Ein Trainingsfeld für das Hindernisrennen, das sich Leben nennt

Über Intimität statt höflicher Distanz, Abstandsregel-Profis und die überraschenden Vorteile der Krise

Ursula Renneke ist seit 2018 Kursleiterin an der Volkshochschule Berlin Mitte. Sie gibt Schauspiel- und Theaterkurse. Wenn sie nicht in unserem Theaterraum ist, sieht man sie im deutschen Fernsehen und noch mehr auf Bühnen in Deutschland. Heute sprechen wir über Kunst und Kultur in Pandemiezeiten und wie die Erfahrungen dieser neuen Art zu unterrichten, alle verändert haben.

Übungen im Theaterraum

Guten Morgen, Frau Renneke. Schön, Sie zu sehen. Haben Sie die komische Alte in sich heute schon gefunden?

Nein habe ich noch nicht. Ich selber nehme mich noch nicht als alt wahr – alles eine Frage der Perspektive ;) Aber Sie fragen wahrscheinlich wegen der Regisseurin Vanessa Stern, die unter anderem mit dem Theater-Workshop „Auf der Suche nach der komischen Alten“ einen der Bühnenhighlights des Corona-Jahres 2020 produziert hat, der eben dieser Pandemie auch zum Opfer fiel, wie so viele Veranstaltungen im vergangenen Jahr. Mit Vanessa Stern habe ich innerhalb der letzten 12 Monate zwei „Theaterfilme“ produziert. In dieser pandemiebedingten, hybriden Kunstform zwischen Bühne und Film konnte ich als Schauspielerin die Hindernisse des freischaffenden Künstlerinnendaseins ziemlich gut und humorvoll verarbeiten. Da hab‘ ich ganz schön viel Glück gehabt!

Übungen im Theaterraum

Dozentin Ursula Renneke beobachtet eine Übung der Teilnehmenden

Im letzten Jahr lernten unsere Teilnehmenden viel in Online-Kursen. Theater online unterrichten? Wie soll das gehen?

Ja, das haben wir uns auch am Anfang gefragt. Wenn wir uns online begegnen, fordert uns das auf eine ganz eigene Weise heraus. Es ist schwieriger, eine energetische Verbindung zueinander aufzubauen. Aber wie sehr wir das brauchen und wie wir das tun, wurde uns durch den online-Unterricht wiederum auch erst bewusst. Bei den ersten Kursen, die erst nach ein paar Live-Sessions in den online-Modus wechseln mussten, war das noch einfach, weil sich während der ersten Termine im Theaterraum schon ein Gruppengefühl entwickelt hatte. Bei den neuen Kursen die von vornherein online starteten, musste ich mir was Neues einfallen lassen. Ich habe mit den Teilnehmenden Übungen gemacht die uns bewusst gemacht haben, dass eine energetische Verbindung trotz des technischen Mediums zwischen uns möglich ist!

Die Teilnehmenden konnten einander aufmerksamer zuhören und einander genauer beobachten. Je zugewandter und interessierter wir aneinander sind, desto kurzweiliger gestalten sich die Aktivitäten, die wir teilen. Das aktive Interesse am Gegenüber und der Welt, die ich wahrnehme, ist essentiell für schauspielerische Übungen, und hat uns den online-Unterricht wesentlich erleichtert! Kurze Pausen zwischendurch sind wichtig! Dann fällt genaues Zuhören und gegenseitiges Ausredenlassen leicht. Die Konzentration war trotz oder auch gerade wegen der fehlenden Körperlichkeit zum Teil sogar stärker als im Präsenzkurs vor Corona.

Übungen im Theaterraum

Das hätte ich nicht erwartet. Welche Erfahrungen haben Sie noch überrascht?

Einer meiner Volkshochschul-Kurse ist „Von der Bühne vor die Kamera“. Auch wenn ich in Fernsehproduktionen als Schauspielerin mitgewirkt habe, ist die Theaterbühne mein Zuhause. Das glaubhafte Spiel vor der Kamera ist jedoch ein ganz anderes, als das auf einer großen Bühne, wo die Zuschauer*innen teilweise sehr weit weg sitzen.

Was für ein Glück, dass beim Online-Kurs, die Kamera sowieso immer an ist! Viele von uns hatten im letzten Jahr reichlich Übung mit Videoanrufen – privat oder beruflich. Die Kamera ist irgendwann kein Fremdkörper mehr und wir konnten wunderbar Übungen aufzeichnen und analysieren. Das hat gut zum Kurs gepasst. In manchen Kursen hatten nicht alle Teilnehmenden eine Kamera. Sie haben dann mehr Redezeit bekommen, damit wir die ausschließlich per Stimme Teilnehmenden nicht „aus den Augen“ verlieren.

Online ist mehr möglich, als ich vorher angenommen hatte. Jede Krise ist eine gute Krise. Ich bin dankbar und glücklich über die neuen Erfahrungen, die ich ohne diese Pandemie nicht gemacht hätte. Ich bin stolz auf mich und das, was ich und auch Kolleg*innen von mir trotz Pandemie erreicht haben. Natürlich hat es viele hart getroffen: Familien mit Kindern, Menschen mit geringen finanziellen Mitteln, Gastronomie und nicht zuletzt uns Künstler*innen, Musiker*innen, Sänger*innen, Tänzer*innen und Schauspieler*innen. Viele Menschen meistern diese Pandemie mit riesengroßen Anstrengungen und Duldsamkeit. Das beeindruckt mich.

Übungen im Theaterraum

Wir haben zum Sommer 2021 wieder in Präsenzkurse gewechselt. Wie kann ich mir das vorstellen?

Trotz der Risiken und der Hygieneregeln samt Schnelltests sind die Teilnehmenden und ich dankbar und glücklich, gemeinsam im Theaterraum arbeiten zu können. Es ist ungewohnt, wieder mit mehreren Menschen in einem Raum zu sein. Die Hygieneregeln verstärken dieses Befangenheits-Gefühl. Da man sich im Schauspielkurs aber sowieso bewusster als im Alltag bewegt, steht das dem Unterricht gar nicht im Weg. Im Gegenteil! Was man zuerst lernt, ist das Verhältnis des eigenen Körpers zum Raum. Das können auch schon viele Teilnehmende, wenn sie kommen. Für viele Menschen ist es neu, eine Sensibilität und ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, aber sie lernen es innerhalb kürzester Zeit. Dieses Gespür hilft unter anderem kinderleicht dabei, Abstandsregeln einzuhalten. Schauspieler*innen sind Abstandsregel-Profis.

Ich sehe, dass ihr mitten im Raum mehrere Plexiglaswände aufgestellt habt. Stört das nicht beim Spielen?

Ohne wäre es schöner. Klar! Aber diese Trennung ermöglicht eine Nähe, die wir im Alltag momentan selten mit anderen erleben können. Die Teilnehmenden können sich bei Partnerübungen sehr nah, Auge in Auge (!) gegenüber stehen, ohne den Mindestabstand einhalten zu müssen. Das hat im Pandemie-Präsenzkurs letztes Jahr allen Beteiligten unglaublich gut getan! Und wir haben viel gelacht mit dieser Plexiglasscheibe zwischen uns! Das war irre gut!

Es gibt in dem Volkshochschul-Kurs zur Meisner-Technik (Link zur Kursanmeldung) eine Übung, bei der sich jeweils zwei Teilnehmende gegenüberstehen und benennen, was ihnen an der anderen Person auffällt und was sie bemerkenswert finden – nur Äußerlichkeiten oder Beobachtungen das Verhalten betreffend. Das Gegenüber wiederholt dann die Beobachtung. Also: „Du bist müde.“ – „Ich bin müde“. „Du zweifelst.“ – „Ich zweifle“. Diese Übung kann starke Impulse und Emotionen hervorrufen, z.B. Belustigung, Frustration, Freude, Besorgnis oder Scham. Ohne die Plexiglaswand könnte zugewandtes Sprechen nur mit viel Abstand passieren und wäre weniger intensiv.

Auch wenn keine Berührung möglich ist, ist die Anwesenheit des Körpers und der Kontakt im Raum sehr wichtig. In diesen Zeiten müssen wir im Alltag noch häufiger natürliche Impulse unterdrücken als ohnehin schon. Aber im Präsenzunterricht können wir sie durch die Bewusstheit für den Abstand zueinander zulassen, bewusst erleben und für unser Schauspiel nutzbar machen.

Übungen im Theaterraum

Wie haben Sie die letzten anderthalb Jahre als Künstlerin erlebt?

Nun, unsere Situation als Künstlerinnen und Künstler besteht in der Regel auch ohne Pandemie darin, uns die ganze Zeit selbst zu organisieren. Wir müssen unsere Aufträge und Projekte immer wieder neu planen und timen, bevor wir anfangen können, künstlerisch zu arbeiten. Darum geht es auch in dem Theaterfilm über Schillers Schädel namens „Knochenarbeit“, den wir bald in die Welt hinausschicken. Was schlägt uns auf die Knochen? Wie gehen wir damit um? Dieser Theaterfilm in der Regie von meiner geschätzten Kollegin Vanessa Stern bedient nicht den Realismus. Wir beobachten und reflektieren Phänomene und überhöhen sie künstlerisch. Diese Zeichenhaftigkeit theatraler Mittel schätzen viele Leute und viele können damit nichts anfangen. Ich arbeite als Schauspielerin mit beidem gern – mit dem Realismus und der künstlerischen Überhöhung.

Ehrlich gesagt war mein erster Gedanke bei der Verkündung des ersten Lockdowns so was wie „Puhh, ENDLICH, jetzt kann ich mal ausruhen ohne schlechtes Gewissen“ – aber kurz danach saß mir dann auch schon die die Existenzangst im Nacken.

Sehnsüchtig warten das Filmteam und ich auf die Premiere des Spielfilms “Ich bin voller Hass und das liebe ich”. Regie führte Oliver Grüttner. Es geht um einen Jungen, der einen Amoklauf plant und ich spiele die Mutter des Jungen. Soweit ich es beurteilen kann (ich kenne den Film ja auch noch nicht ganz) ist es eine Dramödie, wobei diese Genre-Beschreibung vielleicht zu „klassisch“ ist. Der Film ist etwas ganz besonderes, weil es pro Szene nur eine Kameraeinstellung gibt und wir Schauspieler*innen alles improvisiert haben – also hohe Anforderungen an das ganze Team. Aber ich bin sicher dass der Film ein Augenschmaus und ein Kino-Fest sein wird!

Ich durfte in diesem Jahr schon zweimal bei kleinen Projekten Regie führen. Die Senatsverwaltung für Wissenschaft und Forschung, die für Universitäten zuständig ist, hat Projekte in Präsenz erlaubt, wenn die Unterrichtsinhalte nicht adäquat online vermittelt werden können. So kam es, dass wir in 3er-Teams (2 Schauspieler*innen & Regie) mit Abstand und Tests auf der Bühne arbeiten konnten.
Mit all diesen Projekten waren die letzten anderthalb Jahre zwar besonders, aber das Künstler*innen-Leben ist immer voller Brüche und Umwege.

Ich finde es wichtig, dass Menschen Kunst erleben und machen können. Die Darstellende Kunst ist ein Trainingsfeld für das Hindernisrennen, das sich Leben nennt. Ich will mit meiner Arbeit die Darstellende Kunst erlebbar machen, weil es hier keinen unbedeutenden Moment gibt. In der Verdichtung der dramatischen Wirklichkeit ist jeder Moment wichtig. Schauspiel-Übungen ermöglichen es uns, den unvorhersehbaren Moment zu genießen, wie auch immer er ist, also ganz präsent zu sein, im Hier und Jetzt.

Ja, wie kam es überhaupt dazu, dass Sie zur Schauspielerei gefunden haben und die Schauspielerei Sie gefunden hat?

Angefangen hat alles mit dem Theaterjugendclub in Hildesheim, wo ich aufgewachsen bin. Im Alter von 15 bis 19 Jahren war ich an vielen Wochenenden im Stadttheater: unendlich viele Schauspielübungen und eine große Aufführung am Ende jeder Spielzeit. Das war eine aufregende Zeit und ich bin dafür entbrannt. Ich bin mit Hollywood-Filmen groß geworden und dachte vorher, Schauspieler*in können nur ganz besondere Menschen werden und habe mich nicht dazugezählt. Aber ich hatte unglaublich viel Spaß daran in die Fantasiewelt einzutauchen. Besonders in der Pubertät, wenn man sich selbst kennenlernt ist es wertvoll, wenn all diese „schrecklichen“ Gefühle ausgelebt werden dürfen. Ich habe Hemmungen überwunden und es war befreiend, Wut, Trauer oder Schadenfreude zu zeigen, ohne dafür gescholten zu werden. Das eröffnet Menschen eine neue Welt.

Bis ich an der Universität der Künste (UdK) angenommen wurde, hat es dann aber noch ein paar Jahre gedauert. In der Zeit habe ich mich mit einem Praktikum im Filmstudio und vielen anderen Jobs durchgeschlagen, auch als Tellerwäscherin in der Kantine des Arbeitsamtes. Ich hatte auch ein Studium für angewandte Kulturwissenschaften begonnen. Mit meinem Jahrgang an der UdK war ich richtig glücklich. Lauter lebensfrohe, interessante Kommiliton*innen. Der Dramatiker David Gieselmann hat sogar das Stück „Ernst in Bern“ für uns geschrieben, das wir auf eigene Faust im Schokoladen Berlin Mitte aufgeführt haben.

Ging es nach dem Studium direkt an ein Stadttheater?

Nein, mir gefällt es in der freien Szene ganz gut. Ich hatte zwar verschiedene Engagements, z.B. beim Deutschen Theater, am Maxim-Gorki-Theater und auch in Jena und beim Staatstheater Stuttgart. Aber die meiste Zeit bin ich im Off-Bereich hier in Berlin. Direkt nach Studium habe ich in einem Film mitgespielt, danach in Studentenfilmen und Kurzfilmen.

Mir sind Sie eher aus dem Fernsehen bekannt bzw. den Mediatheken von ARD und ZDF.

Ja, das Fernsehen kam erst 2017 dazu. Meine erste Hauptrolle war eine Episodenhauptrolle bei „Ella Schön“ mit Annette Frier. Ich durfte auch im Spielfilm „Toni Erdmann“ mitspielen, auch wenn die Szene mit mir am Ende rausgeschnitten werden musste, weil der Film sonst zu lang geworden wäre und die Szene dramaturgisch nicht so wichtig war. Aber es war so ein toller Drehtag mit Peter Simonischek – ein Riesenevent in einer Schul-Aula in Aachen mit hunderten von Komparsen.

Welches ist der nächste Volkshochschul-Kurs, den ich bei Ihnen mitmachen kann?

Das ist die „Einführung in die Meisner-Technik“ im November (Link zur Kursanmeldung). Das ist ein tolles Training für spontanes, lebendiges und dadurch glaubhaftes Schauspiel. Auch in einer gesetzten Szene auf der Bühne oder vor der Kamera wollen wir ja, dass das Spiel natürlich wirkt. Deshalb bleibt ein Teil auch Improvisation. Wenn man dann absolut im Moment ist, was uns selten gelingt, macht es so viel Spaß. Im Kontakt mit unserem Spielpartner üben wir, spontan zu reagieren. Dafür müssen wir eine Hemmschwelle überwinden, weil wir im Alltag oft höflich und kontrolliert sind. Diese höfliche Distanz muss man im Schauspiel beiseitelassen, um Intimität zulassen zu können, wenn die Rolle das verlangt. Im Moment dürfen nur 7 Personen in den Theaterraum der Volkshochschule. Beeilen Sie sich lieber mit dem Anmelden. :-)

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