Schutz vor Armut gehört zum Glutkern der Demokratie - Rede von Senatorin Katja Kipping zur Aktuellen Stunde im Berliner Abgeordnetenhaus

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9. Juni 2022

Es gilt das gesprochene Wort

Anrede,

für diese Aktuelle Stunde lagen von den Fraktionen verschiedene Vorschläge vor, von den die meisten um die Themen steigende Preise und Armutsgefährdung kreisten. Das ist ein Zeichen dafür, dass diese Themen gerade viele Fraktionen beschäftigen. Und das zu Recht.

Ich möchte hier für den gesamten Senat sagen, dass wir von Anfang an die sozialen Auswirkungen von steigenden Preisen und die Gefahr wachsender Armut sehr ernst nehmen. Jedes Senatsmitglied denkt diese Fragen jeweils in seinen Zuständigkeitsbereichen mit.

Bevor ich jedoch zu konkreten Maßnahmen komme, möchte ich über jene sprechen, die viel zu selten Aufmerksamkeit erfahren: Menschen, die jeden Euro drei Mal umdrehen müssen.

#armutsbetroffen

Armut ist hierzulande mit viel Scham behaftet. Armut gilt fälschlicherweise meist als persönliches Versagen und nicht als ein Problem unserer Gesellschaft.

Umso erfreulicher ist, dass sich aktuell viele Betroffene unter #Ichbinarmutsbetroffen zu Wort melden. Allen, die den Mut haben, über ihr Leben mit Armut zu schreiben, und das öffentlich in den sozialen Medien, möchte ich sagen: Sie durchbrechen mit Ihrer Courage die Scham und das Wegschauen. Sie verdienen unserer aller Respekt.

Und dabei ist Ihr Leben in den vergangenen Jahren wahrscheinlich eher schwieriger geworden.

Krisen und Katastrophen treffen Ärmste besonders

Denn in den vergangenen Jahren haben sich die Krisen die Klinke in die Hand gegeben. Von Extremwetterlagen als Vorboten der Klimakrise über die Corona-Pandemie bis hin zu den Folgen des Krieges gegen die Ukraine: ständig neue Ungewissheiten.

Bei all dem gab es wenig Aufmerksamkeit dafür, was diese Krisen für Armutsgefährdete, für Alleinziehende, für Soloselbstständige, für Mehrkinderfamilien, für Menschen mit niedrigen Einkommen und unsicheren Jobs bedeuten.

Dabei treffen Krisen und Unsicherheiten am Ende jene besonders hart, die ohnehin wenig haben:
  • So wissen wir beispielsweise aus dem Armutsbericht, dass ärmere Menschen besonders von Umweltverschmutzungen betroffen sind, da sie eher in Gegenden mit schlechten Werten leben.
  • Während der Gesundheitskrise Corona waren die Einkommensverluste just bei Haushalten mit niedrigen Einkommen besonders groß.
  • Und steigende Preise für lebensnotwendige Güter treffen jene mit besonderer Härte, die jeden Euro drei Mal umdrehen müssen. Für sie bedeuten steigende Lebensmittelpreise, dass es sofort ans Eingemachte geht.

Wenn der Tomatensalat zum Luxus wird

Wer ein Butterbrot und einen Tomatensalat auf den Abendbrottisch stellen möchte, ist damit konfrontiert, dass das Brot 10 Prozent, die Butter 30 Prozent und die Tomaten 40 Prozent mehr als im Vorjahr kosten.
Hinzu kommen explodierende Energiepreise, ein Strompreis, der um 20 Prozent gestiegen ist.
Kennen Sie eine Rentnerin, deren Rentenerhöhung mit solchen Preissteigerungen mithalten kann?

Senat nicht mit Ampel verwechseln

Apropos Rentnerinnen: Die CDU erweckte ja den Eindruck, der Senat würde Rentnerinnen und Studierende vergessen. Diese steile Behauptung bedarf einer Klarstellung.

Tatsache ist, es gibt ein Entlastungspaket, das immerhin einige Erleichterungen bringt. Aber just Menschen mit niedrigen Renten profitieren davon faktisch nicht.

Dieses Paket kommt aber nicht vom Senat, sondern von der Bundesregierung. Ich habe als Berliner Sozialsenatorin vielmehr auf diese Gerechtigkeitslücke in aller Öffentlichkeit hingewiesen.

Also bei aller Liebe zur Kontroverse, so viel Redlichkeit muss sein: Den rot-rot-grünen Senat Berlin sollten Sie nicht mit der Ampel-Bundesregierung verwechseln.

Rohrkrepierer Tank-Rabatt

Und nur um weiteren Unterstellungen vorzubeugen: der Rohrkrepierer Tank-Rabatt kam auch nicht vom Senat, sondern wurde von der FDP im Bund durchgedrückt:

Rund 3,2 Milliarden. Euro kostet diese Maßnahme die öffentliche Hand. 3,2 Milliarden – damit hätte man wirklich helfen können.

Doch vom Tankrabatt kommt bei den Verbrauchern und Verbraucherinnen an den Zapfsäulen faktisch nichts an. Er führt höchstens zu mehr Gewinnen bei den Mineralölkonzernen.

Nun können Fehler passieren. Entscheidend ist die Souveränität, sie einzuräumen und zu korrigieren.

Übergewinnsteuer für Lastenausgleich

Ganz anders würde hingegen die Übergewinnsteuer wirken. Worum handelt es sich bei dieser Steuer?

Wenn ein Konzern deutlich höhere Gewinne als im Vorjahr einfährt, wird das Gewinnplus deutlich höher besteuert. In Griechenland mit 90 Prozent. In Italien mit 10 bis 25 Prozent

Über die Höhe kann man streiten. Was jedoch klar ist: In Zeiten sozialer Not brauchen wir mehr denn je einen Lastenausgleich – und zwar von oben zur Mitte.

Auch deshalb bringt morgen der Berliner Senat im Bundesrat den Antrag Bremens auf eine Übergewinnsteuer mit ein.

Handeln des Senats

Und damit wären wir beim Handeln auf Landesebene.
In Berlin gehört es ja zum guten Ton, über Berlin vor allem zu meckern. Mir fällt diese besondere Form Berliner Höflichkeit auch deshalb schwer, weil Berlin schon seit Jahren soziale Standards setzt, die zum Nachahmen einladen.

Sozialticket

Nehmen wir nur das Sozialticket. Das sichert bezahlbare Mobilität für rund 600.000 Menschen in Berlin. Und im kommenden Jahr werden wir die Zugänge zum berlinpass noch mal erleichtern.

Freie Fahrt für freie Schüler

So mancher denkt bei Freiheit nur an die Kombination von schnellen Autos und Autobahnen ohne Tempolimit. Ich würde ja sagen: Kostenfreie Fahrt für alle Schülerinnen und Schüler in Bus und Bahn – das ist soziale Freiheit, das ist die Freiheit, die meine. Und die gibt es in Berlin.

Landesmindestlohn

Wir sorgen dafür, dass mehr Berlinerinnen und Berliner mehr Geld bekommen, indem wir den Landesmindestlohn auf 13 Euro anheben. Das hilft beispielsweise Menschen in Beschäftigungsmaßnahmen.

Und wenn wir demnächst den Vergabe-Mindestlohn anheben, schützt das Firmen, die gute Löhne zahlen, vor dem Lohndumping der Mitbewerbenden.

AV Wohnen

Oder die AV Wohnen, die die Wohnkosten für Sozialleistungsbeziehende regelt: Als ich noch im Bundestag war, hörte ich oft Berichte aus anderen Städten, die heilfroh gewesen wären, wenn es in ihrer Stadt eine so weitreichende AV Wohnen gegeben hätte.

Die Werte der AV Wohnen werden jährlich angepasst. Ich kann Ihnen versichern, dass in der Sozialverwaltung schon die Köpfe rauchen, wie wir dabei den steigenden Energiekosten Rechnung tragen können.

Krisenfonds

Die steigenden Preise von Lebensnotwendigem werden für Arme, für Rentnerinnen und Rentner sowie für Menschen, die für ihre harte Arbeit einen viel zu geringen Lohn bekommen, zu einem echten Problem. Das ist dem Senat mehr als bewusst.

Auch deshalb freut es uns sehr, dass die drei Fraktionen, die diese Regierung stellen, also RRG, gestern im Hauptausschuss einen Krisenfonds von 360 Millionen Euro beschlossen haben.

Resilienz-Rücklage

Bei der Erstellung des Haushaltsentwurfs hat sich der Senat zudem auf eine Resilienz-Rücklage von 750 Millionen verständigt. Damit wir und die Bezirke handlungsfähig sind, falls neue, nicht planbare Zumutungen wie Pandemien auf uns zukommen.

Der Begriff Resilienz meint die Fähigkeit eines Menschen oder eben einer Stadt mit Krisen umzugehen, meint eine gewisse Widerstandsfähigkeit, die uns befähigt, Krisen zu begegnen. Dazu gehört auch, aus ihnen zu lernen. Ja, auch Lehren zu ziehen.

Lehre aus 2015

Erinnern wir uns an 2015: Da reagierte Deutschland zunächst mit großer Solidarität auf die Fluchtbewegung. Doch auf Monate der Solidarität folgten Jahre, in denen Stimmungsmache gegen Flüchtlingssolidarität den öffentlichen Diskurs bestimmten.

Eine Lehre aus 2015 lautet für mich deshalb: Damit Solidarität mit Geflüchteten auf Dauer trägt, braucht es eine soziale Offensive und viel mehr Aufmerksamkeit für die sozialen Nöte der vielen.

Wir haben inzwischen 68.000 aus der Ukraine Geflüchteten, die in Berlin registriert sind bzw. sich dafür angemeldet haben. Sie bringen ihre Kinder in Kitas und Schulen, sie suchen Arbeit und eine Wohnung. Dabei erleben sie viel Solidarität.

Doch Hand aufs Herz – Berlin in diesen Tagen der großen Ukraine-Solidarität ist mehr als all jene, die ein Bett anboten oder eine Spende zum Hauptbahnhof brachten. Berlin – das sind auch jene, die sich bange Fragen stellen. Fragen wie: Wird es jetzt für mich noch schwerer, eine Wohnung oder einen Kitaplatz zu finden. Und warum wird alles teurer?

Soziale Ängste sehen

Dieses stille Hadern, diese zusätzliche Verunsicherung vor einer Zukunft, die längst keine besseren Zeiten mehr verspricht, müssen wir Demokratinnen und Demokraten sehr, sehr ernst nehmen.

Denn wer sich fürchtet, der möchte gesehen werden. Und wer sich nicht gehört fühlt, der kann schnell depressiv, aggressiv oder querdenkerisch werden.

Auch deswegen sage ich: Die Armutsfrage ist eine Frage an unsere Demokratie. Mit anderen Worten: Der Schutz vor Armut gehört zum Glutkern unserer sozialen Demokratie.