Der Liebesbaum

Bäume in einer Reihe

von Waltraud Käß

Erinnern wir uns: 8. Mai 1945 – Die Kapitulation Hitlerdeutschlands wird nach dem Ende des mörderischen 2. Weltkrieges vollzogen. Frieden sollte sein.
Doch nach über 70 Jahren toben noch immer überall auf der Welt Kriege. Profit- und Machtstreben der Herrschenden führen zu millionenfachem Elend von unschuldigen Menschen, führen zu Tod, Verzweiflung und traumatisierten Soldaten, die in diesen Kriegen sinnlos verheizt , und wenn sie unbrauchbar geworden sind, alleine gelassen werden.

Die reichen Länder in Europa haben sich abgeschottet gegen die durch sie hervorgerufenen Flüchtlingsströme. Die so genannte Balkanroute, auf der die Flüchtlinge nach Europa gelangen konnten, wurde für die reiche EU durch arme Länder wie Mazedonien, Kroatien, Serbien und Slowenien geschlossen. Sie machen die Drecksarbeit, auch für die Wohlstandsgesellschaft in Deutschland.

Man überlässt dem ärmsten Mitgliedsland der EU, Griechenland, die größte Belastung und Verantwortung. Obwohl man es finanziell vorher zu Boden gezwungen hat und eigene Profite daraus zieht.

Zwei Beispiele: „Dieses Land hat, mit dem Messer der EU auf der Brust, dem bundesdeutschen Konzern Fraport 14 Regionalflughäfen für ca. 1,2 Milld. € verkauft. Damit befindet sich nahezu der gesamte Touristikbereich unter bundesdeutscher Konzernkontrolle. – Einer der lukrativsten Deals ist der Verkauf eines zehnprozentigen Anteils an der staatseigenen Telekommunikationsgesellschaft, die der Deutschen Telekom im Jahre 2011 die Summe von 585 Mill. € eingebracht hat“ (Aus „Raubzug in Griechenland“, Heft Rotfuchs Nr. 218 vom März 2016). Sind das nicht echte Schnäppchen?

Seit dem 20. März 2016 hat die EU den faulen Kompromiss zur Abschottung vor den Flüchtlingen mit der Türkei geschlossen, die ihre privilegierte Stellung erpresserisch zu nutzen weiß. Da vergisst man schnell einmal, über die Verletzung von Menschenrechten zu reden. Und man schnürt papierne Finanzpakete für Griechenland, die vielleicht niemals oder nur Ich schäme mich.

Schäme mich für alle diese Handlungen. Schäme mich und bin wütend, wenn ich die dummen und gefährlichen Sprüche von der AfD, der Pegida und wie sie noch alle heißen, von CSU- und anderen Politikern ertragen soll. Bin entsetzt, wenn ich lese, höre und sehe, wie im Namen Gottes oder Allahs Menschen verdummt, missbraucht , zu Gotteskriegern gemacht oder getötet werden.

Und mitunter denke ich, dass passieren müsste, dass genau diese Hassprediger und diese Politiker eine Woche lang als Soldat den Krieg erleben oder dass sie sehen müssten, wie der Kamerad an ihrer Seite getötet wird. Oder sie müssten nur mal eine Woche als Flüchtling, vielleicht sogar als „Wirtschaftsflüchtling“ die Strapazen und das Leid ertragen.

Glauben Sie nicht auch, dass die Welt vielleicht ein wenig friedlicher werden würde? In meiner Ohnmacht möchte ich mir wenigstens diese Illusion erhalten. Aber müssen wir ohnmächtig bleiben?

In der Zeitung „Neues Deutschland“ vom 8.März 2016 gab es einen Leserbrief – Ich bin einer der Stummen im Land- von Andreas Kloß, Dresden, aus dem ich kurz zitieren möchte: „Wenn wir vielen Stummen, bei denen Herz und Hirn noch eine Einheit bilden, nicht endlich anfangen, leise zu rufen, dass nicht die Flüchtlinge das Problem dieser Welt sind, sondern diejenigen, die sie durch ihre Politik der Gier nach Macht, Rohstoffen und Geld zu Flüchtlingen gemacht haben, sind wir mitschuldig!“ Stimmt. Und ich denke: Jeder kann ein Zeichen setzen. Jeder nach seinen Möglichkeiten.

Neben allem Leid aber gibt es auch weiter Leben, Freude, Liebe, Fröhlichkeit in der Welt. Kinder werden gezeugt und geboren. Ich möchte meine folgende Geschichte „Der Liebesbaum“ den Lebenden, den Toten und allen Flüchtlingen dieser Welt widmen.

„Der Liebesbaum“

Sie wollten sich wie immer an ihrer alten Weide treffen. Die alte Weide am Ufer der Oder war schon vor vielen Jahren der heimliche Spielplatz ihrer Kindheit. Auf den knorrigen Ästen, versteckt im Laub der Blätter, träumten sie damals davon, wie die Welt wohl am anderen Ufer des Flusses aussehen würde. Jahre später hatte Gertrud von Max den ersten, scheuen Kuss an der Weide bekommen und sie hoffte, dass er nicht immer so zurückhaltend bleiben würde wie bei diesem ersten Mal.

Als sie schwanger wurde, hörte nur die Weide zu, als Gertrud ihrem Liebsten das Geheimnis anvertraute. Er würde sie heiraten, dessen war sie sich gewiss. Und an diesem Abend nahm Max sein Taschenmesser in die Hand und ritzte mit ihm in geheimnisvollen Strichen und Punkten, er hatte sich das Morsealphabet selbst beigebracht, ihren gemeinsamen Schwur in den Stamm, immer füreinander da zu sein.

An ihrer Weide wollten sie nun auch Abschied nehmen. Es würde bestimmt nur ein Abschied auf Zeit sein. Der Krieg war sicher schnell vorbei, die Truppen siegten auf der ganzen Linie, wie man es in allen Wehrmachtsberichten hören konnte. Ihrem Max würde sowieso nichts passieren. Sie bekam schließlich sein Kind. Und das brauchte seinen Vater. So beruhigten sie sich gegenseitig.

Gertrud wartete nun schon den dritten Monat auf Post. Die Nachrichten klangen beunruhigend. Die eigenen Truppen bewegten sich rückwärts. Manchmal, wenn wieder eine Marschkolonne im Dorf eintraf, nahm Gertrud das Foto von Max und fragte die Soldaten „Kennen Sie meinen Mann? Haben Sie gehört, was mit dieser Einheit geschehen ist?“ Kein Lächeln blitzte in den müden und leeren Augen der Soldaten auf.

Von den schmalen, eingerissenen Lippen kam keine Auskunft. Bis zu dem Tag, als sie den Brief bekam. Er war schmutzig, zerknittert und auf dem eingerissenen Umschlag sah sie die eingetrockneten Blutflecke. Zittern nahm sie ihn aus den Händen des Soldaten entgegen. „Er konnte ihn noch aus der Jacke ziehen, als ihn die Kugel traf“ sagte der Soldat in ihre Augen.

Mit dem Beil rannte Gertrud zu der alten Weide. Es war eine Lüge. Alles war eine Lüge. Auch ihr gemeinsamer Schwur. Max würde nie wieder für sie da sein. Ihr kleiner Sohn war vaterlos. Sie musste diesen Schwur zerstören. Sie hackte und hackte, aber die Borke des Baumes widerstand und gab nur wenige Stückchen frei. Gertrud stampfte sie mit ihren Füßen in den Boden und grub sie unter Tränen mit ihren Fingern wieder aus.

„Frau, verlasst endlich das Dorf, die Russen stehen schon an der Oder“, riefen ihr die letzten Flüchtlinge zu. In der Dunkelheit, sie hörte den immer näher kommenden Geschützdonner, besuchte sie noch einmal ihre alte Weide. „Eines Tages besuche ich dich wieder. Du hast mir die Kraft gegeben, durchzuhalten.“ Sie schnitt einige Zweige ab und achtete während der ganzen Flucht darauf, sie immer feucht zu halten.

In jedem Frühjahr hatten die Zweige, inzwischen zu kleinen Weiden heran gewachsen, frisches Grün getrieben und Gertrud hoffte jeden Frühling, dass Max noch am Leben sei. Sie hatte ein neues Dorf gefunden und sich mit ihrem Sohn eingerichtet.

Drei Jahre waren ins Land gegangen und ihre Hoffnung wurde blasser. Bis dieses Wunder geschah. „Max“ schrie sie auf, als der ausgemergelte, beinamputierte Mann plötzlich vor ihrer Tür stand. „Der Soldat, der Brief mit den Blutflecken, ich dachte, Du seiest tot“ stotterte sie fassungslos in sein Gesicht. „Ach Gertrud“, sagte Max, „ich wurde schwer verwundet und kam in Kriegsgefangenschaft. Ich musste doch am Leben bleiben. Wir haben uns geschworen, immer füreinander da zu sein.“ Als er sie im Arm hielt, sagte er leise „Du weißt doch, Totgesagte leben länger.“

Irgendwann, bevor sie zu alt dafür wären, beschlossen Max und Gertrud, ihr Dorf an der Oder noch einmal zu besuchen. Ob die alte Weide, ihr Liebesbaum, noch am Ufer stehen würde? Die Spur der Säge war noch frisch. Es sei einer aus dem Nachbardorf gewesen, sagten die Alten, die sie befragten, und Max und Gertrud folgten dieser Spur.

„Wir suchen die alte Weide, die Sie vor einigen Tagen abgesägt haben.“ Der Holzbildhauer zeigte auf eine neue, noch unfertige Skulptur in seinem Garten. Er zeigte auf das Holz und meinte, dieser Baum müsse ein Geheimnis bergen, denn er habe auf seinem Stamm seltsame Einritzungen gefunden.

Zwei Händepaare strichen behutsam über das alte Holz und währenddessen erzählten Max und Gertrud dem Bildhauer das Geheimnis der Weide. Endlich konnte Gertrud ihrem Mann auch beichten, dass sie den Baum fast mit einer Axt zerstört hätte. Der lachte nur und strich ihr zärtlich über das Gesicht, „Du weißt doch, Totgesagte leben länger.“

Der Bildhauer sah die Beiden und wusste, dass die Weide in seiner Skulptur ewig leben würde. Und er beschloss, ihr den Namen „Der Liebesbaum“ zu geben.