter entfernt der Ort der Berliner Afrikakonferenz von 1884, auf dem der Kontinent unter den europäischen Kolonialmächten aufgeteilt wurde (Wilhelmstraße 77). Auch die Firma Sarotti mit dem Sarotti-M* hatte zeitweilig ein Ladenlokal in der M*straße. Das Deutsche Kolonialhaus des Berliner Kaufmanns Bruno Antelmann war über einige Zeit in der Jerusalemer Straße 28 angesiedelt. Weitere Orte mit kolonialer Historie finden sich in der unmittelbaren Nachbarschaft der M*straße, etwa in der Friedrichsgracht oder dem Ermelerhaus. Interessierte Bürger*innen können sich heute über diesen kolonialen Komplex u.a. über einen Audio-Guide der Alice-Salomon-Hochschule informieren.

Schließlich befindet sich in der Mitte des Berliner Zentrums auch das neue Humboldtforum am Standort des ehemaligen Schlossbaus. Die repräsentativen Aufgaben und Funktionen des neuen Humboldtforums haben kontroverse Debatten erfahren und liefern mit der kritischen Aufarbeitung der außereuropäischen Sammlungen heute Impulse für die postkoloniale Erinnerungskultur in Berlin, von dem auch ein postkolonialer Lern- und Erinnerungs- und Dokumentationsort profitieren könnte.

Der geschichtspolitisch aufgeladene Name der M*straße und deren Umbenennung war der Anlass für ein partizipatives Forum, das das Bezirksamt Mitte in Kooperation mit Each One Teach One e.V. im November 2020 veranstaltete. Aufgrund der Häufung kolonialer Institutionen in der Berliner Mitte besteht seit längerem der zivilgesellschaftliche Wunsch, einen postkolonialen Lern- und Erinnerungsort in der Nähe der M*straße einzurichten.

f) Literaturauswahl

Aikins, Joshua Kwesi (2012): Berlin Remix, in: Kien Nghi Ha (Hrsg.): Asiatische Deutsche. Vietnamesische Diaspora and Beyond. Assoziation A, Berlin, S. 289-304.

Arndt, Susan /Hamann, Ulrike (2011): ‘Mohr_in’, in: Susan Arndt / Nadja Ofuatey-Alazard (Hrsg.): Wie Rassismus aus Wörtern spricht. (K)Erben des Kolonialismus im Wissensarchiv deutsche Sprache. Ein kritisches Nachschlagewerk. Unrast, Münster, S. 649-653.

Berwald, Bodo (2016): Wann und warum erhielt die Mohrenstraße ihren Namen, in: Berliner Woche, 22 April 2016

Berliner Entwicklungspolitischer Ratschlag e.V. (Hrsg.) (2016): Stadt neu lesen: Dossier zu kolonialen und rassistischen Straßennamen in Berlin. [Broschüre] Berlin. [http://eineweltstadt.berlin/publikationen/stadtneulesen/mohrenstrasse/].

Ciarlo, David (2011): Advertising Empire. Race and Visual Culture in Imperial Germany, Harvard University Press, Cambridge MA:.

Endrias, Yonas/Weiß, Michael (2014): ‚Geh zurück und rette es!‘ Berliner Projekt arbeitet deutschen Kolonialismus aus Schwarzer Perspektive auf, in: dis.kurs 1/2014, S. 28-29.

Endrias, Yonas (2019): Lernen, Erinnern und Empowern, in: Programm VHS Berlin Mitte August bis Dezember 2019, S. 49-55.

Firla, Monika (2002): Anton Wilhelm Amo (Nzema, heute Republik Ghana). Kammermohr – Privatdozent für Philosophie – Wahrsager, in: Tribus 51, S. 56-89.

Firla, Monika (2012): Ein Jenaer Stammbucheintrag des schwarzen Philosophen Anton Wilhelm Amo aus dem Jahr 1746. AfriTüDe Geschichtswerkstatt, Stuttgart.

Heyden, Ulrich van der (2008): Auf Afrikas Spuren in Berlin. Die Mohrenstraße und andere koloniale Erblasten. Tenea, Berlin.

Heyden, Ulrich van der (2014): Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan. Der sträfliche Umgang mit der Geschichte in der deutschen Hauptstadt, in: Werner Breuning / Uwe Schaper (Hrsg.): Berlin in Geschichte und Gegenwart. Jahrbuch des Landesarchivs in Berlin. Gebr. Mann, Berlin, S. 247-266.

Hinrichsen, Malte / Hund, Wulf D. (2014): Metamorphosen des ‘Mohren’. Rassistische Sprache und historischer Wandel, in: Gudrun Hentges et al. (Hrsg.): Sprache – Macht – Rassismus. Metropol, Berlin, S. 69-96.

Hund, Wulf D. (2009): Die Körper der Bilder der Rassen. Wissenschaftliche Leichenschändung und rassistische Entfremdung, in: ders. (Hrsg.): Entfremdete Körper. Rassismus als Leichenschändung. Transcript, Bielefeld, 13-79.

Institut für Europäische Ethnologie, Humboldt-Universität zu Berlin (2020): FAQ zur Umbenennung der „Mohrenstraße

Kaschuba, Wolfgang (2020): Man müsste auf jedem Straßenschild eine Informationstafel anbringen. Interview im Tagesspiegel, 07.08.2020.

Kopp, Christian (2015): White Myths – Black History: Der Fall der Berliner Mohrenstraße, in: Lernen aus der Geschichte [Online-Plattform].

Kuhlmann-Smirnov, Anne (2013): Schwarze Europäer im Alten Reich. Handel, Migration, Hof. V&R Unipress, Berlin.

Lauré al-Samarai, Nicola (2019): Grenzgänger*innen: Schwarze und Osmanische Präsenzen in der Metropole Berlin um 1700, 2 Teile. [Broschüre], Berlin.

McClintock, Anne (1995): Imperial Leather. Race, Gender and Sexuality in the Colonial Contest. Routledge, New York.

Menn, Stephen / Smith, Justin E. H. (Hrsg., 2020): Anton Wilhelm Amo’s Philosophical Dissertations on Mind and Body. Oxford University Press, New York.

Zeller, Joachim / Wegmann, Heiko (2008/17): “Mohren” – Ein Stereotyp in der Alltagskultur: Fotogalerie. Webseite von freiburg-postkolonial: , zuletzt aktualisiert/erweitert: 6.4.2017

Zeller, Joachim (2010): Weiße Blicke Schwarze Körper – Afrikaner im Spiegel westlicher Alltagskultur. Sutton Verlag, Erfurt.

5. Martha-Ndumbe-Platz

Die Umbenennung wird am 12.10.2025 wirksam.

a) Zur Geschichte des Platzes

In der Umgebung des heutigen Martha-Ndumbe-Platzes, im Einflussgebiet der Panke, lag im 13. Jahrhundert das Dorf Weddinge. Das gleichnamige Rittergut, samt einer Mühle und einem größeren Gebiet rund um die Panke, hatte wahrscheinlich der brandenburgische Ritter und Burgmann Rudolf von Wedding als Lehen erhalten.
Das Dorf wurde 1251 erstmals urkundlich erwähnt. Im gleichen Jahr galt Weddinge, jedoch schon als unbewohnt, da die Bevölkerung infolge von Aufständen die Umgebung verließ.
Einige Jahrhunderte später wurde um 1600 in dem Areal zwischen der heutigen Pank-, Reinickendorfer- und Weddingstraße ein Gut errichtet. Das Gut erlebte eine kurze Blütezeit, zerfiel jedoch in den Wirren des 30-jährigen Krieges (1618-1648). Im 19. Jahrhundert wurde das Gebiet, darunter auch der heutige Martha-Ndumbe-Platz, zur Pacht in kleinere Grundstücke unterteilt.
Erst Mitte des 19.Jahrhunderts wurde der Platz in das Straßennetz Berlins eingegliedert, basierend auf der Planung von James Hobrecht, der die naheliegenden Straßen und Plätze miteinander verband. Am Schnittpunkt der Verbindungsstraßen nach Reinickendorf und Pankow bildete sich so auch die dreieckige Form des Platzes, die bis heute besteht. Der Platz wurde in Hobrechts Plänen zunächst nur als Platz M bezeichnet und 1884 nach dem „preußischen Volkshelden“ Joachim Nettelbeck (1728-1824) benannt.
Auch politisch hatte der Platz Bedeutung und war immer wieder Ort verschiedener Aufmärsche diverser politischer Orientierungen. Im Zuge der gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen kommunistischen Arbeiter*innenn und der Berliner Polizei rund um den 1. Mai 1929, bekannt als „Weddinger Blutmai“, wurde das Gebiet rund um den Platz, vor allem die nordöstlich gelegene Kösliner Straße, zum einem der Zentren des Konflikts.
Die formale Platzgestaltung wurde 1893 mit der Bepflanzung des Platzes begonnen. 1921 wurden die Gartenanlagen wegen zu hohem Pflegeaufwand jedoch wieder entfernt.
1953 erfolgte der Umbau in einen Rundplatz, dessen Mittelinsel von vier Straßenbahnlinien gekreuzt wurde. Ab diesem Zeitpunkt entwickelte sich der Platz zu einem reinen Verkehrsplatz. Das übriggebliebene Grünrondell war mehr nicht zu erreichen und durch das hohe Verkehrsaufkommen ohnehin kein attraktiver Ort zum Verweilen.
Als Ergebnis eines städtebaulichen Ideenwettbewerbs begann 1985 die Neugestaltung des Platzes nach den Plänen des Architekten Günther Fischer. Angestrebt wurde eine Verkehrsberuhigung in den Wohngebieten, während wichtige öffentliche Einrichtungen weiter gut erreichbar bleiben sollten. Durch eine geänderte Verkehrsführung erhielt der Platz seine ursprüngliche Dreiecksform zurück und wurde wieder für die Anwohnenden nutzbar.
Den Mittelpunkt des Platzes bildet seit 1988 der Brunnen der tschechisch-deutschen Künstlerin Ludmila Seefried-Matejková mit dem Titel: Tanz auf dem Vulkan. Aus dem Brunnenbecken ragt ein gut zwei Meter hoher Vulkan empor, auf dem fünf Bronzefiguren fröhlich tanzen. Am Fuß des Vulkans ist ein Klavier aus schwarzem Vulkangestein eingelassen, davor sitzt ein Pianist. Nur wer genauer hinschaut erkennt: ein Fuß des Pianisten ist in Wahrheit ein Huf, der Pianist ist ein Satyr. In der griechischen Mythologie sind Satyre Dämonen im Gefolge des Gottes Dionysos und gelten als ausgelassene, lüsterne Wesen. Der Brunnen ist im Kontext des Kalten Krieges zu verstehen. Ludmila Seefried-Matejková beschrieb ihr Werk als Metapher für die Gefährlichkeit der damaligen Welt. Angeheizt vom Klavierspiel des Satyrs tanzen die Figuren, mutig oder fast schon übermütig, ungeachtet der Gefahr, auf dem Krater. Die Künstlerin ließ sich auch vom echten Leben inspirieren: alle Bronzefiguren sind Verwandten und Freunden nachempfunden. Der Entwurf setzte sich 1987 gegen vier andere Vorschläge durch und wurde im Zuge der Umgestaltung des Platzes gebaut.
Im Herbst 2025 erfolgte die offizielle Umbenennung in Martha-Ndumbe-Platz.

b) Zur Umbenennung: Die Problematik Nettelbeck

Joachim Nettelbeck (1738-1824) war ein ehemaliger Seefahrer, Branntweinbrenner und Bürgerrepräsentant in Kolberg (Westpommern, heutiges Polen). Auf Grund seiner Rolle bei der Verteidigung Kolbergs gegen napoleonische Truppen im Jahr 1807 wurde er zum Volksheld verklärt.
Nettelbecks Status als Volksheld wurde im Nationalismus des 19. und frühen 20. Jahrhunderts kultiviert. Die Nationalsozialisten knüpften hier an und machten Nettelbeck während des Zweiten Weltkriegs zur Propagandaikone. Im Durchhaltefilm „Kolberg“, der in den letzten beiden Kriegsjahren gedreht und am 30. Januar 1945 uraufgeführt wurde, werden Nettelbeck als Bürgermeister von Kolberg Parolen wie „Lieber unter Trümmern begraben, als kapitulieren!“ zugeschrieben . Tatsächlich soll Nettelbeck, laut seiner Autobiografie, Morddrohungen gegen Kolberger Bürger*innen ausgesprochen haben, die eine Übergabe der Stadt an die napoleonischen Truppen in Erwägung zogen. Im Zuge der Umbenennung stehen jedoch besonders Nettelbecks Verstrickungen in den transatlantischen Versklavungshandel im Vordergrund. Joachim Nettelbeck war gleich zu Anfang seiner Seefahrtskarriere als 11-jähriger Schiffsjunge auf einem niederländischen Versklavungsschiff. Auf dieser Reise lernte er Pidgin (eine grammatikalisch vereinfachte Behelfssprache, die sich vor allem unter kolonialen Bedingungen oder im Handelsverkehr ausgebildet hat) und konnte so bei späteren Verhandlungen zum Einkauf von Menschen als Dolmetscher dienen. Im Laufe seines Lebens reiste er sieben Mal in die Karibik, zwei von diesen Reisen fanden auf niederländischen Versklavungsschiffen statt. Er setzte seine Sprachkenntnisse ein, um zum Obersteuermann befördert zu werden und war dadurch mehrmals am An- und Verkauf von Menschen, sowie ihrem Transport über die berüchtigte Mittelpassage über den Atlantik von Afrika in die Amerikas beteiligt. In seiner Autobiografie berichtet Nettelbeck von Erniedrigungen und Versklavungsritualen, sowie sexualisierter Gewalt gegenüber den versklavten Menschen.
Gleichzeitig äußert sich Nettelbeck im zweiten Teil seiner Autobiografie relativierend gegenüber dem Versklavungshandel und versucht, sein eigenes Handeln in ein gutes Licht zu rücken: „Vor 50 Jahren war und galt dieser böse Menschhandel als ein Gewerbe, wie andre, ohne daß man viel über seine Recht- oder Unrechtmäßigkeit grübelte. […] Barbarische Grausamkeit gegen die eingekaufte Menschen-Ladung war nicht nothwendiger Weise damit verbunden und fand auch wohl nur in einzelnen Fällen statt; auch habe ich, meines Theils, nie dazu gerathen oder geholfen.“
Besonders hervorzuheben, ist Nettelbecks Engagement im Koloniallobbyismus. Dreimal versuchte er, preußische Könige zum Erwerb von Kolonien in der Karibik zu bewegen. 1775 und 1786 richtete er sich an Friedrich II. bzw. dessen Nachfolger Friedrich Wilhelm II., 1814 verfasste er einen Brief mit demselben Ziel an seinen Gönner, den preußischen Heeresreformer August Neidhardt von Gneisenau.
Seinen letzten Versuch, die Idee einer preußischen Kolonie einzubringen, beschrieb Nettelbeck in seiner Autobiografie wie folgt: „da erwachte plötzlich auch mein alter, langgenährter Lieblingswunsch in der Seele; ich wollte Preußen auch jenseits der Weltmeere groß, blühend und geachtet sehen; es sollte seine Kolonien gleich andern besitzen!“ Nettelbeck war der Meinung, dass Afrika nur durch Kolonialismus vom Sklavenhandel befreit werden könne. Die Kolonialbewegung im Kaiserreich sah in ihm ein Vorbild und einen Vorläufer ihrer eigenen Ambitionen.
Joachim Nettelbeck hat keinerlei direkten Bezug zu Berlin oder dem Bezirk Wedding. Die Namensgebung des Platzes 1884 ist wohl auf die damalige Verehrung von Nettelbeck als „Volksheld“ zurückzuführen.
Ein Forschungsteam der Universität Erfurt fasste Nettelbecks Vita in einer Stellungnahme aus dem Jahr 2020 wie folgt zusammen: „An einem verbrecherischen Unrechtsregime, das die deutsche Geschichte geprägt hat, dem Kolonialismus, war Nettelbeck als Seefahrer und Lobbyist direkt beteiligt, für ein weiteres, den NS, diente er als Anknüpfungspunkt. In Erfurt und anderswo ist er als Namensgeber einer Straße ungeeignet.“

c) Der Umbenennungsprozess

Die BVV Mitte wurde erstmals im August 2021 ersucht, sich der Umbenennung des Nettelbeckplatzes anzunehmen. Hintergrund war die Erweiterung der Ausführungsvorschrift des Berliner Straßengesetzes 2020, um im Sinne der Dekolonialisierung des öffentlichen Raumes die Umbenennung von Straßennamen mit kolonialem Bezug zu ermöglichen. Straßen in Berlin können seitdem auch auf Grund von „Bezug auf den Kolonialismus, sofern die Straßen nach Wegbereitern und Verfechtern von Kolonialismus, Sklaverei und rassistisch-imperialistischen Ideologien oder nach in diesem Zusammenhang stehenden Orten, Sachen, Ereignissen, Organisationen, Symbolen, Begriffen oder ähnlichem benannt wurden.“ umbenannt werden.
Im Frühjahr 2023 wurden auf meinberlin.de, der zentralen Beteiligungsplattform des Landes, aber auch per Email und postalisch, Namensvorschläge gesammelt. Insgesamt wurden 530 Vorschläge eingereicht und durch das Amt für Weiterbildung und Kultur, Fachbereich Kunst, Kultur und Geschichte, Sachgebiet Erinnerungskultur und Geschichte des Bezirksamts Mitte von Berlin auf ihre formale Eignung überprüft.
Anschließen diskutierte ein Beratungsgremium die Vorschläge inhaltlich und arbeitete in insgesamt drei Sitzungen, drei Namen als für die Umbenennung des Platzes infrage kommend heraus. Zur Teilnahme am Beratungsgremium wurden lokale Akteur*innen sowie diverse Organisationen und Initiativen eingeladen. Letztlich setzte sich das Gremium wie folgt zusammen: Afrika-Rat Berlin Brandenburg e.V., Berlin Postkolonial e.V., Berliner Stadtmuseum Kompetenzstelle Dekolonisierung, Each One Teach One (EOTO) e.V., Familienzentrum SCHALASCH vom Club Dialog e.V., Herbert-Hoover-Schule, ISD – Initiative Schwarze Menschen, NARUD e.V., Netzwerk gegen Femizide, SAVVY Contemporary e.V., Schule am Zille-Park, Silent green Kulturquartier GmbH, Stadtteilkoordination Wedding Zentrum, Weddinger Heimatverein e.V. Das Gremium wurde vom Büro für Bürger*innenbeteiligung (Träger: L.I.S.T. GmbH) unterstützt und durch das Sachgebiet Erinnerungskultur und Geschichte und das Quartiersmanagement Pankstraße beraten.
Die Wahl fiel auf Martha Ndumbe (1902-1945), Vera Heyer (1946 – 1995) und Fasia Jansen (1929-1997) , drei Schwarze deutsche Frauen.
Die Namensvorschläge wurden der BVV Mitte bzw. dem Ausschuss für Weiterbildung und Kultur zur finalen Entscheidung vorgelegt.
Im Juli 2025 beschloss das Bezirksamt Mitte offiziell die Umbenennung des Platzes in Martha-Ndumbe-Platz.

d) Martha Ndumbe

Martha Margaretha Ndumbe wurde am 27. Juli 1902 in Berlin geboren. Ihr Vater Jacob Ndumbe kam 1896 als sogenannter Kolonialmigrant aus Kamerun nach Deutschland. Er war einer von über 100 Menschen aus den deutschen Kolonialgebieten, die im Zuge der Kolonialausstellung im Treptower Park zur Schau gestellt wurden. Wie einige weitere Teilnehmende, entschied Jacob Ndumbe sich dafür, nach dem Ende der Ausstellung in Berlin zu bleiben. Marthas Mutter, Dorothea Grunwaldt, stammte aus Hamburg.
Martha Ndumbes Leben war zeitlebens von Armut und Ausgrenzung geprägt. Die wirtschaftliche Situation der Familie war prekär, da Jacob Ndumbe keine feste Anstellung als Schmied finden konnte. Sein Einbürgerungsantrag wurde abgelehnt. 1910 trennten Martha Ndumbes Eltern sich, ihre Mutter kehrte nach Hamburg zurück. Einige Zeit lang kam Martha bei Familienfreunden unter. Im Verlauf der nächsten Jahre litt ihr Vater Jacob zunehmend an psychischen und körperlichen Gesundheitsproblemen. 1919, als Martha erst 16 Jahre alt war, starb Jacob Ndumbe im psychiatrischen Krankenhaus Dalldorf. Kurz darauf brachte Martha Ndumbe ihre Tochter Anita zur Welt, die jedoch noch im Säuglingsalter verstarb.
Besonders im Verlauf der 1930er Jahre verschlechterte sich die soziale und wirtschaftliche Lage für viele Schwarze Menschen in Deutschland rapide. Wie ihrem Vater zuvor, wurde auch Martha zunehmend der Zugang zu Bildung und Erwerbsarbeit erschwert oder verwehrt. Sie hatte Mühe, eine feste Anstellung zu finden. Martha arbeitete gelegentlich als Näherin, aber ab Mitte der 1920er Jahre waren Prostitution und Kleinkriminalität zu ihren Haupterwerbsquellen geworden. Dadurch wurde auch die Polizei auf sie aufmerksam und Martha wurde bereits vor 1933 wegen einer Reihe von Bagatelldelikten verhaftet und verurteilt. 1932 heiratete Martha Ndumbe den Berliner Arbeiter Kurt Borck. Die Beziehung des Paares war unglücklich und von Missbrauch geprägt. Auch Kurt gelang es nicht, eine feste Arbeit zu finden, er entwickelte sich mit der Zeit zu Marthas Zuhälter, schickte sie auf die Straße und kontrollierte das Geld, das Martha verdiente. Nach einer längeren Haftstrafe Kurts und einer gewalttätigen Auseinandersetzung, brachte Martha 1937 den Mut auf, Kurt bei der Polizei zu melden, im Jahr darauf ließen sie sich offiziell scheiden.
1943 wurde Martha Ndumbe wegen Diebstahls und Besitz von Diebesgut zu einer Gefängnisstrafe von eineinhalb Jahren verurteilt. Sie verbüßte ihre Haftstrafe zunächst im Frauengefängnis Barnimstraße und später in einem Frauengefängnis in Leipzig. Eine Woche nach dem offiziellen Haftende am 31. Mai 1944 wurde Martha Ndumbe von der Gestapo in das Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück transportiert. In Ravensbrück wurde sie als sogenannte „Asoziale“ inhaftiert und erhielt die Häftlingsnummer 41701. Ausschlaggebend für diese Kategorisierung war ihre Tätigkeit als Sexarbeiterin. Laut dem Historiker Robbie Aitken war Martha Ndumbe eine von mindestens fünf Schwarzen Frauen, die im Konzentrationslager Ravensbrück inhaftiert waren.
Innerhalb eines Monats nach ihrer Ankunft in Ravensbrück wurde Martha Ndumbe bereits in das Lagerkrankenhaus eingeliefert. Dort starb sie am 5. Februar 1945 im Alter von 42 Jahren, vermutlich an den Folgen einer Tuberkulose-Erkrankung.
Mitte der 1950er Jahre reichte Marthas Mutter Dorothea Grunwaldt einen Wiedergutmachungsantrag auf Entschädigung für den Verlust ihrer Tochter ein. Sie bezeugte darin auch das Leid, dass Martha aufgrund von Rassendiskriminierung Zeit ihres Lebens erlitten hatte. Aufgrund von Marthas Status als „Asoziale“ wurde ihr Leiden von den Behörden jedoch nicht anerkannt.
Als „asozial“ abgestempelt und verfolgt wurden im Nationalsozialismus insbesondere Sexarbeiter*innen, arme Menschen und Menschen, die ohnehin bereits am Rande der Gesellschaft lebten. Sie alle passten nicht in die von den Nationalsozialisten angestrebte Volksgemeinschaft. Auch nach dem Ende des Nationalsozialismus erhielten sie jahrzehntelang keine Gerechtigkeit und wurden erst 2020 als offizielle Opfergruppe anerkannt.
Martha Ndumbe war der sogenannten Mehrfachdiskriminierung ausgesetzt. Als Schwarze Deutsche wurde sie rassistisch diskriminiert. Zusätzlich machten ihre prekären Lebensverhältnisse und ihre Arbeit als Sexarbeiterin sie zum Ziel von nationalsozialistischer Verfolgung. Damit steht sie stellvertretend für eine Opfergruppe, die bisher erst wenig Aufmerksamkeit erfahren hat.
Im August 2021 wurde vor Martha Ndumbes ehemaligem Wohnhaus in der Max-Beer-Str. 24 (damals Dragonerstraße) ein Stolperstein für sie verlegt. Es war der erste Stolperstein in Deutschland, der einer Schwarzen Frau gewidmet wurde.

e) In der näheren Umgebung

In westlicher Richtung des Martha-Ndumbe-Platzes, im weiteren Verlauf der Gerichtsstraße, befindet sich das ehemalige Krematorium Berlin-Wedding. Das Krematorium war von 1912 bis 2001 in Betrieb und steht seit 1995 unter Denkmalschutz. Seit Herbst 2015 beherbergt das Gebäude das interdisziplinäre Kulturquartier silent green. Die historische Kuppelhalle sowie die 2019 fertiggestellte unterirdische Betonhalle werden für Lesungen, Konzerte, Ausstellungen, Filmscreenings und andere kulturelle Veranstaltungen genutzt. Zudem ist das silent green regelmäßig Spielstätte der Berlinale.
Direkt neben dem ehemaligen Krematorium Berlin-Wedding befindet sich der Urnenfriedhof Gerichtstraße. Am dem heutigen Standort des Urnenfriedhofs wurde 1828 der erste städtische Friedhof Berlins angelegt, der bereits 1831 erweitert werden musste. Auf dem Friedhof befinden sich mehrere Ehrengräber des Landes Berlin. U.a. sind hier Emanuel Mendel (Neurologe, Psychiater und Politiker, 1839-1907), Max Sievers (Freidenker und NS-Widerstandskämpfer, 1887-1944) und Louis Toaillon (Bildhauer und Medailleur, 1862-1919 – z.B. Statue Robert Kochs vor der Charité) begraben.
In östlicher Richtung liegt an der Ecke Reinickendorfer Straße/Gerichtstraße seit 2016 der Kunstraum SAVVY Contemporary. Der Schwerpunkt von SAVVY Contemporary liegt auf zeitgenössischer Kunst, kritischem Diskurs und interdisziplinärer Forschung, mit besonderem Augenmerk auf postkoloniale und dekoloniale Perspektiven. Hier wird unter anderem das fortlaufende partizipative Archiv-und Forschungsprojekt Colonial Neighbours betrieben, das sich mit der deutschen Kolonialgeschichte und ihren Nachwirkungen und Kontinuitäten in die Gegenwart auseinandersetzt.

f) Quellen

Aitken, Robbie (2021). Jacob Njo N’dumbe [1878-1919] und Martha N’dumbe [1902-1945] – Kamerun | Deutschland:

Berliner Morgenpost, „Berliner sieht sich in Bronze gegossen als Brunnenfigur“, 13.10.1988.

Aitken, Robbie (2021). Martha Ndumbe – Biografische Zusammenstellung. Stolpersteine in Berlin.

Dr. Linder, Urs, Dr. Stehrenberger, Cécile, Dr. Wagner, Florian (2020). Stellungnahme zur Umbenennung des Erfurter Nettelbeckufers in Gert-Schramm-Ufer. Universität Erfurt, S. 1-13.

Handrich, Jürgen, Kittelmann, Gerd, Pérvot, Brigitte (hrsg., 1991). Stadtplätze im Wedding – Eine Dokumentation ihrer Entstehung und Bedeutung. Bezirksamt Wedding, Bau- und Wohnungswesen- Gartenbauamt.

Keilen, Verena (2015). „Der Film Kolberg“, Deutsches Historisches Museum.

Namensverzeichnisse über ein- und ausgegangen Schriftstücke bei der Kriminalpolizeileitstelle Berlin, Bd. 4, Eintrag Nr. 4297, Arolsen Archives

Nettelbeck, Joachim, Haken, J.C.(hrsg., 1987). Lebensbeschreibung des Seefahrers, Patrioten und Sklavenhändlers Joachim Nettelbeck, Die Andere Bibliothek, II-III Band.

Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V. „Berlin-Wedding, Urnenfriedhof“ Gerichtstraße https://kriegsgraeberstaetten.volksbund.de/friedhof/berlin-wedding-urnenfriedhof-gerichtstrasse

g) Literaturtipps

Aitken, Robbie (2010). Surviving in the metropole: the struggle for work and belonging amongst African colonial migrants in Weimar Germany. Immigrants & minorities, 28 (2-3), 203-223

Aitken, Robbie, Rosenhaft, Eve (2015). Black Germany – The Making and Unmaking of a Diaspora Community, 1884-1960, Cambridge University Press.