Immer öfter stehen Verwaltungen und ihre Beschäftigten (die dann gern verallgemeinernd als „Beamte“ bezeichnet werden) unter Beschuss, weil sie als zu langsam, zu umständlich, zu genau gelten. „Den Beamten“ wird Engstirnigkeit und mangelnde Modernität vorgeworfen, dass sie einfach nur nicht wollten, aber könnten. Gern wird bei dem in Rede stehenden Bürokratieabbau auf allen Ebenen (Bund, Länder, Kommunen) an Effizienz und Schnelligkeit gedacht, weniger an die der Bürokratie zugrundliegenden Gesetze und sonstigen Vorschriften.
Zeit also, mal die Dinge und Zusammenhänge ganz grundsätzlich zu betrachten und (aus unserer Sicht) geradezurücken und die Gelegenheit zu nutzen, den Rechtsstaat in Erinnerung zu rufen:
Das Grundgesetz (GG) verankert die Rechtsstaatlichkeit als Kernprinzip (Artikel 20 GG). Alle Verwaltungsorgane müssen nach Gesetz handeln und dürfen keine willkürlichen Entscheidungen treffen.
Verwaltungen haben dabei keine eigene Gesetzgebungsbefugnis. Sie müssen sich an von Parlamenten (Bundestag, Abgeordnetenhaus) erlassene Gesetze halten (z. B. Steuergesetze, Arbeitsschutzgesetz, Bundesmeldegesetz, Strafgesetzbuch, Personalvertretungsgesetze, Vergabegesetze, Landeshaushaltsordnung u.v.m.). Sie können keine eigenen Regeln erlassen, sondern nur bestehende Gesetze umsetzen oder auslegen. Bei Auslegungsspielräumen (Ermessen) müssen sie jedoch konstruktiv und im Sinne des Gesetzes vorgehen.
In einem Rechtsstaat ist das Handeln der Verwaltung noch dazu überprüfbar. Das Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG) regelt, wie die Verwaltung Entscheidungen treffen muss. Es regelt den Untersuchungsgrundsatz (§ 24 VwVfG), die Anhörung Beteiligter (§ 28 VwVfG), das Recht auf Akteneinsicht (§ 29 VwVfG), die Form und Bestimmtheit von Entscheidungen (Verwaltungsakten) usw. In § 40 ist das Ermessen geregelt und der Hinweis auf dessen gesetzliche Grenzen benannt. Alle Verwaltungsentscheidungen können von Gerichten überprüft werden (z. B. durch Verwaltungsgerichte, das Bundesverwaltungsgericht). Das Bundesverfassungsgericht wiederum prüft, ob Verwaltungsakte gegen das Grundgesetz verstoßen.
Es unterliegt nicht den Kompetenzen der Verwaltungen, Gesetze nicht zu vollziehen, weil sie vielleicht umständlich oder schlecht abgefasst sind. Oder Hausleitungen nach Außen gut dastehen wollen, weil die Statistik stimmt. Verwaltungen sind im Rechtsrahmen tätig, der durch Gesetze, Verfassung und Verwaltungsverfahrensrecht definiert wird. Sie sind nicht „frei“, sondern müssen jederzeit rechtmäßig handeln – sowohl in ihren Entscheidungen als auch in ihrer Organisation und auch untereinander.
Um hier nochmal ganz deutlich zu werden: es liegt nicht im (politischen) „Ermessen“, unliebsame Gesetze oder andere bindende Vorschriften einfach nicht mehr vollziehen zu lassen. Personalmangel, durch Entscheidungen auf politischer Ebene entstanden, und der daher resultierende Statistikdruck auf die Beschäftigten darf nicht dazu führen, dass eine einheitliche (=gerechte, = gesetzeskonforme) Anwendung von Vorschriften nicht mehr gewahrt ist. Da hängt der Rechtsstaat dran, dem muss sich die Verwaltung entgegenstellen. Alle, die sich freuen, wenn sie beim Falschparken kein Knöllchen bekommen oder bei ihnen in der Steuererklärung nicht so genau geguckt wird, sollten sich überlegen, ob sie sich nicht darüber aufregen, wenn der Diebstahl ihrer Geldbörse oder ihres Fahrrades nicht mehr verfolgt wird. Wir alle müssen darauf vertrauen können, dass das Recht gleichmäßig und gerecht auf alle Bürgerinnen und Bürger angewandt wird und die Gesetze gelten.
Politische willkürliche Anweisungen oder medienwirksame Forderungen, wie: „Nehmt es nicht so genau!“ kann niemand ernsthaft wollen. Denn es ist damit nicht selten eigentlich der Rechtsbruch zum eigenen Vorteil gemeint. Der Rechtsstaat ist aber nicht teilbar: entweder es gibt ihn oder nicht.
Bürokratieabbau muss also die Prüfung der geltenden Gesetze auf ihre Umsetzbarkeit bedeuten und kann die Notwendigkeit der Änderung von Gesetzen nach sich ziehen. Und damit liegt der Ball wieder auf dem politischen Spielfeld, denn in den Parlamenten wird über die Gesetze entschieden.
Für alle, die jetzt die Stirn runzeln und denken: „Ja, aber Effizienz muss doch auch ohne Gesetzesänderung gehen“, schreiben wir: „Klar. Identifiziert mehrfache Befassung mit einem Thema durch mehrere Dienststellen, setzt (digitale) Standards im Gesetzesvollzug, ändert Arbeitsweisen in den Dienststellen im Hinblick auf bessere Vernetzung, agilere Strukturen. Setzt die Berliner Verwaltungsreform um.“ Das ist übrigens auch ein Gesetzespaket und steht damit nicht im Belieben von Hausleitungen.