LSG Berlin-Brandenburg – 13 SB 366/09 – Urteil vom 09.09.2010
Zwar ist es bei Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 20 bedingen, vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen. Dies gilt aber nicht, wenn diese Gesundheitsstörungen – hier psychische Leiden – zu einer weiteren subjektiven Verstärkung der körperlichen Beschwerden führten.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten im Berufungsverfahren über die Höhe des bei der Klägerin festzustellenden Grades der Behinderung (GdB).
Auf den Antrag der 1943 geborenen Klägerin von März 2002 stellte der Beklagte mit Bescheid vom 16. Juli 2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. März 2003 einen Grad der Behinderung (GdB) von 30 fest. Dem legte er folgende (verwaltungsintern mit den aus den Klammerzusätzen ersichtlichen Einzel-GdB bewertete) Funktionsbeeinträchtigungen zugrunde:
a) Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, Nervenwurzelreizerscheinungen, Funktionsstörungen durch Fußfehlform, Krampfaderleiden (30),
b) Bluthochdruck (10).
Das Vorliegen der gesundheitlichen Merkmale für die Inanspruchnahme des Merkzeichens “G” verneinte er.
Mit ihrer Klage vor dem Sozialgericht Potsdam zum Az. S 9 SB 76/03 hat die Klägerin die Zuerkennung eines GdB von mindestens 50 und des Merkzeichens “G” begehrt. Das Sozialgericht hat Befundberichte der die Klägerin behandelnden Ärzte angefordert sowie Beweis erhoben durch Einholung der Gutachten des Chirurgen Dr. K vom 25. April 2004, ergänzt durch Stellungnahme vom 29. Juli 2004, und des Nervenarztes Dr. L vom 22. September 2004. Mit Schriftsatz vom 1. Oktober 2004 hat die Klägerin beantragt, den Gutachter Dr. L für befangen zu erklären. Die damalige Vorsitzende der Kammer hat in einem Vermerk von Februar 2005 festgehalten, dass der Prozessbevollmächtigte auf einen Beschluss verzichte und sie ein neues Gutachten einhole. Der Beweisanordnung war ein gerichtliches Schreiben an die von ihr als Sachverständige bestellte Anästhesistin Dr. B beigefügt, wonach das Gutachten des Dr. L nicht zu verwerten sei. Daraufhin hat die Klägerin auf einen
Ablehnungsbeschluss gegen Dr. L verzichtet. Unter dem 28. September 2005 hat die Sachverständige Dr. B ihr Gutachten erstattet.
Das Sozialgericht Potsdam hat – nach dem Wechsel der Vorsitzenden – den Beklagten mit Urteil vom 31. August 2006 verurteilt, einen GdB von 40 ab September 2003 festzustellen, und im Übrigen die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es u.a. auf das Gutachten des Nervenarztes Dr. L abgestellt. Der Ansicht der Klägerin, dass das Gutachten nicht verwertbar sei, ist es nicht gefolgt. Aufgrund dieses Urteils hat der Beklagte mit Ausführungsbescheid vom 28. September 2006 bei der Klägerin einen GdB von 40 ab September 2003 festgestellt.
Auf die Berufung der Klägerin hat das Landessozialgericht mit Urteil vom 16. Mai 2007 (Az. L 13 SB 162/06) das Urteil des Sozialgerichts aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Sozialgericht zurückverwiesen.
Nach Einholung von Befundberichten und des Gutachtens des Allgemeinmediziners und Diplompsychologen B vom 18. Juni 2009 mit ergänzender Stellungnahme vom 5. Oktober 2009 hat das Sozialgericht mit Urteil vom 8. Oktober 2009 die nunmehr nur noch auf Zuerkennung eines GdB von 50 gerichtete Klage abgewiesen: Ein Gesamt-GdB von 40 sei bis Mai 2009 bei berücksichtigungsfähigen Einzel-GdB von 20 für die Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, von 20 für die chronisch-venöse Insuffizienz und von 20 für die psychische Störung mehr als großzügig bemessen, jedoch ab Juni 2009 unter Berücksichtigung eines Einzel-GdB von 30 für die nach überzeugender Einschätzung des Sachverständigen B sich verstärkt habende psychische Störung gerechtfertigt.
Mit der Berufung verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter. Sie ist der Ansicht, bei ihr lägen auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet eine rezidivierende depressive Störung und eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung vor, die mit Einzel-GdB von 30 bzw. 30 bis 40 zu bewerten seien.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Potsdam vom 8. Oktober 2009 aufzuheben und den Beklagten unter Änderung des Bescheides vom 16. Juli 2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. März 2003 in der Fassung des Ausführungsbescheides vom 28. September 2006 zu verpflichten, bei der Klägerin ab 2. Juni 2003 einen Grad der Behinderung von 50 festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
Wegen der weiteren Ausführungen der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze Bezug genommen. Ferner wird auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakte und des Verwaltungsvorgangs der Beklagten verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist begründet. Das Sozialgericht hat die Klage zu Unrecht abgewiesen. Die Klägerin hat Anspruch auf Festsetzung eines GdB von 50 ab 2. Juni 2003.
Nach den §§ 2 Abs. 1, 69 Abs. 1 Sozialgesetzbuch, Neuntes Buch (SGB IX) sind die Auswirkungen der länger als sechs Monate anhaltenden Funktionsstörungen nach Zehnergraden abgestuft entsprechend den Maßstäben des § 30 Bundesversorgungsgesetz zu bewerten. Hierbei sind als antizipierte Sachverständigengutachten die vom Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung herausgegebenen Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit (AHP) heranzuziehen, und zwar entsprechend dem streitgegenständlichen Zeitraum in den Fassungen von 1996, 2004, 2005 und – zuletzt – 2008. Seit dem 1. Januar 2009 sind die in der Anlage zur Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2412) festgelegten “Versorgungsmedizinischen Grundsätze” in Form einer Rechtsverordnung in Kraft, welche die AHP – ohne dass hinsichtlich der medizinischen Bewertung eine grundsätzliche Änderung eingetreten wäre – abgelöst haben.
Im Anschluss an die Ergebnisse des Sachverständigen B in dessen Gutachten vom 18. Juni 2009 hat die Sozialmedizinerin Dr. H in ihrer versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 15. September 2009 die Krampfaderbildung beider Beine mit Stauungszeichen, das postthrombotische Syndrom am rechten Bein und die Fußfehlform mit Ballenbildung mit einem Einzel-GdB von 30 bewertet. Der Senat sieht keinen Anlass, von dieser Einschätzung abzuweichen, da sie den Vorgaben in Nr. 26.9 (S. 74f.) der AHP bzw. in Teil B Nr. 9.2.3 (Bl. 50) der Anlage zu § 2 VersMedV entspricht. Trotz des Fehlens rezidivierender Entzündungen erscheint der Einzel-GdB von 30 insbesondere im Hinblick auf die ausgeprägten Stauungszeichen und das ausgeprägte postthrombotische Syndrom unter Berücksichtigung der Fußfehlform gerechtfertigt.
Die Verschleißerscheinungen der Wirbelsäule sind bei der Klägerin mit einem Einzel-GdB von 20 bis 30 anzusetzen. Zwar haben die gerichtlichen Gutachter – insoweit übereinstimmend und überzeugend – die Funktionseinschränkungen seitens der Wirbelsäule als nur gering- bis mittelgradig einschätzt. Dem Wortlaut der Vorgaben in Nr. 26.18 (S. 116) der AHP bzw. in Teil B Nr. 18.9 (Bl. 90) zufolge, wonach ein Einzel-GdB von 30 (bis 40) erst bei Wirbelsäulenschäden mit mittelgradigen bis schweren funktionellen Auswirkungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten in Betracht kommt, wäre hiernach ein Einzel-GdB von 20 anzusetzen, wovon auch der Beklagte im Anschluss an die Bewertung durch den Sachverständigen B ausgeht. Diese Betrachtungsweise berücksichtigt jedoch nicht, dass bereits für Wirbelsäulenschäden mit mittelgradigen funktionellen Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt ein Einzel-GdB von 20 vorgesehen ist. Vorliegend sind, worauf der Sachverständige Dr.
K in seinem Gutachten vom 25. April 2004 hingewiesen hat, Veränderungen am gesamten Achsorgan der Klägerin nachweisbar, weshalb hier, um den Funktionsbeeinträchtigungen hinreichend Rechnung zu tragen, in Übereinstimmung mit diesem Gutachter die Verschleißerscheinungen der Wirbelsäule bei der Klägerin bereits mit einem Einzel-GdB von 20 bis 30 zu bewerten sind.
In seinem Gutachten vom 18. Juni 2009 hat der Sachverständige B für die psychischen Störungen der Klägerin einen Einzel-GdB von 20 ab Juni 2003 vorgeschlagen. Er hat die Fixierung der Klägerin auf deren körperliche Beschwerden diagnostisch einer Somatisierungsstörung zugeordnet und auf den hausärztlichen Befundbericht der Allgemeinmedizinerin Dr. H vom 17. August 2003 verwiesen, die mitgeteilt hat, dass die Klägerin seit Mai/Juni 2003 zunehmend an Depressionen und psychovegetativen Störungen leide und eine psychotherapeutische Behandlung aufnehmen werde. Diese Einschätzung hält der Senat für überzeugend, denn sie bewegt sich in dem nach Nr. 26.3 (S. 48) der AHP bzw. in Teil B Nr. 3.7 (Bl. 27) für leichtere psychovegetative oder psychische Störungen vorgesehenen GdB-Rahmen von 0 bis 20. Ob der Einzel-GdB für das psychische Leiden der Klägerin entsprechend dem Vorschlag des Sachverständigen B im Hinblick auf die Chronifizierung der Somatisierungstörung ab
Gutachtenerstellung auf 30 zu erhöhen ist oder ob – wie die Klägerin vorträgt – wegen ihrer Depressionen insgesamt anzuheben ist, kann dahinstehen. Denn hierauf kommt es nicht an. Bereits bei Berücksichtigung eines Einzel-GdB von 20 ist der Klägerin der von ihr begehrte GdB von 50 zuzuerkennen.
Liegen – wie hier – mehrere Beeinträchtigungen am Leben in der Gesellschaft vor, ist der GdB gemäß § 69 Abs. 3 SGB IX nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festzustellen. Nach Nr. 19 Abs. 3 der AHP bzw. Teil A Nr. 3c der Anlage zur VersMedV ist bei der Beurteilung des Gesamt-GdB von der Funktionsstörung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB bedingt, und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird. Aus den beiden höchsten Einzel-GdB von 30 für die Krampfaderbildung beider Beine mit Stauungszeichen, das postthrombotische Syndrom am rechten Bein und die Fußfehlform mit Ballenbildung einerseits sowie von 20 bis 30 für die Verschleißerscheinungen der Wirbelsäule andererseits ist unter Berücksichtigung ihrer gegenseitigen Auswirkungen aufeinander und im Hinblick auf das mit
einem Einzel-GdB von 20 bewertete seelische Leiden ein Gesamt-GdB von 50 zu bilden. Zwar ist es nach Nr. 19 Abs. 4 der AHP bzw. Teil A Nr. 3d der Anlage zu § 2 VersMedV bei zusätzlichen leichten Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 20 bedingen, vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen. Vorliegend ist jedoch insbesondere zu berücksichtigen, dass die psychischen Leiden, wie sich aus dem Befundbericht der Hausärztin Dr. H vom 17. August 2003 ergibt, schon Anfang Juni 2003 zu einer weiteren subjektiven Verstärkung der körperlichen Beschwerden führten.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht erfüllt.