An silbern funkelnde Berge von Hering und Hornfisch am Markt am Halleschen Tor erinnerte sich meine Großmutter – und an quietschgelbe Zitronen in einem Kaufhaus. Berlins breite Straßen und Trottoirs kamen zurück ins Gedächtnis – und eine Dose Affenfett für schön glänzende Haare und Schildkrötensuppe, die es einmal gab. Ein Teenager war sie, als Joseph Roth in der Diele saß. Berlin zählte 4 Millionen Einwohner und war nach London und New York drittgrößte Stadt der Welt. Hoffnung auf ein besseres Leben hatte Menschen aus allen Himmelsrichtungen in die neue Metropole gespült. Produkte und Lieblingsrezepte brachten sie mit, etwa für Berlins berühmte Klopse mit Kapern, Senfeier, Rote Grütze, Gefilte Fisch. Berliner Schnitzel übrigens ist gebackener Euter von der Färse, der Jungkuh. Bulette (von boule = Kugel), Schrippen, Spargel, Kopfsalat und Blumenkohl hatten schon zuvor die Hugenotten mitgebracht. 1907 war auch meine Urgroßmutter, die Mutter meiner
Großmutter, von Bessarabien nach Berlin gekommen. Bis zur Mamsell hatte sie sich hochgearbeitet. Affenfett und Schildkrötensuppe waren Geschenke der Herrschaft, bei der sie in Stellung war. Meine Oma lernte Beiköchin. „Unbeschreiblich vielfältig war das Essen in Berlin“, sagte sie mir. Hummer, Austern und Champagner genoss man abends am Potsdamer Platz oder wie heute noch im „KaDeWe“. Das „Hotel Adlon“ galt als exklusivstes Hotel im Land, sein Weinkeller als unvergleichlich. Die Cocktailkultur boomte aufgrund der Alkoholprohibition in den USA. Man jazzte. Highlight für meine Großmutter war ihr freier Sonntag; bei schönem Wetter flanierte sie die Linden entlang zum Schloss.
Wenig später zerbrach auch ihre Welt: Inflation, Kündigung, Missbrauch durch die neue Herrschaft, einem Baron von Riedesel, Selbstmordgedanken wegen der Schwangerschaft. Das Kind, mein Vater, Jahrgang 1928, wurde zu Zieheltern in Hessen gegeben. Einen grob geschnitzten Holzlöffel hatte ihm meine Urgroßmutter in die Tasche gesteckt. Meine Großmutter tauchte unter, ihre Mutter verschwand. Berlin lag in Trümmern. Tote Pferde wurden ausgeweidet, letzten Bäumen die Rinde vom Stamm gegessen. Die Stunde null … doch das Leben ging weiter. 1948/1949, während der Berlin-Blockade, ließen US-Piloten Mehl, Kohle und Kartoffeln vom Himmeln regnen – auch Kaugummi und Schokolade. In ihrem Schnellimbiss in Charlottenburg gelang Herta Heuwer derweil beim Hantieren mit Würzpulver aus Blechdosen, die britische Soldaten dagelassen hatten, ein Geniestreich: Sie erfand die Currywurst. Im Tiergarten wuchs Gemüse. Schichttorten und Käsekuchen in Cafés am Ku’damm schmeckten auch ohne
Butter und Eier; Ersatz im Teig war Apfelbrei.
Berliner Küche war immer Spiegelbild der Stadt, ihrer Verfassung und Seelenlage. Darüber sprach auch Frank Bruni mit mir. Ich war aufgeregt, als ich in der Diele auf ihn wartete. Fünf Tage hatte er sich durch Restaurants gegessen, darunter das „Horváth“ und das „Tim Raue“ – heute zwei der allerbesten. ‚Nun die Abfuhr!‘, dachte ich. Kulinarisch hatte Berlin 2011 noch nicht den besten Ruf. Berlin-West war nach 1961 ummauert; frische regionale Produkte gab es nicht. Im Osten herrschte Mangelwirtschaft. Auch nach dem Mauerfall 1989 veränderte sich kulinarisch anfangs wenig. Es dauerte. Erst entstanden Luxushotels, das „Adlon“ wurde aufgebaut. Dann sorgten junge Küchenchefs in Hotels für Schlagzeilen. Luxusprodukte ließ man aus Frankreich einfliegen. Aber besser gekocht als anderswo wurde nicht, das Besondere fehlte.
Brunis seitenlange Analyse „Sorry to Disappoint“, die Standards setzte, erschien nach seiner Rückkehr: „Vor meinem Abflug sagten alle, ich würde sehr enttäuscht sein. Man wünschte mir zwar alles Gute, meinte aber, es sei eine Schande, dass ich mich nicht für Paris oder Kopenhagen – oder jede andere europäische Großstadt entschieden hätte“, schreibt er. Und dann: „Es tut mir leid, enttäuschen zu müssen; es hat mir geschmeckt in Berlin“ – und mehr als das. Aufregend sei die Küche, eine Entdeckungsreise.