Gemeinsame Stellungnahme der Berliner Strafjustiz zu den Silvestervorkommnissen

Pressemitteilung vom 11.01.2023

Die Ereignisse der Silvesternacht zeigen ein ungeahntes und nicht hinnehmbares Maß an Aggressivität gegenüber ausgerechnet denjenigen, deren Ziel und Aufgabe es ist, für die Sicherheit aller Bürgerinnen und Bürger Berlins zu sorgen. Die Aufgabe der Berliner Strafjustiz ist es, auf das bei den Ausschreitungen gezeigte strafbare Verhalten angemessen zu reagieren.

Das nunmehr wieder viel diskutierte „Neuköllner Modell“, ein Unterfall des vereinfachten Jugendverfahrens, trägt seit Jahren dazu bei, dass in Jugendstrafverfahren die Strafe „auf dem Fuße“ folgt und damit dem Erziehungsgedanken Rechnung getragen wird. Es wird seit dem 1. Juni 2010 auch über Neukölln hinaus stadtweit angewandt. In Fällen des vereinfachten Jugendverfahrens liegen zwischen Anzeigenerstattung und Urteil etwa vier bis acht Wochen. In den Jahren 2018 bis 2022 wurden 7.384 solcher vereinfachter Jugendverfahren, zu denen auch die Verfahren nach dem Neuköllner Modell gehören, durchgeführt.

Das Neuköllner Modell und allgemein das vereinfachte Jugendverfahren eignet sich per se nur für Jugendliche, die wegen eines einfach gelagerten Sachverhalts der einfachen bis mittleren Kriminalität beschuldigt werden. Sobald umfangreichere Ermittlungen erforderlich werden, ist es rechtsstaatlich nicht zulässig, kurzfristige Hauptverhandlungen auf Kosten sorgfältiger Ermittlungen und unter Verkürzung der strafprozessualen Rechte der Beschuldigten durchzuführen. Hierzu zählen die Beauftragung von Strafverteidiger:innen – bei Verbrechen verpflichtend – ebenso wie ggf. zu gewährende Akteneinsichts- und Anhörungsrechte.

Bei den Silvestervorkommnissen handelt es sich im Übrigen weder um ein neues, noch um ein berlintypisches Phänomen. Die bei derartigen Vorkommnissen aufgeworfene Problematik ist mannigfaltig – und wirft insbesondere soziale und bildungspolitische Fragen auf. Das seit Jahren erfolgreich praktizierte „Neuköllner Modell“ steht gerade für die Forderung nach einer Zusammenarbeit anderer Einrichtungen mit Strafverfolgungsbehörden und Gerichten – vor allem mit Schlüsselinstitutionen, die durch Bildungsangebote, Integrationsprojekte und Kinder- und Jugendarbeit eine diskriminierungsfreie Teilhabe von Kindern, Jugendlichen und Heranwachsenden in der Gesellschaft ermöglichen sollen.

Lena Kreck, Senatorin für Justiz, Vielfalt und Antidiskriminierung:
„Die ersten Verfahren sind bei der Staatsanwaltschaft zur Bearbeitung eingegangen. Durch die Konzentration der Verfahren in einer entsprechenden Schwerpunktabteilung wird eine schnelle und einheitliche Bearbeitung erfolgen. Jenseits der erforderlichen Strafverfolgung müssen wir aber auch die ressortübergreifende präventive Arbeit insbesondere mit Kindern und Jugendlichen in den Fokus nehmen. Eine gute Gewaltprävention nimmt die soziale Lage von Familien und die damit verbundenen Herausforderungen in den Blick, schließt Bildungs- und Ausbildungsfragen ein und setzt ebenso auf gezielte Jugend-, Sozial- und Antidiskriminierungsarbeit.“

Dr. Bernd Pickel, Präsident des Kammergerichts Berlin: „Sobald die ersten Anklagen bei unseren Strafgerichten eingegangen sind, werden sich unsere Richterinnen und Richter auch diesen Strafverfahren entsprechend der gesetzlichen Vorgaben mit der gebotenen Gründlichkeit und dem nötigen Augenmaß zügig widmen.“

Margarete Koppers, Generalstaatsanwältin in Berlin:
„Aufgabe der Strafjustiz ist die angemessene Reaktion auf ein strafbares Verhalten. Diese Reaktion stellt jedoch nicht das Allheilmittel zur Verhinderung neuer Straftaten dar. Die einen Rechtsstaat auszeichnende Strafverfolgung umfasst eine Verfahrensführung, die mit der bestmöglichen Beschleunigung, aber auch der erforderlichen Sorgfalt, zu fairen, durchdachten Einzelfallentscheidungen führt. Die Forderung nach lediglich „schneller“ und „konsequenter“ Strafverfolgung verkürzt diese Anforderungen in besorgniserregender Weise.“