Soziale Sicherheit in Krisenzeiten - Berlin startet den Härtefallfonds

Rede von Katja Kipping im Abgeordnetenhaus von Berlin, 12. Januar 2023

- Es gilt das gesprochene Wort -

Herr Präsident!
Werte Damen und Herren!

Soziale Sicherheit -

  • Für die einen ist es die Sicherheit, dass Treffen mit Freunden nicht an den Kosten für die Fahrkarte scheitern.
  • Für andere die Gewissheit, dass der Kühlschrank gut gefüllt ist,
  • oder die Gewissheit, sich den Strom für den Kühlschrank auch in Zukunft leisten zu können.

Unterm Strich geht es um gesellschaftliche Teilhabe und die Gewissheit, dass es am Lebensnotwendigen nicht fehlen wird.

Und diese Sicherheit sollte zum verlässlichen Fundament einer demokratischen Gesellschaft gehören. Gerade in Krisenzeiten steht jede Regierung in der Verantwortung soziale Sicherheit für alle zu stiften.

Deshalb hat die Mehrheit dieses Parlamentes angesichts der Energiekrise und der Preisexplosionen einen Nachtragshaushalt von 3 Mrd. beschlossen.

Eine dieser Maßnahmen ist der Härtefallfonds. Seit Montag dieser Woche können Berliner Haushalte, denen in diesem Jahr eine Energiesperre droht, dort Hilfe beantragen.

Die ersten haben davon bereits Gebrauch gemacht.

Das Verfahren in aller Kürze

Sie brauchen neben der Sperrandrohung bei der digitalen Antragstellung vor allem folgendes griffbereit:

1. Ausweis oder Meldebescheinigung in Berlin. Wir berücksichtigen, dass nicht alle ein Ausweisdokument haben. Eine Meldebescheinigung reicht deshalb auch,

2. den Vertrag mit dem Energieunternehmen,

3. geeigneten Einkommensnachweise mindestens der letzten drei Monate.
Das können Rentenbescheide oder Lohnabrechnungen, Leistungsbescheide oder Kontoauszüge sein.

Soziale Härte Stromsperre

Stromsperren bedeuten nicht nur, dass es dunkel wird, der Kühlschrank taut ab, Lebensmittel verderben oder Telefone sind nicht aufladbar. Selbst wer krank ist, kann sich keinen warmen Tee mehr zubereiten.

Kurzum: Energiesperren sind eine besondere soziale Härte und diese gilt es unbedingt zu vermeiden.

Haushalten mit niedrigen & mittleren Einkommen unter die Arme greifen

Ziel dieses Härtefallfonds ist es, Haushalten mit niedrigen und mittleren Einkommen in besonderen Krisensituation unter die Arme zu greifen.

Deshalb sind alle antragsberechtigt, deren Einkommen nicht über den 2,8-fachen der Einkommensgrenzen für sozialen Wohnungsbau liegen.

Für Alleinstehende sind das: 33.600 Euro
Für Alleinerziehende mit einem Kind: 46.400 Euro im Jahr

Jawohl wir haben uns bewusst dafür entschiedenen, sowohl den Ärmsten, wie Haushalten mit mittleren Einkommen unter die Arme zu greifen, wenn ihnen eine Energiesperre droht.

Nur zu oft werden schließlich entweder die Ärmsten vergessen oder eben jene vergessen, die zwar keine Sozialleistungen beziehen, deren Renten und Löhne aber trotzdem zu niedrig sind.

Nur zu oft werden in polemischen Debatten diese beiden Gruppen gegeneinander ausgespielt. Zuletzt war das bei der Debatte ums Bürgergeld zu beobachten. Doch wir in Berlin halten nichts davon jene, die wenig haben, gegen jene auszuspielen, die noch weniger haben, oder umgekehrt.

Gerade in diesen Zeiten können auch Menschen mit mittleren Einkommen in arge Bedrängnis kommen.
  • Sei es die Alleinerziehende, die bisher jeden Tag wie eine Jongleurin viele Bälle in der Luft gehalten und alle möglichen Verpflichtungen gemeistert hat, doch für die die Energiekrise nun einfach die eine Herausforderung zu viel ist.
  • Oder sei es die Rentnerin, die bisher ohne Hilfe zu beantragen mit ihrer Rente über die Runden gekommen ist, nun aber an den Heizkosten verzweifelt.
  • Oder seien es Berufstätige, deren Lohn von der Inflation aufgefressen wird.

Ihnen allen gilt es zur Seite zu stehen.

Schlank und sicher

Wer einen Antrag stellt, muss digital eine Eigenerklärung abgeben, dass er oder sie nicht durch eigene Einkommen die Energieschulden bezahlen kann.

Nun ist offensichtlich, dass es ein gewisses Spannungsverhältnis zwischen zwei Anforderungen gibt.

Schnelle und unbürokratische Auszahlung von Hilfen einerseits und gründliche Prüfung, die jeden Missbrauch ausschließt andererseits:

Es soll bei monetären Hilfen in der Vergangenheit sogar Kritiker geben haben, die sich zuerst beschwerten, dass nicht sofort und möglichst ohne irgendwelche bürokratische Anforderungen ausgezahlt wurde, um sich danach zu beschweren, dass nicht sorgfältig genug geprüft wurde.

Nun beim Berliner Härtefallfonds haben wir uns für folgende einfache aber wirkungsvolle Lösung entschieden:

Die Zahlung erfolgt direkt an das Energieunternehmen, bei dem Schulden angelaufen sind. Diese Direktzahlung hat auch den Vorteil, dass die Abwendung der Energiesperre schneller abgesichert ist, weil das Geld sofort bei dem Versorger landet, der daraufhin die Sperre aussetzt.

Das Antragsverfahren ist wiederum möglichst schlank gehalten, es werden nur die nötigsten Informationen abgefordert. Zwar werden zur Plausibilitätsprüfung Einkommensnachweise gefordert, aber es erfolgt keine Vermögensprüfung.

Für solche Bürokratie ist schlichtweg keine Zeit, wenn man schnell eine Energiesperre abwenden will.

Der Härtefallfonds bietet eine einmalige Hilfe. Deshalb empfehlen wir sehr nachdrücklich allen Antragstellenden die Angebote der Energieberatung, z. B. das großartige Projektes Stromsparcheck.

Zur Entstehungsgeschichte

Wir leben in sehr dynamischen Zeiten voller Ungewissheiten.

Als wir bei der Sozialverwaltung anfingen, den Berliner Härtefallfonds zu planen, wussten wir noch nicht, ob es überhaupt einen Gaspreisdeckel vom Bund geben wird.

Wir wussten lange nicht, wie am Ende die konkreten Regelungen zum Bürgergeld ausfallen, da die unionsgeführten Länder das Gesetz im Bundesrat bis zuletzt blockierten.

Doch in all diesen planerischen Ungewissheiten haben wir innerhalb kürzester Zeit ein entsprechendes Antragsverfahren auf die Beine gestellt.

Wir taten dies, weil wir eins sehr genau wussten: Niemand soll wegen irrer Preissprünge des Marktes im Dunklen oder Kalten sitzen müssen.

Entlastung der Sozialämter

Der übliche Weg für eine zusätzliche soziale Hilfe wäre gewesen, sie so zu konzipieren, dass die Antragsstellung auf bekannten Stellen erfolgen kann, z. B. den Sozialämtern.

Doch wir im Senat wissen, wie sehr die Beschäftigten in den Sozialämtern gerade an der Belastungsgrenze arbeiten, auch weil sie die sozialen Folgen der verschiedenen Krisen abfedern müssen.

Deshalb haben wir uns dafür entschieden, die Bearbeitung der Anträge beim LaGeSo, dem Landesamt für Gesundheit und Soziales, anzusiedeln und auf eine digitale Antragsstrecke zu setzen.

Da ich diesen Prozess in der Sozialverwaltung sehr eng begleitet habe, weiß ich sehr genau, dass wir den Verwaltungsmitarbeitenden damit einiges zugemutet haben.

An dieser Stelle deshalb ein Dank an das tolle Projektteam.

Zum Einwand digitale Hürden

Nun lautet ein bekannter Einwand:

Man selber käme zwar mit digitalen Verfahren klar, aber Oma Friedel, Großonkel Erwin und Tante Fatma hätten damit bestimmt ein Problem.

Darauf möchte ich folgendes erwidern:

1. Oma Friedel, Großonkel Erwin und Tante Fatma kann geholfen werden. Schließlich haben wir die digitale Antragstelle möglichst einfach aufgesetzt.

So müssen die Dokumente die erforderlich sind, nicht als pdf-Datei hochgeladen werden. In der Praxis bedeutet das, man braucht keinen Scanner, es reicht ein Smartphone um Dokumente abzufotografieren und sie können dann direkt hochgeladen werden.

Also Enkel, Kinder, Nichten und Nachbarn können Oma, Onkel und Tante schnell mit ihrem Handy zur Seite stehen.

Bei der Antragstellung läuft außerdem an der Seite eine Orientierungshilfe, bei welchen Antragsschritt man sich gerade befindet.

2. Ganz gleich ob ein Verfahren digital oder analog ist, es kann voller Hürden sein oder möglichst einfach.

Auch der Gang zum Sozialamt kann eine Hürde darstellen. Denn wir wissen aus der Armutsforschung, dass es noch viel verdeckte Armut gibt. Verdeckte Armut meint, dass Menschen soziale Hilfen aus Scham nicht beantragen. Aus Sorge, dass man gesehen wird.

Die digitale Antragsstellung kann da Hemmungen nehmen.

3. Haben wir natürlich uns darum gekümmert, dass es möglichst viele analoge Orte der Begegnung gibt, wo Zugang zum Netz ermöglicht wird.


Härtefallfonds und Netzwerk der Wärme greifen ineinander

Hier kommt eine weitere Säule des Entlastungspakets ins Spiel: das Netzwerk der Wärme.

Im Rahmen des Netzwerkes haben z. B. die Bibliotheken noch einmal besonders deutlich alle Menschen eingeladen.

Man braucht noch nicht einmal einen Bibliotheksausweis, um in einer Stadtteilbibliothek den Computer zu nutzen.

Zudem hat das Projektteam der Sozialverwaltung bereits vor Weihnachten angefangen, Beraterinnen der sozialen Liga digital zu schulen, damit sie im Zweifelsfall Hilfestellung geben können.

Auch mit den Bibliotheken ist vereinbart, dass es Handreichungen und Schulungen für die Beschäftigten gibt. Diese Flyer gehen demnächst an die verschiedenen Stellen – digital wie gedruckt.

Nun ist der Härtefallfonds eine neue soziale Hilfestellung und insofern möchte ich Sie alle dazu einladen, mit dazu beizutragen, dass Berlinerinnen, die ihn brauchen, auch davon erfahren.

Mehr Informationen gibt es unter berlin.de/energie

Zart wäre das Gröbste …

Der Härtefallfonds ist wie gesagt nur eine Maßnahme des Entlastungspakets von vielen.
  • Mit dem Kündigungsmoratorium bei den landeseigenen Wohnungsunternehmen sind zumindest deren Mieterinnen geschützt.
  • Mit dem 29-Euro-Ticket bzw. dem 9-Euro-Sozialticket werden Berliner Haushalte zusätzlich entlastet.

Zurück zum großen Thema Soziale Sicherheit:
In der Minima moralia von Theodor Adorno heißt es: „Zart wäre das Gröbste, das niemand mehr hungern muss.“

Garantierte soziale Sicherheit wäre machbar, wenn es armutsfeste Sozialleistungen sowie höhere Renten und Löhne gäbe.
Dies umzusetzen erfordert andere Weichenstellungen im Bund.

Doch mit

  • der Tariftreue,
  • der Erhöhung des Landesmindestlohnes und
  • den klaren Aussagen zum Streikrecht von Azubis

haben wir die Landesinstrumente, also die Mittel, die uns gegeben sind genutzt, um die Kämpfe um gute Arbeit zu befördern.

Zart wäre das Gröbste…

Übersetzt auf Berlin im Jahr 2023: das niemand im Dunkeln und Kalten sitzen muss.

Berlin ist, wenn du mit Energieschulden nicht allein gelassen wirst.

Berlin ist, wenn deine Landesregierung alles tut, was auf Landesebene möglich ist, um in krisenreichen Zeiten soziale Sicherheit zu stiften.

Vielen Dank!