Stolpersteine Augsburger Straße 29

Hauseingang Augsburger 29

Hauseingang Augsburger 29

Die drei Stolpersteine zum Gedenken an die Familie Wellner wurden von der Nichte von Simon und Malka Wellner, Evelyn Grollke (Pullach), gespendet und am 29.3.2008 verlegt.
Die Stolpersteine für Friedrich Warschauer, Else Grün, Else Grünberg, Lilli und Kurt Riess wurden von den Hausbewohnern Veronika und Uwe Braun gespendet und am 19.5.2016 verlegt. Das Haus mit der heutigen Nummer 29 war früher die 44.

Stolperstein für Malka Wellner

Stolperstein für Malka Wellner

HIER WOHNTE
MALKA WELLNER
GEB. WELLNER
JG. 1898
FLUCHT 1939 BRÜSSEL
1942 LAGER MECHELEN
DEPORTIERT 10.10.1942
AUSCHWITZ
ERMORDET

Malka Wellner

Malka Wellner

Malka Wellner wurde am 24. August 1898 in Wolbrom (deutsch: Wolfram) in Polen geboren. Sie war die Tochter von Wolf-Jakob (geboren 1870) und Ruchel-Laja (Ruchla) geb. Pfeffer. Sie heiratete 1916 ihren Vetter Szymon (Simon) Leib Wellner, der in der Augsburger Straße 44 seit 1934 eine Maßschneiderei hatte. Im Adressbuch sowie im Branchenbuch war er bis 1938 als Damen- und Herren-Schneider eingetragen. Zu seinen Kunden zählten Schauspieler, Sänger und Musiker. Die Augsburger Straße war in den 1920er Jahren bis zur ersten Hälfte der 1930er Jahre, als die Nationalsozialisten diese Gegend verwandelten, ein Künstler- und Vergnügungsviertel gewesen.

Sie floh im Mai 1939 zusammen mit ihrem Mann, der zur Aufgabe des Geschäfts gezwungen wurde, nach Belgien, zunächst nach Antwerpen, wo das Ehepaar bis Januar 1942 unbehelligt lebte. Doch dann wurden sie von der Gestapo aufgespürt und verhaftet und nach Limburg-Koersel verschleppt, wo sie vom 12. Februar bis 25. Juli 1941 eingesperrt waren. Unmittelbar nach ihrer Freilassung flohen sie nach Brüssel. Dort wurde Malka erneut verhaftet und am 7. Oktober 1942 in das Lager Mechelen eingeliefert. Mit 1674 Menschen in einem Eisenbahnzug ist Malka Wellner am 10. Oktober 1942 nach Auschwitz deportiert und dort ermordet worden.

Ihre Nichte Dr. Evelyn Grollke geb. Gurasch aus Pullach (bei München) hat 2008 bei der Gedenkstätte für den Holocaust Yad Vashem in Jerusalem Gedenkblätter für Malka Wellner sowie für deren beide Söhne Motel und Szulim hinterlegt, dem einige dieser Informationen entnommen sind.

Simon Wellner mit seiner 2. Frau, Melbourne 1952

Simon (Szymon Leib) Wellner wurde am 8. März 1892 in Sączów in Oberschlesien geboren, Sein Vater hieß Aleksender, seine Mutter Krajndla geb. Mirowski. Simon erlernte das Schneiderhandwerk. Zunächst wohnte und arbeitete er in der Nähe in Königshütte, 1919 zog er nach Heegermühle bei Eberswalde, seine Frau Malka folgte mit den beiden Söhnen. Danach kamen auch mehrere seiner Geschwister und Cousins nach Heegermühle (Finow) und wohnten bei Simons Familie.

Nach dem 9. November 1938, der Reichspogromnacht, kam es erneut zum Boykott der jüdischen Geschäfte, und im Dezember 1938 musste Simon seinen Betrieb gänzlich einstellen. Im Februar 1939 erfolgte die Ausweisung aus Deutschland durch Polizei und Gestapo.

Im Mai 1939, nachdem ein Fluchtversuch der beiden Söhne Motel und Szulim gescheitert war, versuchten auch sie über Aachen nach Belgien zu flüchten. Nach einer vorübergehenden Verhaftung gelang ihnen ein zweiter Versuch. Als seine Frau Malka verhaftet und nach Auschwitz deportiert wurde, konnte Simon ab Oktober 1942 in Brüssel untertauchen. Er musste versteckt unter “menschenunwürdigen Bedingungen in einem Keller leben”, wie er später angab. Nachdem er im September 1944 von den Alliierten befreit worden war, emigrierte er im März 1947 von Belgien nach Australien. Dort lebten einige seiner Verwandten, die meist aus Będzin stammen. Er heiratete noch einmal und wohnte mit seiner zweiten Frau Rachel, die ebenfalls die Shoah überlebt hatte, in Melbourne. Am 26. Mai 1977 starb Simon in St. Kilda, Melbourne. Dort ist er auf dem jüdischen Friedhof beerdigt.

Stolperstein für Motel Wellner

Stolperstein für Motel Wellner

HIER WOHNTE
MOTEL WELLNER
JG. 1917
FLUCHT 1939 BELGIEN
VERHAFTET
DEPORTIERT
AUSCHWITZ
ERMORDET 1944

Simon Wellner und seine Familie in Berlin

Simon Wellner und seine Familie in Berlin

Motel Moritz Wellner wurde am 5. September 1917 in Będzin (von den Nationalsozialisten umbenannt in Bendsburg) bei Kattowitz (Katowice) im Süden Polens, etwa 50 Kilometer von Wolbrom, der Geburtsstadt seiner Mutter Malka, entfernt, geboren. Er war ledig und arbeitete als Angestellter bei den Kupfer- und Messingwerken Hirsch in Finow bei Eberswalde im Norden Berlins. Es wurde ihm für die Zeit nach dem Handelsstudium sogar die Prokura in Aussicht gestellt. 1938 musste Motel als Jude jedoch die Firma verlassen.

Im März 1939 versuchte Motel mit seinem zwei Jahre jüngeren Bruder Szulim nach Belgien zu flüchten. An der deutsch-belgischen Grenze wurden sie jedoch gefasst und in einem Gefangenentransport nach Berlin ins Polizeigefängnis Alexanderplatz geschafft. Die Eltern besorgten Schiffsfahrkarten in ein „Überseeland“. Aber vergeblich: Beide Brüder, die polnische Staatsbürger waren, wurden „abgeschoben“ in ihren Geburtsort Będzin, wo inzwischen ein Sammellager für zur Deportation vorgesehene Juden im Ghetto eingerichtet worden war. Es ist nicht bekannt, wann genau Motel nach Auschwitz deportiert wurde.
Auf dem Gedenkblatt in Yad Vashem zitierte seine Cousine „Zeugenaussagen von Mithäftlingen“, die sie in den Entschädigungsakten gefunden hatte: Er sei als „Muselman“ gemeinsam mit Bruder Szulim ins Krematorium Birkenau getrieben worden. Es ist sicher, dass sie dort vergast wurden. Als Todeszeitpunkt wird nach diesen Quellen Juli/August 1944 angegeben.

Stolperstein für Szulim Wellner

Stolperstein für Szulim Wellner

HIER WOHNTE
SZULIM WELLNER
JG. 1919
FLUCHT 1939 BELGIEN
VERHAFTET
DEPORTIERT
AUSCHWITZ
ERMORDET 1944

Szulim Salomon Wellner

Szulim Salomon Wellner wurde am 4. August 1919 in Będzin im oberschlesischen Industriegebiet in Polen geboren. Er war ledig und von Beruf Schneider, er hatte bei seinem Vater gelernt.

Mit seinem Bruder Motel wollte er im März 1939 nach Belgien fliehen, beide wurden aber an der Grenze festgenommen und in Berlin im Polizeigefängnis Alexanderplatz inhaftiert. Obwohl die Eltern Simon und Malka, die eine gut gehende Maßschneiderei in Berlin betrieben hatten, für eine Ausreise in ein „Überseeland“ gesorgt hatten, wurden die Söhne als polnische Staatsbürger in ihren Geburtsort Będzin, inzwischen von der deutschen Wehrmacht okkupiert und in von den Nationalsozialisten in Bendsburg umbenannt, „abgeschoben“ und dann nach Auschwitz deportiert. Am 1. August 1943 wurde Szulim nach Auschwitz deportiert.
Es wurde die Ankunft von 2000 Menschen registriert, von denen mehr als 1600 getötet worden sind. Szulim erhielt die Nummer 132433. Nach Aufzeichnungen im Auschwitz-Archiv war er am 2. und 9. November 1943 im Häftlingskrankenbau. In einer der Gaskammern von Birkenau wurde er im Juli/August 1944 ermordet.

Eines der vielen Geschwister von Simon Wellner war sein jüngerer Bruder Moszek David Wellner, später Moritz und nach 1945 Martin Wellner. Er war 1928 von Finow/Eberswalde nach Berlin gezogen, wo auch er eine Schneiderei eröffnete. Zu seinem Gedenken wurde ein Stolperstein an der Greifswalder Straße 43 A in Berlin verlegt, an seinem letzten Wohnort vor der Deportation nach Sachsenhausen im September 1939, ebenso für seine Ehefrau Ruth Wellner, geb. Ehrlich (geboren 1909 in Berlin) und seine Tochter Lilian Wellner (geboren 1935 in Berlin).

Zum Gedenken an Simon Wellners Cousin Jakob Herschfeld (geboren 1897 in Będzin), seine Frau Alice geb. Ehrlich (geboren 1901 in Berlin) und Tochter Gerda Herschfeld (geboren 1925 in Berlin) wurden 2006 drei Stolpersteine in der Michaelkirchstraße 24, am Heizkraftwerk Mitte, verlegt – gespendet ebenfalls von Evelyn Grollke.

Auch zum Gedenken an Irma Wellners Mutter, Röschen Paskusz, geb. Wolff, verw. Michaelis, und ihren Stiefvater Salomon Paskusz sind an der Erich-Weinert-Straße 17 in Prenzlauer Berg Stolpersteine verlegt worden. Irma Wellners Ehemann war Simons Cousin Chaim Shlomo Wellner. Er zog auch von Będzin nach Eberswalde zu Simon und Malka Wellner.

In Będzin gab es bis Ende der 1930er Jahre eine große jüdische Gemeinde; die Stadt war ein wirtschaftliches und kulturelles Zentrum der Juden, der jüdische Anteil an der Bevölkerung lag bei etwa 45 Prozent. Ab Mai 1942 begann die Deportation der Będziner Juden ins Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau; ihren Höhepunkt erreichte sie Mitte August 1942, als 5 000 Juden in den Tod geschickt wurden.

Ein bekannter Sohn der Stadt Będzin war der Historiker, Publizist und Essayist Arno Lustiger (7. Mai 1924-15.Mai 2012), der als junger Mann mehrere Konzentrationslager und Zwangsarbeit überlebt hat. Auf dem Todesmarsch aus dem KZ Buchenwald war ihm im März 1945 die Flucht zu den US-Truppen gelungen, wo er als Dolmetscher arbeitete. Nach seiner Befreiung blieb er in Frankfurt a.M.

Text: Dr. Evelyn Grollke (Pullach bei München). Aufzeichnungen und Informationen aufgrund schriftlicher Zeugenaussagen und anderer Dokumente aus Deutschland, Belgien, Polen und Australien; Ausländermeldelisten Archiv Eberswalde; Verein für Heimatkunde (Hrsg.): Eberswalder Gedenkbuch für die jüdischen Opfer des Nationalsozialismus. Ergänzungen von Helmut Lölhöffel (Berlin).

Stolperstein Friedrich Warschauer

HIER WOHNTE
FRIEDRICH
WARSCHAUER
JG. 1901
DEPORTIERT 19.10.1942
RIGA
ERMORDET 22.10.1942

Friedrich Warschauer

Friedrich Warschauer

Friedrich Warschauer wurde am 15. September 1901 in Berlin geboren. Seine Eltern waren Dr. Eugen und Regina Warschauer. Sie hatten zwei Söhne: Heinz und Friedrich. Friedrich blieb unverheiratet und wohnte in der Augsburger Straße 44.
Kurz vor seiner Deportation wurde er zur Lietzenburger Straße 8 umgesiedelt. Dann musste er sich in der Sammelstelle in der ehemaligen jüdischen Synagoge an der Levetzowstraße melden, wo er eine “Vermögenserklärung“ abzugeben hatte. Am 19. Oktober 1942 wurde Friedrich Warschauer dann vom Güterbahnhof Moabit nach Riga deportiert, wo er am 22. Oktober 1942 ankam und wie die meisten der 959 Menschen, die in diesem Zug saßen, gleich danach erschossen.

1977 füllte sein Bruder Heinz Warschauer, der in Toronto (Kanada) lebte, ein Gedenkblatt für die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem aus.

Stolperstein Else Grün

HIER WOHNTE
ELSE GRÜN
JG. 1891
DEPORTIERT 28.6.1943
ERMORDET IN
AUSCHWITZ

Else Grün ist am 10. März 1891 in Berlin geboren. Vor ihrer Deportation, die am 28. Juni 1943 vom Güterbahnhof Moabit stattfand, wurde sie in die Pasteurstraße 43 zwangsweise umgesiedelt und muss sich dann in der völlig überfüllten Sammelstelle Große Hamburger Straße 26 einfinden, wo sie für ihren Abtransport registriert wurde. Else Grün wurde nach Auschwitz gebracht und dort ermordet.

Stolperstein Else Grünberg

HIER WOHNTE
ELSE GRÜNBERG
JG. 1899
DEPORTIERT 1.3.1943
ERMORDET IN
AUSCHWITZ

Else Grünberg ist am 10. September 1899 in Berlin geboren. Sie wohnte mitten in Berlin in der Augsburger Straße 44 (heute: 29) und war Untermieterin von Friedrich Warschauer.
Bevor sie sich in der Sammelstelle Große Hamburger Straße 26 melden musste, war sie in die Fehrbelliner Straße 22 zwangseingewiesen worden. Deportiert wurde Else Grünberg mit 1722 Menschen vom Güterbahnhof Moabit am 1. März 1943 nach der „Fabrikaktion“, bei der alle in Rüstungsbetrieben tätigen jüdischen Zwangsarbeiter/innen verhaftet worden sind, nach Auschwitz. Dort ist sie ermordet worden.

Stolperstein Kurt Riess

HIER WOHNTE
KURT RIESS
JG. 1884
DEPORTIERT 12.3.1943
ERMORDET IN
AUSCHWITZ

Kurt Riess wurde am 27. Oktober 1884 in Berlin geboren. Er war das fünfte Kind von Ludwig Riess und seiner Frau Margarethe geb. Meyerheim und hatte zwei Schwestern, Else und Rosa, und vier Brüder, Max, Siegfried, Walter und Bruno. Kurts Vater betrieb eine Fabrik für Stahlstäbe und Haarwollen und handelte mit Kurzwaren engros in der Neuen Schönhauser Straße 9. Als Kurt 10 Jahre alt war, zogen Familie und Betrieb in die Stralauer Straße 33. Die Firma ließ sich immer wieder mit anderen Bezeichnungen in das Adressbuch eintragen. 1894 war es

bq. Fabrikation von Trauerfloren für Arm u. Hut in Tuch, Gummi und Seide; Fabrikation von Strumpfhaltern u. Strumpfbändern f. Damen, Kinder u. Sportsleute etc“. 1895 dann: „Posamentier- Kurzwarenhadel Engr; Spez. Hut- u Armflore, Strumpfhalter, Mech. f. Korsetts, Stahlstäbe, Radlerwr. Schweissblätter“, 1910: „Haar-Einlagen-Fabrikation, Friseurbedarfsartikel.

Das Geschäftslokal war inzwischen in die Markgrafenstraße 25, die Familie nach Lichterfelde in die Lorenzstraße 61 gezogen. Else war seit 1905 mit dem Zahnarzt Martin Grünfeld verheiratet, Max ehelichte 1910 Selma Tomatschewski, nur zwei Wochen, nachdem der Vater Ludwig Riess am 8. des Monats starb. Kurt, der seit 1909 Gesellschafter der Firma war, wurde nun, zunächst zusammen mit seiner Mutter, Inhaber des Unternehmens. Seine Geschwister zahlte er aus, das Geschäft wurde in die Zimmerstraße 65 verlegt. Margarethe, Kurt und auch seine Geschwister zogen in die Alte Jakobstraße 84, wo schon Else lebte, und nach zwei Jahren nach Steglitz. Im Mai 1913 heiratete Kurt Lilli Löwenthal und nahm eine Wohnung in der Friedenauer Brünhildestraße 2. Dort kam am 8. März 1914 beider Sohn Werner zur Welt.

Stolperstein Lilli Riess

HIER WOHNTE
LILLI RIESS
GEB. LÖWENTHAL
JG. 1889
DEPORTIERT 12.3.1943
ERMORDET IN
AUSCHWITZ

Lilli Löwenthal war am 11. Juni 1889 in Berlin geboren worden. Ihr Vater war der Kaufmann Louis Löwenthal und die Mutter Martha Klara geb. Auerbach. Als Kurt und Lilli heirateten, war Louis Löwenthal schon verstorben, die Mutter lebte mit Lilli und deren zwei Jahre jüngeren Schwester Emmi in der Mommsenstraße 56. Ein Jahr nach Lillis Hochzeit heiratete Emmi Kurts älteren Bruder Walter, die Familien Löwenthal und Riess waren also doppelt verbunden. Bald nach der Geburt von Lillis Sohn Werner zog ihr Mann Kurt in den Krieg. Als Grenadier in der 2. Garde-Grenadier-Division „im Felde“ konnte er sich nicht richtig um die Firma kümmern und 1917 wurde seine Schwester Rosa, die ebenfalls in der Brünhildestraße wohnte, Gesellschafterin, Lilli erhielt Prokura. 1920 trat Rosa, seit 1919 verheiratete Wolff, wieder aus der Firma aus – Kurt war ja wieder da. Er zog nun mit Frau und Kind in eine Wohnung am Wagnerplatz 7, ebenfalls Friedenau. Das Geschäft lief wohl gut, Kurt beschäftigte an die 20 Menschen, privat führte die Familie ein gediegenes Leben mit Dienstpersonal, Sommerreisen und Auto. Ab 1930 ging der Umsatz zurück, wahrscheinlich aufgrund der Weltwirtschaftskrise, Kurt verkleinerte das Geschäft, verlagerte es in die Besselerstraße 14.

Die Schwierigkeiten fingen aber erst an: mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten ging das Geschäft weiter zurück, da jüdische Kaufleute zunehmend boykottiert wurden. 1934 taucht im Adressbuch eine weitere Firma in der gleichen Branche auf: Ludwig Riess jr. Friseurbedarfsartikel, mit Sitz in Neukölln, ein Neffe Kurts. Kurts eigenes Geschäft wird nun in der Augsburger Straße 69 angegeben, demselben Haus, in dem sein Bruder Walter seine Zahnarztpraxis hatte. Vermutlich wohnten Kurt und Lilli auch dort. 1938 sahen sie sich gezwungen, in eine 1 ½ Zimmerwohnung in der Augsburger Straße 44 zu ziehen und im Adressbuch ist nur noch die Firma von Ludwig Riess jr. zu finden. Kurts Sohn Werner interessierte sich nicht für Friseurbedarfsartikel, er hatte vor Kunstwissenschaft und Bühnenbildnerei zu studieren. Gleich nachdem er im März 1933 noch das Abitur am Mommsen-Gymnasium absolvieren konnte, fuhr er nach München, um dort das Studium aufzunehmen. Dazu kam es aber nicht. In München wurde ihm bedeutet, dass er als Jude keine Chance habe, und noch im gleichen Monat flüchtete der 19-jährige nach Zürich und von da nach Frankreich, wo er sich zunächst als Straßenfotograf durchschlug.

Die Eltern in Berlin waren indessen den immer häufigeren antisemitischen Verordnungen der Regierung ausgesetzt. Beruflich ruiniert, im Alltag ausgegrenzt, räumlich eingeschränkt in der kleinen Wohnung, mussten sie 1939 die Pogromnacht vom 9. zum 10. November erleben und die darauffolgende drastische Verstärkung antijüdischer Bestimmungen, die sie von jeglicher Teilnahme am öffentlichen Leben ausschloss. Walter Riess, der Bruder, wurde in Sachsenhausen inhaftiert, nach seiner Freilassung gelang es, seinen 17-jährigen Sohn Hans mit einem Kindertransport nach England zu schicken. Walter und seine Frau Emmi schafften es, nach Shanghai zu flüchten, die einzige Stadt, die noch jüdische Flüchtlinge aufnahm.

Wir können uns denken, dass auch Kurt und Lilli gerne Deutschland verlassen hätten, sie sahen jedoch keine Möglichkeit für sich. Weiterhin verfolgt und erniedrigt, mussten sie zusehen, wie am 31. Juli 1942 Kurts 86-jährige Mutter Margarethe nach Theresienstadt und Kurts Schwester Else, – die, mittlerweile auch verwitwet, bis zuletzt mit der Mutter zusammen lebte – am 9. Dezember des gleichen Jahres nach Auschwitz deportiert wurden. Kurt und Lilli waren zur Zwangsarbeit verpflichtet worden, Kurt bei Kranol in der Spandauer Straße 36 und Lilli bei Osram in der Seestraße. Ende Februar 1943 wurde auch in diesen Arbeitsstätten die sogenannte „Fabrikaktion“ durchgeführt: alle noch im Reich arbeitenden Juden sollten überraschend vom Arbeitsplatz weg verhaftet und deportiert werden. In Berlin betraf das über 8000 Menschen. Auch Kurt und Lilli entgingen diesem Schicksal nicht, sie wurden in eines der – wegen der hohen Zahl Festgenommener – improvisierten Sammellager verfrachtet und am 12. März 1943 mit fast 1000 weiteren Menschen nach Auschwitz verschleppt. Dort wurden 218 Männer und 147 Frauen zur Zwangsarbeit ausgesucht, alle anderen in den Gaskammern ermordet. Wir wissen nicht, zu welcher dieser Gruppen Kurt und Lilli Riess gehörten, Auschwitz haben beide nicht überlebt.

Auch Else Grünfeld, geb. Riess kehrte nicht aus Auschwitz zurück, ihre Mutter Margarethe starb bereits einen Monat nach Ankunft in Theresienstadt am 30. August 1942, offiziell an Darmkatarrh und Herzschwäche, was angesichts der menschenunwürdigen Unterbringungs- und Hygieneverhältnisse nicht verwundert. Der älteste Bruder Max Riess wurde mit dem ersten Deportationszug aus Berlin am 18. Oktober 1941 in das Ghetto Lodz verschleppt. Dort starb er an den erbärmlich Lebensumständen am 13. März 1942. Walter und Emmi Riess konnten zusammen mit ihrem Sohn nach dem Krieg von Shanghai aus in die USA einwandern. Rosa, verheiratete Wolff, steht in keinem Gedenkbuch, so dass Hoffnung besteht, dass auch sie den Nazischergen entkommen konnte. Auch über Siegfrieds Schicksal wissen wir nichts Genaues, Bruno fiel wahrscheinlich bereits im Ersten Weltkrieg. Kurt und Lillis Sohn Werner gelangte 1936 von Frankreich nach Argentinien und 1938 in die USA. Nach sehr unterschiedlichen Jobs gelang es ihm nach dem Krieg, sich als Fotograf in New York zu etablieren.

Quellen:
Gedenkbuch. Bundesarchiv Koblenz, 2006; Gedenkbuch Berlin der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus 1995; Berliner Adressbücher; Landesarchiv Berlin; Akten des Landesentschädigungsamtes Berlin; Brandenburgisches Landeshauptarchiv, Akten der Oberfinanzdirektion; Gottwaldt/Schulle, Die „Judendeportationen“ aus dem Deutschen Reich 1941-1945, Wiesbaden 2005

Recherchen/Text: Micaela Haas