Geschichte des Landesinstitutes für gerichtliche und soziale Medizin Berlin

Seit dem Gründungsjahr 1937 bis heute ist das Landesinstitut für gerichtliche und soziale Medizin Berlin Bestandteil des öffentlichen Gesundheitswesens des Landes Berlin. Die heutige Organisationsform ist jedoch relativ neu. Erst im Jahr 1995 wurden auch das Leichenschauhaus und die Abteilung für Toxikologie dem Institut angegliedert. So erklärt sich auch die (nicht gerade einfache) Geschichte des Institutes, die am besten in separaten Abschnitten für einzelne Abteilungen abgehandelt werden soll.

Weimann

Abb.1 Erster Direktor Dr. Waldemar Weimann

Geschichte des ärztlichen Dienstes

Das heutige Landesinstitut für gerichtliche und soziale Medizin Berlin wurde als Gerichtsärztliches Institut des Stadtgesundheitsamtes am 1. April 1937 eröffnet. Bereits 1935 war der Gerichtsärztliche Dienst aus der Verantwortung der Polizei in die neu gegründeten Gesundheitsämter übergegangen. Der Arbeitsumfang bei der gerichtsärztlichen Versorgung der deutschen Hauptstadt mit damals ca. 4,3 Mio. Einwohnern ließ sich in dieser Struktur und Organisationsform jedoch bald nicht mehr bewältigen, so dass die Notwendigkeit zur Bildung eines Landesinstitutes gesehen wurde.

Erster Direktor der neu geschaffenen Einrichtung war Dr. Waldemar Weimann (1893-1965, Abb. 1). Er war ab 1924 als Privatassistent, später als Assistent und Oberarzt bei Prof. Dr. Fritz Strassmann am gerichtsmedizinischen Institut der Charité tätig, schied aber am 31. Oktober 1930 aus, um eine Gerichtsarztstelle in Berlin zu übernehmen. Sein Nachlass, über Jahre an verschiedenen Standorten unzulänglich untergebracht, konnte inzwischen zumindest teilweise dem Archiv der Deutschen Gesellschaft für Rechtsmedizin zugeführt werden. Weimann war in zahlreichen Aufsehen erregenden Prozessen als Sachverständiger geladen, beispielsweise als psychiatrischer Gutachter der Doppelmörderin Elisabeth Kusian im Januar 1951. Unübertroffen ist der von ihm zusammen mit Prof. Dr. Otto Prokop 1963 herausgegebene Atlas der gerichtlichen Medizin.

Untergebracht war der Büro- und Verwaltungsbereich des Landesinstitutes zunächst in einer Baracke auf dem Gelände des Robert-Koch-Krankenhauses in der Moabiter Turmstraße und damit unweit des Kriminalgerichts Moabit. Für die Sektionstätigkeit wurde im wesentlichen das Leichenschauhaus Hannoversche Straße 6 – zugleich Institut für gerichtliche Medizin der Charité – in Anspruch genommen, in geringerem Umfang führte das Landesinstitut Sektionen auch in der Pathologie des Robert-Koch-Krankenhauses durch.

Gerichtsgebäude

Abb.2 Hauptsitz des Landesinstitutes bis 2002 in der Invalidenstraße 52 (Ansicht von der Straße).

Nach der völligen Zerstörung der Räumlichkeiten bei Luftangriffen 1943 fand das Landesinstitut vorübergehend eine Unterkunft im Gesundheitsamt Berlin-Pankow Grunowstraße 8/11.

Schließlich fand die Nachkriegsodyssee im September 1949 in einigen Büroräumen des Sozialgerichtes Invalidenstraße 52 (Abb. 2) ein Ende. Neben den Büroräumen für Verwaltung, Gerichtsmediziner, Psychiater und Psychologen standen hier ein Histologie-Labor und ein Untersuchungsraum für Blutentnahmen und körperliche Untersuchungen Lebender zur Verfügung. Die Exploration zur Begutachtung der Haft-, Verhandlungs- oder Schuldfähigkeit wurde in der Regel im Dienstzimmer des jeweiligen Arztes durchgeführt.

Prof. Dr. Gerhard Rommeney

Abb.3 Prof. Dr. Gerhard Rommeney

Die fünfziger Jahre brachten einen Wechsel in der Leitung des Instituts mit sich. Weimanns Nachfolger wurde am 1. Dezember 1958 Prof. Dr. Gerhard Rommeney (1907-1974, Abb. 3), der sich bei Prof. Dr. Victor Müller-Heß am 1. Juni 1943 habilitiert hatte. Am 1. Dezember 1972 folgte ihm Dr. Heinz Spengler (1917 – 2004, Abb. 4), der dieses Amt zehn Jahre inne hatte.

Mit der fortschreitenden Teilung Berlins nach dem Zweiten Weltkrieg war den Gerichtsärzten des Landesinstitutes die Nutzung des Sektionstraktes im Leichenschauhaus Hannoversche Straße 6 nicht mehr möglich. Gerichtliche Leichenöffnungen mussten nun vorzugsweise in der Pathologie des Krankenhauses Moabit durchgeführt werden, was jedoch als Dauerzustand nicht tragfähig war. Es wurde daher für den Westteil der Stadt ein neues Polizeiliches Leichenschauhaus geschaffen und dafür ein Neubau auf dem nahe gelegenen Grundstück Invalidenstraße 59 errichtet.

Dr. Heinz Spengler

Abb.4 Dr. Heinz Spengler

Der vollständig unterkellerte Flachbau wurde 1965 in Betrieb genommen und erwies sich bis zum Auszug 2006 als zweckentsprechend. Die großzügigen Räumlichkeiten umfassten einen Sektionssaal mit vier Sektionstischen, einen Vorraum mit mobiler Röntgendurchleuchtungseinrichtung, Kühl- und Tiefkühlraum, zahlreiche Lager- und Asservatenräume, einen Aufbahrungsraum sowie mehrere Aufenthaltsräume einschließlich sanitärer Einrichtungen für Ärzte, Sektionsassistenten, Kraftfahrer, Verwaltung und Vertreter der Staatsanwaltschaft. Als Besonderheit darf ein Schießraum im Keller gelten, der ursprünglich für die Untersuchungen mutmaßlicher Tatwaffen eingerichtet, jedoch nach bisherigen Erkenntnissen in dieser Weise nie genutzt und kurze Zeit später als Lagerraum umfunktioniert wurde.

Prof. Dr. Dr. h.c.Volkmar Schneider

Abb.5 Prof. Dr. Dr. h.c.Volkmar Schneider

Am 1. Dezember 1982 übernahm Prof. Dr. Volkmar Schneider (geb. 1940, Abb. 5) die Leitung des Landesinstitutes. Auf seine akademische Laufbahn soll hier nicht eingegangen werden. Zum 1. März 1983 folgte seine Berufung auf den Lehrstuhl an der Freien Universität. Sein Amtsvorgänger und Lehrer war Prof. Dr. Walter Krauland.

Seither besteht die Leitung beider Institute in Personalunion, wobei die Institute selbst zwei verschiedenen Senatsverwaltungen (für Gesundheit und für Wissenschaft; je nach Zuschnitt der Ressorts in der Bezeichnung etwas differierend) unterstehen und strukturell und dienstrechtlich voneinander getrennt blieben und auch bleiben sollen, eine Konstruktion, die es in anderen Bundesländern nicht gibt, die sich aber für Berlin sehr bewährt hat. Als ein entscheidendes Ergebnis der gemeinsamen Leitung beider Einrichtungen durch einen Amtsinhaber kann rückblickend nach mehr als zwanzig Jahren angesehen werden, dass die damals seit Jahrzehnten schwelenden Kompetenzstreitigkeiten der Vergangenheit angehörten.

Für die gerichtsärztliche Rufbereitschaft zur Sofortbearbeitung von Leichensachen wurde zwischen beiden Instituten im Westteil der Stadt ein wöchentlich abwechselnder Dienst eingerichtet. Nach dem Fall der Berliner Mauer wurden in ähnlicher Weise die Verbindungen zum rechtsmedizinischen Institut der Charité aufgebaut und wechselseitig gute Kontakte zwischen den Gerichtsärzten aller drei Einrichtungen in der alltäglichen Praxis und bei diversen Publikationen und Vorträgen geschaffen. Bei der gerichtsärztlichen Rufbereitschaft wurde bis zur Fusion der beiden Universitätsinstitute die territoriale Zuordnung – der ehemalige Ostteil der Stadt wird bis zum jetzigen Zeitpunkt allein vom Institut in der Hannoverschen Straße versorgt – unverändert belassen, während in der sonstigen alltäglichen Versorgungsroutine je nach Kapazität Vertreter vom Landes- und vom Universitätsinstitut im gesamten Stadtgebiet tätig sind.

Der Fahrdienst des Landesinstitutes konnte auf zehn Berufskraftfahrer aufgestockt werden, um die Abholung polizeilich beschlagnahmter Leichen aus dem gesamten Stadtgebiet bei derzeit 3,4 Mio. Einwohnern in größerem Umfang zu bewerkstelligen und dies rund um die Uhr. Als Berliner Besonderheit behielten die Leichentransportfahrzeuge, bedingt durch die ursprüngliche Polizeizugehörigkeit, ihre grüne Lackierung (nach Entfernung von Polizeifunkgeräten, Polizeiemblem und Sondersignalanlage) bei. Neue Transporter werden auch weiterhin im Design der Berliner Polizeifahrzeuge in Dienst gestellt. Vorgesehen ist, in Zukunft die gesamte Ersteinbringung der pro Jahr in Berlin etwa 6000 beschlagnahmten Leichen zu ermöglichen, für die gegenwärtig durch die Polizei noch zu einem Teil auf private Bestattungsunternehmen zurückgegriffen werden muss.

Auch der Bereich für Forensische Toxikologie wurde Anfang 1995 dem Landesinstitut angegliedert. Als Fachbereich Klinische und Forensische Toxikologie gehörte er zuvor zum Landesinstitut für Lebensmittel, Arzneimittel und Tierseuchen. Die Tradition geht hier ebenfalls weit zurück. Seine Wurzeln hat dieser Bereich in der 1911 gegründeten Gerichtlich-chemischen Abteilung in der Staatlichen Anstalt zur Untersuchung von Nahrungs- und Genussmitteln sowie Gebrauchsgegenständen für den Landespolizeibezirk Berlin. Heute beläuft sich der Arbeitsumfang der forensischen Toxikologie auf jährlich etwa 900 Untersuchungsfälle, in denen ca. 15.500 Analysen durchzuführen sind. Geleitet wurde der Bereich von Dr. Benno Rießelmann (geb. 1948). Sein Amtsvorgänger, Prof. Dr. Karl-Heinz Beyer, war u. a. durch sein Buch „Biotransformation der Arzneimittel“ (1975) bekannt geworden. Seit dem 24. Juni 2014 leitet Herr Dipl.-Chem. Stefan Scholtis den Bereich.

Die Einquartierung des Landesinstitutes im Sozialgericht Invalidenstraße 52 sollte sich letztendlich als 53 Jahre währendes Provisorium erweisen. Zwar wurde immer wieder versucht, Abhilfe zu schaffen. Teilweise sehr detaillierte Pläne erstellte man nacheinander für die Unterbringung in einem leergezogenen Klinikgebäude in Britz, im Westflügel des Universitätsinstitutes der Charité in der Hannoverschen Straße, in den beiden Gebäuden des Instituts für Rechtsmedizin der FU in Dahlem und schließlich im mittlerweile geschlossenen Krankenhaus Moabit.

Als die Räume im Gebäude Invalidenstraße 52 vom Sozialgericht selbst dringend benötigt wurden, zog das Institut am 1. Juli 2002 mit seinem Hauptsitz in Räume der Senatsverwaltung für Gesundheit, Soziales und Verbraucherschutz. Diese ist die vorgesetzte Behörde und hatte einige Jahre zuvor das denkmalgeschützte und stilkonform modernisierte Gebäude der ehemaligen Reichsschuldenverwaltung (Abb. 6) in der Kreuzberger Oranienstraße 106 bezogen.

Senatsverwaltung

Abb.6 Zeitweiliger Hauptsitz des Landesinstitutes (2002-2004). Gebäude der ehemaligen Reichsschuldenverwaltung.

Zwar zeigten sich hier bei der räumlichen und technischen Ausstattung gute Arbeitsbedingungen, doch erwiesen sich die Wegezeiten zwischen den verschiedenen Institutsstandorten – Leichenschauhaus und Toxikologie blieben unverändert in der Invalidenstraße – und zum Kriminalgericht in Moabit als unerträgliche Belastung. Da zudem nur ein knappes Jahr nach dem Einzug in das Dienstgebäude Oranienstraße für die Büroräume des Landesinstitutes eine anderweitige Verwendung von der Senatsverwaltung ins Auge gefasst wurde, leitete man die Planung eines erneuten Umzugs ein.

Seit dem 1. Dezember 2004 hat das Landesinstitut seinen Sitz im Gesundheits- und Sozialzentrum Moabit (GSZM; Gelände des ehemaligen Krankenhauses Moabit) in der Turmstraße 21. Die Verwaltungs-, Untersuchungs- und Büroräume sind hier im Haus L, dem ehemaligen chirurgischen Pavillon untergebracht. Das Gebäude wurde 1923 unter dem renommierten Chirurgen Prof. Borchardt errichtet.

Am 1. Februar 2006 bezogen das Leichenschauhaus aus der Invalidenstr. 59 und die Toxikologie aus der Invalidenstr. 60 gemeinsam das modernisierte Haus O (ehemalige Pathologie des Krankenhauses Moabit). Damit ist das Institut nicht nur an seinen Ausgangspunkt zurückgekehrt, sondern es lassen an diesem Ort die bisher auf drei Standorte verteilten Arbeitsbereiche vereinigen. Erstmals in seiner Geschichte ist dem Landesinstitut nicht ein Provisorium, sondern eine auch in Zukunft zweckmäßige, dauerhafte Bleibe zugewiesen worden.

Mit der Fusion der beiden Universitätsklinika in Berlin zu einem gemeinsamen Klinikum „Charité – Universitätsmedizin Berlin“ gibt es in Berlin nur noch einen Lehrstuhl für Rechtsmedizin. Ihm wurde das aus der Zusammenlegung der beiden bisherigen Universitätsinstitute entstandene Institut (Unikat-Lösung) zugeordnet, zunächst am Standort Hittorfstr. 18 in Dahlem. Lehrstuhlinhaber und Direktor des neu gebildeten Institutes war vom 1. Oktober 2003 bis zum 31. Dezember 2006 Prof. Dr. Volkmar Schneider. Durch die dramatische Stellenreduzierung am neu gebildeten Universitätsinstitut wurde das Landesinstitut bezüglich der Versorgungsaufgaben stärker in die Pflicht genommen. Dies betrifft in erster Linie den gerichtsärztlichen Bereitschaftsdienst. Geschädigtenbegutachtungen werden ausschließlich vom Landesinstitut wahrgenommen.

Prof. M. Tsokos

Abb.7 Prof. Dr. Michael Tsokos

Zum 1. Januar 2007 wurde Herr Prof. Dr. med. Michael Tsokos (Abb. 7) auf den Lehrstuhl für Rechtsmedizin an der Charité, Universitätsmedizin Berlin, berufen. Damit ging die Ernennung zum Direktor des Institutes für Rechtsmedizin der Charité und des Landesinstitutes für gerichtliche und soziale Medizin Berlin einher. Die Personalunion bei der Leitung der beiden Berliner Institute konnte so fortgeführt werden. Neben der Weiterführung bewährter Strukturen und Arbeitsabläufe wurde das Profil des Landesinstitutes den modernen Erfordernissen weiter angepasst. So sind die gemeinsamen Weiterbildungsveranstaltungen mit dem Institut für Rechtsmedizin der Charité durch die Ärztekammer zertifiziert. Neu geschaffen wurden zwei Weiterbildungsstellen, um auch im Landesinstitut die Weiterbildung junger Assistenzärztinnen und -ärzte zum Facharzt für Rechtsmedizin zu ermöglichen. In der Sektionsabteilung wurde die bisherige konventionelle Röntgeneinheit abgeschafft. Das Landesinstitut nutzt seither die Computertomographie des Institutes für Rechtsmedizin der Charité, das unter der Leitung von Prof. Tsokos im benachbarten Haus N des Gesundheits- und Sozialzentrums Moabit (GSZM) seinen neuen Standort beziehen konnte. Bereits vor Beginn der Obduktion sind durch dieses Untersuchungsverfahren erste Befundbeschreibungen und Diagnosen möglich, die nachfolgend durch die gerichtliche Leichenöffnung ausgebaut werden. Dies betrifft ausschließlich ausgewählte Todesfälle wie etwa bei Tötungsdelikten, unbekannter Identität oder Verkehrsunfällen.

Literatur

  • 1

    Pross, C.

    Das Krankenhaus Moabit 1920, 1933, 1945.
    In: „…nicht mißhandeln…“ . Das Krankenhaus Moabit.
    Stätten der Geschichte Berlins, Band 5, hrsg. von C. Pross und R. Winau.
    Sonderdruck der Dorotheenstädtischen Buchhandlung
    Berlin 1984

  • 2

    Rießelmann, B.

    Ein Rückblick auf 90 Jahre „Gerichts-Chemie“ in städtischen Einrichtungen Berlins.
    In: Die forensische Toxikologie als universitäres und außeruniversitäres Fach – ein Rückblick und ein Ausblick. Symposium anlässlich des 65. Geburtstages von Prof. Dr. rer. nat. E. Klug, hrsg. von V. Schneider
    Berlin 2002

  • 3

    Rothschild, M. A.

    Die Geschichte zweier rechtsmedizinischer Institute im Westen Berlins.
    In: Das neue Jahrtausend: Herausforderungen an die Rechtsmedizin. Festschrift für Prof. Dr. med. Dr. h. c. V. Schneider zum 60. Geburtstag, hrsg. von M. A. Rothschild,
    Lübeck 2000

  • 4

    Schneider, V.

    20 Jahre gerichtliche und soziale Medizin Berlin – Umzug in das neue Dienstgebäude.
    In: Institut für Rechtsmedizin der Freien Universität Berlin.
    Tätigkeitsbericht 1998 – 2003

  • 5

    Strauch, H., Wirth, I., Klug, E.

    Über die Gerichtliche Medizin in Berlin
    Berlin 1992

  • 6

    Stürzbecher, M.

    Aus der Geschichte des Städtischen Krankenhauses Moabit.
    In: 125 Jahre Krankenhaus Moabit. Festschrift, Autorenkollektiv.
    Berlin 1997

  • 7

    Stürzbecher, M.

    Vom Pantoffelbüro des gerichtlichen Stadtphysicus zum neuen Dienstgebäude
    des Landesinstitutes für gerichtliche und soziale Medizin in der Oranienstraße.
    In: Institut für Rechtsmedizin der Freien Universität Berlin.
    Tätigkeitsbericht 1998 – 2003

  • 8

    Vendura, K., Schneider, V.

    Das Landesinstitut für gerichtliche und soziale Medizin Berlin
    In: B. Madea (Hrsg.) 100 Jahre Deutsche Gesellschaft für gerichtliche Medizin/Rechtsmedizin, 2004, S. 620-627

  • 9

    Wirth, I., Strauch, H., Vendura, K.

    Das Institut für Rechtsmedizin der Humboldt-Universität zu Berlin 1833 – 2003
    Frankfurt a. M. 2003

Kantstr

Abb 1 Dienstgebäude in der Kantstraße

"Gerichtschemie" in städtischen Einrichtungen Berlins

Gerichtschemische Untersuchungen in staatlichen Einrichtungen haben in Berlin eine beinahe hundertjährige Tradition. Bereits wenige Jahre nach Gründung der “Staatlichen Anstalt zur Untersuchung von Nahrungs- und Genußmitteln sowie Gebrauchsgegenständen für den Landespolizeibezirk Berlin”, die am 1. Januar 1901 ihren Dienstbetrieb in Räumen des Polizeipräsidium am Alexanderplatz aufgenommen hatte, wurden die ersten kriminaltechnischen Untersuchungen sowie Analysen zum Nachweis von Giften in Leichenteilen durchgeführt. Da diese Aufträge schnell einen sehr erheblichen Umfang annahmen, wurde 1911 ein besonderes gerichtschemisches Labor eingerichtet und der Apotheker, Chemiker und Lebensmittelchemiker Dr. August Brüning zum ersten Leiter ernannt. Einige wichtige Daten zur Entwicklung dieses Labors sind in der Tabelle 1 zusammengefasst.

Tabelle 1

  • 1911

    Gerichtlich-chemische Abteilung in Staatliche Anstalt zur Untersuchung von Nahrungs- und Genußmitteln sowie Gebrauchsgegenständen für den Landespolizeibezirk Berlin, in Berlin-Mitte, Alexanderstraße

  • 1928

    Gerichtlich-chemische Abteilung in Preußische Landesanstalt für Lebensmittel-, Arzneimittel- und gerichtliche Chemie, in Berlin-Mitte, Alexanderstraße

  • 1934

    Umzug der Landesanstalt nach Berlin-Charlottenburg in die Kantstraße

  • 1943

    Verlagerung der Gerichtlichen Chemie zum Reichskriminalamt
    Umbenennung von Preußische Landesanstalt in Reichsanstalt für Lebensmittel- und Arzneimittelchemie

  • 1946

    Gerichtlich-chemische Abteilung im Institut für Lebensmittel-, Arzneimittel- und gerichtliche Chemie des Magistrats von Groß-Berlin

  • 1950

    Gerichtlich-chemische Abteilung in Landesanstalt für Lebensmittel- Arzneimittel- und gerichtliche Chemie Berlin, in Berlin-Charlottenburg, Kantstraße

  • 1979

    Fachbereich Klinische und Forensische Toxikologie in Landesanstalt für Lebensmittel- Arzneimittel- und gerichtliche Chemie Berlin, in Berlin-Moabit, Invalidenstraße (Bezug eines Neubaus)

  • 1984

    Fachbereich Klinische und Forensische Toxikologie im Landesinstitut für Lebensmittel, Arzneimittel und Tierseuchen Berlin, in Berlin-Moabit, Invalidenstraße

  • 1995

    Bereich Forensische Toxikologie im Landesinstitut für gerichtliche und soziale Medizin Berlin, in Berlin-Moabit, Invalidenstraße

  • 2006

    Bereich Forensische Toxikologie im Landesinstitut für gerichtliche und soziale Medizin Berlin, in Berlin-Moabit, Turmstraße

Invalidenstr

Abb 2 Funktionsgebäude in der Invalidenstraße

Die besondere Bedeutung der Gerichtschemie in der damaligen Zeit lässt sich u.a. daran erkennen, dass sie 1928 bei einer Namensänderung ein Teil des neuen Anstaltsnamens “Preußische Landesanstalt für Lebensmittel-, Arzneimittel- und gerichtliche Chemie” wurde. Einige Jahre später zog das Untersuchungsamt wegen der großen räumlichen Enge aus dem Polizeipräsidium aus und übernahm 1934 ein wesentlich geräumigeres Dienstgebäude in der Kantstraße in Berlin-Charlottenburg (Abb. 1). Auch wenn es sich bei diesem Gebäude um ein ehemaliges Gerichtsgebäude handelte, fanden die Mitarbeiter dort erhebliche bessere Arbeitsbedingungen vor. An diesem Standort verblieb die “Anstalt” mehr als 40 Jahre, bis sie 1979 in ein neu errichtetes Funktionsgebäude in der Invalidenstraße in Berlin-Moabit umziehen konnte (Abb. 2).

Bedeutende Leiter der "Gerichtschemie"

Die Gerichtschemie in außeruniversitären Einrichtungen Berlins wird insbesondere geprägt von zwei herausragenden Persönlichkeiten. Einer ist der bereits erwähnte Apotheker, Chemiker und Lebensmittelchemiker Professor Dr. Dr. h.c. August Brüning, der die gerichtlich-chemische Abteilung von 1911 bis 1938 leitete, und der andere ist der Apotheker und Lebensmittelchemiker Prof. Dr. Karl-Heinz Beyer, der 1959 Mitarbeiter der Landesanstalt wurde und den Bereich gerichtliche Chemie bzw. Toxikologie bis zu seiner Pensionierung im Jahre 1993 über mehr als 30 Jahre leitete.

Professor Brüning war ein weit über Berlin hinaus anerkannter Sachverständiger auf vielen Gebieten der gerichtlichen Chemie. Häufig wurde er als Sachverständiger von den Gerichten geladen. Diese Ladungen beschränkten sich nicht nur auf Gerichte in Berlin oder in ganz Preußen. Im Archiv findet sich beispielsweise auch eine Ladung in die Schweiz zum Landgericht Zürich. Für die damalige Zeit sicherlich ungewöhnlich.

Neben seiner sachverständigen Tätigkeit hat Professor Brüning stets auch wissenschaftlich gearbeitet. Er ist Autor vieler Publikationen, die sich neben chemisch-toxikologischen Fragen u.a. auch mit Untersuchungen von Schusswaffen und der Identifizierung von Munition beschäftigten. Bei den Publikationen Prof. Brünings zu chemisch-analytischen Arbeiten fällt auf, dass er sich neben dem Nachweis von anorganischen Substanzen auch intensiv mit der Analytik von Betäubungsmitteln in Sektionsasservaten beschäftigt hat.

Nach seiner Pensionierung war Prof. Brüning noch mehrere Jahre als Lehrbeauftragter für naturwissenschaftliche Kriminalistik an der Universität Münster tätig und wurde von der dortigen juristischen Fakultät mit der Verleihung des Titels Dr. jur. h.c. geehrt.

Noch länger als Professor Brüning vor dem zweiten Weltkrieg war Professor Beyer nach dem zweiten Weltkrieg in der Abteilung gerichtliche Chemie bzw. Toxikologie der Landesanstalt tätig. Insgesamt war er dort 34 Jahre beschäftigt und leitete diese Abteilung über mehr als 30 Jahre.

Während in den ersten Dienstjahren von Professor Beyer überwiegend chemisch-toxikologische Untersuchungen bei ungeklärten Todesfällen sowie bei Verdacht auf missbräuchliche Einnahme von Betäubungsmitteln oder von Arzneistoffen durchgeführt wurden, kamen in den sechziger und siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts in einem erheblichen Umfang klinisch-toxikologische Untersuchungen bei Vergiftungsfällen, insbesondere bei Intoxikationen mit Schlafmitteln oder mit Psychopharmaka, hinzu. Diese Untersuchungen führten zu zahlreichen Publikationen, die häufig gemeinsam mit den Ärzten von Intensivstationen verschiedener Kliniken verfasst wurden. Besonders erwähnt seien die langjährige Zusammenarbeit von Professor Beyer mit Frau Professor Ibe, Leiterin des Reanimationszentrums im Klinikum Charlottenburg der Freien Universität Berlin oder mit Professor von Clarmann von dem Klinikum rechts der Isar in München. In seinen Publikationen hat sich Professor Beyer nicht nur mit chemisch-toxikologischen Fragestellungen beschäftigt, sondern hat auch Fragen der Arzneimittelsicherheit aufgegriffen. Beispielsweise hat er gemeinsam mit Professor von Clarmann nachgewiesen, dass der Grund für die missbräuchliche Einnahme des apothekenplichtigen Arzneistoffes Amfetaminil darin zu sehen ist, dass er intravital schnell zu dem Betäubungsmittel Amphetamin umgewandelt wird und somit ein Prodrug darstellt.

Neben den Aufträgen für klinisch-toxikologische Untersuchungen, die der Fachbereiches Klinische und Forensische Toxikologie, wie der offizielle Name seit 1979 lautete, in zunehmendem Maße erhielt, mussten auch vermehrt forensisch-toxikologische Untersuchungen durchgeführt werden. Während 1960, also im ersten Jahr nach dem Dienstbeginn von Professor Beyer, 47 Todesfälle chemisch-toxikologisch bearbeitet wurden, stieg diese Zahl bis zum Jahr 1990 um mehr als 750% auf 365.

Wegen seiner Verdienste um die toxikologische Analytik wurde Professor Beyer 1997 mit der Jean-Servais-Stas-Medaille der Gesellschaft für Toxikologische und Forensische Chemie (GTFCh) ausgezeichnet.

Zum 1. Januar 1995 erfolgte eine organisatorische Änderung des chemisch-toxikologischen Bereiches. Das Aufgabengebiet der forensischen Toxikologie wechselte zum Landesinstitut für gerichtliche und soziale Medizin Berlin. Seit dieser Zeit ist der Bereich Forensische Toxikologie mit dem ihm zugewiesenen Aufgabenspektrum direkt in die rechtsmedizinische Grundversorgung des Landes Berlins eingebunden und führt mittlerweile bei über 60% der ungeklärten Todesfälle die notwendigen chemisch-toxikologischen Untersuchungen durch.