Grußwort der Senatorin Katja Kipping zum 13. Bundeskongress der Türkischen Gemeinde in Deutschland: „Migrationsgesellschaft Deutschland - Gemeinsame Zukunft, Gemeinsame Verantwortung“

18. Juni 2022

- Es gilt das gesprochene Wort -

Sehr geehrte Damen und Herren,
sehr geehrte Türkische Gemeinde in Deutschland,

in knapp zehn Minuten angemessen über die vielfältige Geschichte und Gegenwart der Migration aus der Türkei zu sprechen, ist ein Ding der Unmöglichkeit. Häufig beginnen Reden über Migration mit Zahlen. Ich könnte Ihnen also jetzt sagen, dass insgesamt ca. dreieinhalb Millionen Menschen in unserem Land leben, deren familiäre Wurzeln bis in die Türkei reichen.

Doch bei all den Zahlen und Daten geraten schnell die Schicksale und Erzählungen all derer in den Hintergrund, die sich einst auf den Weg nach Deutschland gemacht haben. Denn auch wenn die Migration eine Bewegung vieler ist, so sind doch alle Migrant*innen Individuen mit sehr individuellen Wünschen, Träumen und Zielen, was aus ihrem Leben werden soll. Mich interessiert daher besonders, welche Erfahrungen jemand gemacht hat, was jemand denkt, glaubt, tut und erreichen möchte.

In unserem Land leben Menschen aus West- und Ostdeutschland, und aus aller Welt. Stadtkinder und Landjugendliche. Wir werden je nachdem, woher wir kommen und wohin wir gingen, ost-, west-, nord- und süddeutsch geprägt. Wir alle bringen aus den unsere Leben prägenden Orten etwas mit. Genau dies macht die Vielfalt und den Erfahrungsschatz unserer Gesellschaft aus. Wir alle leben miteinander zusammen in einem demokratischen Deutschland. Wir alle sind dieses Land.

Einwanderung hat Deutschland demokratisiert
Wir wissen, dass die alte Bundesrepublik und das alte West-Berlin ganz entscheidend von den sogenannten „Gastarbeiter*innen“ aus der Türkei geprägt wurden. Mit Konflikten. Es gab auch früher einen sehr harten Rassismus und tiefsitzende Vorurteile und eine breite Stigmatisierung. Sie machten es besonders auch den aus der Türkei kommenden Arbeitsmigrant*innen sehr schwer, hier wirklich anzukommen.

Aber es gab kämpferische Aushandlungsprozesse, die unser Land wirklich verändert haben. Das betrifft das Staatsbürgerrecht, die Kultur, das Straßenbild, die Lebensweisen.

Die Anerkennungskämpfe der sogenannten „Gastarbeiter*innen“, aber auch deren Kinder und Kindeskinder waren und sind Teil der Demokratisierungsprozesse in Deutschland.

Wenn sich die Gesellschaft der Bundesrepublik seit Beginn der 1970er Jahre liberalisiert und geöffnet hat, so verdankt sie dies anders als oft gesagt wird, nicht allein der Studierendenbewegung – die es übrigens auch in der Türkei gab. Sie verdankt es auch jenen, die zu uns zuerst wegen der Arbeit kamen, aber hierblieben und mit ihrem Leben unsere Gesellschaft veränderten. Und das hat diesem Land bis heute sehr gut getan und dafür möchte ihnen ganz ausdrücklich danken.

Lebensleistungen anerkennen
Nichtsdestotrotz gibt es weiterhin gesellschaftliche Erinnerungslücken. Viel zu oft wird nicht anerkannt, was die erste Generation leistete. Es betrifft Männer und Frauen, aber eben auch besonders Frauen. Sie hatten eine zweifache Anstrengung zu meistern: Neben der körperlich stark belastenden Schichtarbeit zogen sie häufig Kinder groß, schlugen sich mit einer oft schwer verständlichen Bürokratie herum und managten das Familienleben.
Umso mehr freue ich mich, dass heute drei Frauen ausgezeichnet werden. Es sind drei Frauen, die jeweils für sich etwas sehr Besonderes geleistet haben.

Aus Hanau lernen
Frau Serpil Unvar hat mit der von ihr gegründeten Bildungsinitiative eine der schlimmsten Erfahrungen, die ein Mensch machen kann, in etwas Positives und etwas Bleibendes eingebracht. Mit der von ihr gegründeten Bildungsinitiative Ferhat Unvar gibt sie Jugendlichen die Möglichkeit sich über Rassismus-Erfahrungen auszutauschen. Sie unterstützt junge Menschen dabei Bedürfnisse zu erkennen und auszudrücken. Und sie unterstützt Lehrer*innen und Pädagog*innen, die selbst nicht persönlich von Rassismus betroffen sind, Rassismus zu erkennen und zu bekämpfen.

Ja, unser Land hat ein Rassismus-Problem. Den alltäglichen Rassismus, das Stirnrunzeln im Supermarkt oder das Zischeln in der U-Bahn, das beispielsweise Frauen mit Kopftuch häufig hören. Sie werden wissen, wovon ich spreche. Es gibt ihn auch bei der Notengebung und Schulempfehlungen. Es gibt ihn bei der Wohnungs- oder Arbeitssuche mit einem türkisch klingenden Namen.

Ferhat Unvar, der Namensgeber der Initiative, war der Sohn von Frau Serpil Unvar. Ein rechtsterroristischer Mörder und Rassist hat Ferhat Unvar ermordet. Der Sohn von Serpil Unvar starb mit neun anderen jungen Menschen, die der Täter aus rassistischen Motiven tötete. Furchtbar, einfach furchtbar und unverzeihlich.

So wie Reden über Migration gerne mit Zahlen beginnen, enden Reden über rechten Terror mit Bekenntnissen, dass dieser nicht sein dürfe. Wichtig ist aber nicht allein das Sprechen über ein „Nie wieder“, sondern das Handeln für ein „Nie wieder“.

Beistand im Krankheitsfall
Auch Frau Aynur Celikdöven hat aus einer äußerst schmerzhaften Erfahrung etwas getan für andere. Sie arbeitete lange Zeit in der Metallindustrie und ihr siebenjähriger Sohn starb an einer Krebserkrankung. Es muss unbeschreiblich schrecklich sein, sein Kind zu verlieren. Frau Aynur Celikdöven gründete daraufhin eine Hilfsinitiative für krebskranke Kinder und hilft hier besonders Familien, die aus der Türkei kommen und vermittelt bei Sprachproblemen etwa in Kontakt mit Ärzten oder wenn es darum geht, Kindern eine gute Krebsnachsorge zu geben.

Karriere in der Einwanderungsgesellschaft
Frau Dilek Gürsoy kommt aus Neuss und ist eine großartige Ärztin. Als Mädchen schaffte sie das Abitur, obwohl die Lehrer sie für nicht geeignet fürs Gymnasium hielten. Ich frage mich manchmal, wie viele Mädchen, aber auch Jungen, mit migrantischen Wurzeln in den vergangenen Jahrzehnten diese zutiefst demütigenden Erfahrungen wohl gemacht haben und was das mit ihnen und ihrem Leben gemacht hat.

Aber Frau Gürsoy setzte sich durch und schaffte es. Frau Gürsoy muss ein gutes Auge und eine sichere Hand haben, denn sie wurde Herzchirurgin und war die erste Frau in Europa, die einem Patienten im Jahr 2012 ein Kunstherz einsetzte. Frau Gürsoy steht dafür, dass Deutschland auch schon längst eine Einwanderungsgesellschaft sein kann, die etwas ermöglicht. Und das freut mich sehr.

Alle drei Frauen verfolgen ein Ziel, das ich so beschreiben würde: Alle Menschen in unserem Land haben ein Recht auf ein freies Leben ohne Angst, alle haben ein Recht auf Beistand bei Krankheit, alle haben ein Recht auf gleiche Chancen und eine gute Zukunft.

Berlin: Teilhabe für alle
Auch der Berliner Senat und mich persönlich treibt ein Ziel an. Wir wollen gute Bildung, gute Arbeit für sowie Partizipation und Teilhabe von allen Menschen in Berlin. Wir wollen eine öffentliche Verwaltung schaffen, in der sich auch wirklich alle Menschen wiedererkennen können, die in Berlin leben. Wir wollen auf allen Ebenen, ob im Bezirk oder im Land, politische Teilhabe ermöglichen.

Wir alle wissen, dass Absicht und Wirkung von etwas nicht das gleiche ist. In Berlin gibt es das Gesetz Partizipation in der Migrationsgesellschaft. Dessen Ziele müssen nun vom Papier in die Praxis getragen werden. Das Ziel besteht in einer diverseren Verwaltung, die tatsächlich die Vielfalt unserer Stadt abbildet.

Lassen Sie uns deshalb weiter gemeinsam daran arbeiten, dass dieses Land ein Land für alle wird, die hier leben und dass diese Stadt ein gemeinsamer Ort bleibt und ein noch besserer Ort wird.