Abgesehen davon, dass „JFK“ einer der populärsten Präsidenten der U.S.A. war, war er der einzige Präsident auf der ganzen Welt überhaupt, der mir die Hand gab. Und das begab sich folgendermaßen:
Am 26.6.1963 absolvierte Kennedy im Rahmen seines Deutschland-Aufenthaltes einen knappen Tag lang seinen legendär gewordenen Berlin-Besuch (nachdem zwei Jahre zuvor, kurz nach dem Mauerbau von 1961, „nur“ sein Vizepräsident Lyndon B. Johnson nach Berlin gekommen war). Die ganze Halbstadt fieberte dem angekündigten Besuch entgegen, am meisten ich selbst, denn auch ich gehörte und gehöre bis auf den heutigen Tag zu der großen, weltweiten Fan-Gemeinde, die dieses neuartige, fast väterlich-freundschaftliche Wesen wie einen neuen Heilsbringer liebte und liebt – trotz allem, was man seither gegen ihn, seine Familie oder seine Politik vorzubringen versuchte.
Da alle Berliner Schulen schulfrei gegeben hatten, konnte ich mir schon am Vormittag einen Zeitpunkt und Ort aussuchen, wo ich ihn aus möglichst großer Nähe würde sehen können. Meine Wahl fiel auf die Tegeler Seidelstraße, in die der Fahrzeugkonvoi mit dem Präsidenten und seinen Begleitern (kurz nach Verlassen des Flughafens Tegel, wo die Präsidentenmaschine „Air Force One“ landen und am frühen Abend auch wieder starten würde) nach der Ankündigung in den Zeitungen einbiegen sollte. Dabei ging ich von der Überlegung aus, dass umso mehr Jubel-Berliner die Ränder der Straßen säumen würden, je näher der Konvoi sich der Innenstadt näherte.
So ganz ging meine Rechnung aber, wie ich beim Versuch, eine günstige Position am Straßenrand zu erwischen, doch nicht auf. Ganz offensichtlich war ich nicht der einzige gewesen, der sich so schlau anstellen wollte: schon in der Seidelstraße, kurz hinter der Ecke der Zufahrtsstraße, die auf den Flughafen hin führte, warteten schon Hunderte an beiden Rändern der Straße. Allerdings gab es hier kaum Polizisten, um eventuelle Drängler zurückzuhalten, und schon gar nicht Absperrungen irgendwelcher Art, wie man es heute bei derartigen Ereignissen gewöhnt ist – Kennedy gehörte zu den beliebtesten Politikern jener Zeit, und niemand auf der Welt, schon gar nicht in Berlin, hatte eine Ahnung davon, was sich, nur einige Monate später, in Dallas/Texas ereignen würde…
Um die beste Position herauszufinden, lief ich in Erwartung des nahen Autokonvois rasch die Seidelstraße in Richtung Scharnweberstraße hinunter und wechselte dabei mehrmals unschlüssig die Straßenseite, ohne jedoch einen Platz zu finden, der mir vorteilhaft genug vorkam – als plötzlich ein rasch ansteigender Jubellärm das Nahen der Kolonne ankündigte. Gerade wollte ich schnell noch einmal die Straßenseite wechseln, als ein Polizist in unmittelbarer Nähe mich barsch zurückrief: „Halt! Bleiben Sie da stehen! Räumen Sie sofort die Fahrbahn!“ Zögernd und unzufrieden verharrte ich und sah mich suchend um. Da kam auch schon der erste Funkwagen mit Blaulicht und bald danach der Ehrenkordon der „Weißen Mäuse“, die keilförmig dem Präsidenten-Fahrzeug den Weg freimachten. Doch die neugierige, jubelnde Menschenmenge an beiden Rändern der Straße rückte rasch immer näher zur Straßenmitte, und der Weg für die Fahrzeugkolonne wurde enger und enger. Schon war
der offene Wagen, in dem Kennedy stehend seine „Fans“ begrüßte, fast zum Stehen gekommen, und die begleitenden Beamten zu Fuß und auf den Motorrädern versuchten nach Kräften, den Weg wieder frei zu räumen. Gerade schien ihnen dies zu gelingen, die Motorrad-Eskorte war schon vorüber, als JFK in nur zwei, drei Metern Entfernung langsam an mir vorüber fuhr.
„Jetzt oder nie“, kommandierte mir meine Eingebung, „oder du hast dir diese günstige Position ein für allemal umsonst errungen!“
Den Präsidenten fest im Blick, brach ich aus vorderster Linie rechts des schweren Fahrzeugs hervor, das nur langsam wieder Fahrt aufnahm, stürmte auf mein Ziel zu, das plötzlich zum Greifen nahe war. Da packte mich eine kräftige Hand des Sicherheitsbeamten, der rechts auf der hinteren Stoßstange des Präsidentenwagens stand, und riss mir fast das Hemd vom Leib. Wie eine Maschinengewehr- salve sprangen drei, vier, fünf meiner Hemdknöpfe vor mir in die Luft. Offenbar hatte entweder ich oder auch der Sicherheitsbeamte laut gerufen oder irgendein anderer Umstand führte dazu, dass Kennedy sich endlich zu mir umwandte und mich bemerkte. Trotz der Gegenwehr des Beamten auf dem Trittbrett streckte ich eine Hand Kennedy entgegen – und endlich ergriff der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika meine Rechte, ein weicher, fast weiblicher Händedruck, während ich ihm tief in seine Augen blickte und mir vor Rührung die Tränen kamen…
Wir ließen einander wieder los, denn das Fahrzeug fuhr wieder schneller, und ich wich – mit aus der Hose gezerrtem Hemd und vermutlich knallrotem Kopf – zur Seite zurück, während JFK – sich nach vorn beugend und sich an der Vordersitzlehne festhaltend – sich von mir entfernte, um den nächsten Jublern zuzuwinken…
Am Nachmittag desselben Tages, als er seine Rede auf dem Balkon des Schöneberger Rathauses mit dem weltberühmten Schlusssatz „And therefore I take pride with the words: Iisch bin ein Berliner“ hielt, stand auch ich natürlich inmitten der Viertelmillion begeisterter Zuhörer, weit, weit entfernt von ihm, so dass ich ihn kaum richtig erkennen konnte. Doch das machte mir jetzt nichts mehr aus, denn Stunden zuvor war ich ihm so nahe gewesen wie kaum einer der Umstehenden! Voller Stolz und Bewunderung applaudierte ich am Ende seiner Rede, bis meine Handflächen zu glühen begannen. Nie in meinem Leben würde ich diesen 26. Juni je vergessen können…
Nachtrag:
Ein Sachverhalt, von dem ich damals noch nicht wusste (aber heute weiß), dass und inwiefern er – nur dem Anschein nach vollkommen unabhängig von John F. Kennedy und seinem weiteren Schicksal – mein späteres Leben mehr oder weniger heftig beeinflussen würde, ereignete sich nahezu gleichzeitig:
Unter den jungen und ehrgeizigen Beamten der Ehrenformation der Berliner Polizei, die auf dem Flugplatz Tegel in Wichs und Tschako zum Empfang des U.S.-Präsidenten angetreten war, befanden sich zwei, die – spätestens zehn Monate später, als ich meinen Spind in der Stube 14 im 1. Stock der 14. Bereitschaft der III. Abteilung der Bereitschaftspolizei in Beschlag nahm – Angehörige eben dieser Bereitschaft waren: Polizeikommissar Klaus Magiera (heute bereits im Ruhestand) sowie der etwa gleichaltrige Polizeihauptwachtmeister Wolfgang Seipold. Am 1.4.1964 ergriff ich denselben Beruf wie sie, und der erste der beiden wurde mein Zugführer und der zweite mein Gruppenführer, und keiner der beiden war mir zuvor auch nur annähernd bekannt. Erst später, während mehr oder weniger privater Gespräche mit Herrn Seipold, kamen wir wie zufällig auch auf diese Ehrenformation zu sprechen – und seitdem glaube ich beinahe fatalistisch an die
Existenz von „Kommissar Zufall“.