Mein Sonntagskleid…

Ein Mädchen im Garten zwischen Bäumen im Sommer

von Helga Licher

Es kommt mir vor, als wäre es gestern gewesen…

Ich erinnere mich noch gut an den Moment, als ich es zum ersten Mal sah. Es hing im Schaufenster eines kleinen Modegeschäftes bei uns im Ort. Ich war 10 Jahre alt, als sich meine Mutter mit mir auf den Weg dorthin machte. Ich sollte ein neues Sonntagskleid bekommen. Onkel Hubert würde am kommenden Sonntag seinen siebzigsten Geburtstag feiern, und meine Eltern und ich waren eingeladen. Es kam nicht oft vor, dass sich unsere Verwandtschaft zu einer großen Familienfeier traf. Meistens wurde ein Familienmitglied entweder von einem erfreulichen Ereignis oder von einem unerwarteten Erlebnis überrascht. Ich freute mich darauf, meine Lieblingstante Berta und ihre Tochter Marianne wieder zu sehen. Marianne war eine Tochter aus gutem Haus, wie meine Mutter immer sagte, und sie würde einmal eine beachtliche Mitgift mitbringen. Marianne war stark kurzsichtig und musste eine Brille tragen, aber ihre langen, blonden Haare dufteten nach Maiglöckchen und Veilchen. Ich nahm mir fest vor, auch einmal so schön zu riechen.

Als ich Marianne das letzte Mals sah, hatte sie ein wunderschönes rotes Kleid mit einem weißen Spitzenkragen an. Das Kleid passte hervorragend zu ihrer hellen Haut und dem blonden Haar. Marianne war drei Jahre älter als ich und hatte diesen selbstbewussten Ausdruck in ihrem Gesicht, der wie ein Zeichen ihrer inneren Stärke wirkte. Vielleicht war es die Brille, die ihr diesen Ausdruck verlieh. Heute weiß ich, dass Marianne sehr darunter gelitten hat, eine Brille tragen zu müssen. Dennoch strahlte sie eine Gelassenheit aus, die weit über ihr Alter hinaus ging.

Wehmütig dachte ich an das hübsche Kleid, dass ich im Schaufenster des Modeladens gesehen hatte. Es war aus hellblauem, fast weißem, hauchzarten Stoff gefertigt und mit vielen kleinen blauen Blüten bestickt. Sie sahen aus, wie Sterne. Das Kleid hatte einen weiten Rock, einen kleinen Bubikragen und seitlich befestigte Schleifenbänder, die im Rücken gebunden wurden. Und statt Ärmel hatte es kleine Flügelchen über den Schultern. Es war wunderschön…

Die Tür des Ladens öffnete sich mit leisen Klingeln, als meine Mutter mit mir an der Hand, das Geschäft betrat. Und dann sah ich es…

Ich hatte noch nie ein schöneres Kleid gesehen. Ganz vorsichtig strich ich mit dem Finger über den zarten Stoff. Die Verkäuferin lächelte und fragte: „Gefällt es dir?“ Ich nickte und hatte für einen Moment die Hoffnung meine Mutter würde mir dieses Kleid kaufen. Doch als ich das Preisschildchen sah, wusste ich, dass dieses Kleid nur für die Kinder reicher Leute bestimmt war. Für Töchter aus gutem Haus…

Traurig schaute ich meine Mutter an. Sie hatte inzwischen nach einem bunten Baumwollkleid mit roten Knöpfen gegriffen und reichte es mir, während die Verkäuferin den hellblauen Traum zurück in den Schrank hing. Meine Mutter streifte mir das neue Kleid über, und ich betrachtete mich im Spiegel. Die kleinen Puffärmelchen und die rote Schürze gefielen mir. Ich bekam nicht oft ein neues Kleid, meistens musste ich die Kleidungsstücke meiner älteren Geschwister nachtragen.

„Die rote Schürze kleidet dich besonders gut,“ sagte die Verkäuferin und schaute mich freundlich an. Ich glaube, sie wusste, dass das Blümchenkleid mit der Schürze für mich nur die zweite Wahl war. Betrübt schaute ich noch einmal zu dem Schrank hinüber, in dem der hellblaue Traum verschwunden war.

Onkel Hubert freute sich, dass wir seiner Einladung gefolgt waren. Er begleitete uns durch seinen Garten und strahlte vor Stolz, als er uns durch die Blumenbeete führte und uns von seinen neuesten Gartenprojekten erzählte. Während ich Onkel Hubert zuhörte, suchte ich aus den Augenwinkeln nach Marianne. Meine Tante Berta hatte ich bereits entdeckt, aber wo war Marianne? Ich suchte den ganzen Garten nach ihr ab, währen Onkel Hubert seinen Gästen die prachtvollen Rosenbüsche zeigte.

„Onkel Hubert hast du Marianne gesehen?“ fragte ich vorsichtig, ohne seine Erzählungen zu unterbrechen.

„Oh, Marianne war gerade bei den Himbeersträuchern am Ende des Weges.“

Ich ging einige Schritte den Weg entlang, und da sah ich sie… Sie saß auf der Bank, unter dem alten Apfelbaum und war in ein Buch vertieft.

Ich setzte mich zu ihr und schaute sie überrascht an. Ihre langen Haare waren einer modernen Kurzhaarfrisur gewichen, und statt eines eleganten Kleides trug sie einen weiten dunkelblauen Pullover und eine schwarze Hose. Ihre bloßen Füße steckten in schmuddeligen, weißen Turnschuhen.

„Du wunderst dich, dass ich heute ein wenig anders aussehe, nicht wahr?“ Sie schlug das Buch zu und lächelte mich an.

„Ist schon in Ordnung,“ sagte ich.

„Weist du,“ sagte Marianne,“ es kommt doch gar nicht darauf an, wie man gekleidet ist, es kommt darauf an, wie man sich fühlt. Wir sollten nie vergessen, stets wir selbst zu sein ohne die Erwartungen und Ansichten der anderen. Manchmal gibt es Situationen, die eine tiefe Wendung in unserem Leben einleiten.“

Aufmerksam hörte ich ihr zu. Marianne und ich verbrachten damals viele Stunden unter dem alten Apfelbaum und redeten über unsere Träume aber auch über unsere Ängste. Sie hat mir gezeigt, dass man die Welt in einem anderen Licht sehen kann. Ich habe später lange über diese Worte nachgedacht. Aber erst als ich älter war, habe verstanden was Marianne mir damals unter dem alten Apfelbaum in Onkel Huberts Garten sagen wollte.

„Wahre Schönheit und Freiheit kommt von Innen und ist keine Frage der äußeren Erscheinung. Sie wird sich häufig in den einfachen Augenblicken des Lebens wiederfinden.“

Leider haben wir uns irgendwann aus den Augen verloren, aber das Gespräch mit ihr, unter dem alten Apfelbaum, habe ich nie vergessen.