Niemanden zurücklassen

Rede von Katja Kipping im Abgeordnetenhaus von Berlin, 20. Oktober 2022

- Es gilt das gesprochene Wort –

Herr Präsident!
Werte Damen und Herren!

Zuerst eine Wohnung – die Idee hinter Housing First ist bestechend einfach: Niemand muss erst bestimmte Voraussetzungen erfüllen, um als wohnfähig zu gelten. Und ist der Mietvertrag dann unterschrieben, hört die Arbeit nicht auf, ganz im Gegenteil: Dann fängt sie erst so richtig an, denn wer auf der Straße lebt, der hat in der Regel ein Päckchen an verfestigten Problemen zu tragen. Diese Probleme werden bearbeitet, aber aus der Sicherheit einer eigenen Wohnung heraus. Dieser Ansatz ist extrem erfolgreich, und deswegen sind wir uns im Senat einig: Housing First muss vom Pilotprojekt zum Leitmotiv werden.

Ich danke dem Parlament ganz ausdrücklich, dass es die Gelder dafür verdoppelt hat. Diese Mittelaufstockung hat ermöglicht, dass die Angebote ausgeweitet werden. So findet jetzt auch eine Vermittlung von Paaren, ja, und von Frauen mit Kindern statt. Wohnungslose Mütter mit Kindern – noch nach Jahren merke ich in mir jedes Mal ein inneres Stocken. Wie soll es gelingen, aus einer Wohnungslosigkeit heraus dem Kind einen guten Start ins Leben zu ermöglichen? – Und doch wissen wir, dass es Mütter gibt. Teilweise lassen sie die Kinder bei Bekannten übernachten, um ihnen das Leben auf der Straße zu ersparen. Dass wir für diese Frauen über Housing First jetzt ein schnelles Hilfsangebot haben, das ist so richtig, und das war so sehr notwendig.

Eine der Wegbereiterinnen für Housing First in Berlin ist Elke Breitenbach. Wenn ein Weg einmal bekannt ist, kann man sich gar nicht vorstellen, dass das mal Neuland war, vor dem viele warnten. Elke Breitenbachs Team musste am Anfang einige Hindernisse aus dem Weg räumen. – Danke, liebe Elke, für diesen Einsatz!

Dieser Einsatz hat Strahlkraft weit über Berlin hinaus. So warb die Bundesbauministerin Klara Geywitz neulich bei der Eröffnung einer neuen Station dafür – Zitat –, bundesweit von dieser Berliner „Erfolgsstory“ zu lernen.

Berlin hat hier einen Impuls gesetzt, der hoffentlich bundesweit Schule macht.
Ich möchte gern auf einiges aus der Debatte reagieren.

Mein Ansatz lautet nicht, einfach zu behaupten, wir haben Platz, sondern alles Mögliche in die Wege zu leiten, um Plätze zu schaffen, weil es unsere verdammte humanitäre Pflicht und Schuldigkeit ist.

Ansonsten hat Ihre Rede eines deutlich gemacht: den Unterschied zwischen der Kälte, die von dort kommt, und dem klaren Ansatz von Wärme und Solidarität, für den dieser Senat steht.

Um Menschen in der kalten Jahreszeit Wärme und Schutz vor dem Erfrieren zu bieten, gibt es in Berlin die Kältehilfe. Neben ganz praktischer Hilfe ist dieses System auch mit einer wichtigen Botschaft verbunden: Wir schauen angesichts von frierenden Obdachlosen nicht weg. Wir schauen hin, und Berlin fragt nach, ob Hilfe gewünscht ist. – Vor diesem Hintergrund war ich froh, dass die BVG positiv auf meine Anregung reagiert hat, dass die Kältehilfe-App jetzt auch in die Diensthandys der Kontrolleure kommt, damit auch sie Hilfe rufen können.

Dieses Jahr hat mein Haus zum ersten Kältehilfegipfel eingeladen, und zwar nicht erst kurz vor dem Herbst, sondern zu Beginn des Sommers, als gerade die Hitzewelle anfing, haben wir mit den Bezirken gemeinsam beraten, wo wir noch neue Unterkünfte schaffen können. Das war dieses Jahr besonders anstrengend und besonders schwer, weil der Immobilienmarkt so extrem angespannt ist. Und weil hier schon die Finanzierung angesprochen wurde: Zur ganzen Wahrheit gehört auch, und dafür bin ich der Senatsverwaltung für Finanzen sehr dankbar: dass sie vor der Kältehilfesaison den Bezirken ganz klar zugesagt hat, die Basiskorrektur zu finanzieren. Das war ein wichtiges Signal, und damit ist auch diese Kältehilfesaison auf sichere Füße gestellt.

Nun ist die Kältehilfe ein Notfallsystem, doch durch diese Angebote kann auch Vertrauen entstehen, was für die Arbeit mit Wohnungslosen sehr wichtig ist. Wie dieses Vertrauen entstehen kann, darüber konnte ich mich in meiner ersten Nacht als Senatorin für Integration, Arbeit und Soziales im Dezember 2021 überzeugen.

An dem Tag, an dem wir hier ernannt wurden, fuhr ich eine Nacht im Kältebus mit, und da hat mich besonders eine Begegnung mit einer obdachlosen Frau an einer Haltestelle beeindruckt. Die Freiwillige der Stadtmission erzählte mir, als sie dieser Frau zum ersten Mal begegneten, war sie so voller Misstrauen, dass sie nicht mal die warme Tasse Tee entgegengenommen hat. Inzwischen nimmt sie Tee und Suppe und freut sich über das Gespräch. Vielleicht nimmt sie in Zukunft auch mal eine Decke oder einen Ratschlag entgegen.

– An dieser Stelle deswegen ein riesengroßes Dankeschön an alle Ehrenamtlichen, alle Hauptamtlichen und an alle sozialen Träger, die mit ihrem Engagement die Kältehilfe überhaupt erst möglich machen!

Das Berliner Entlastungspaket, auf das sich die rot-grün-rote Koalition verständigt hat, ist dem Sozialen verpflichtet. Wenn Zuwendungsempfangende, wenn soziale Orte der Begegnung mit den explodierenden Energiepreisen zu kämpfen haben, dann lassen wir sie nicht im Regen stehen. Vielmehr wollen wir im Nachtragshaushalt Geld in die Hand nehmen, um sie zu unterstützen, denn gerade in diesen krisenhaften Zeiten brauchen wir mehr denn je soziale Orte der Begegnung.

Und weil Herr Bauschke und Herr Wohlert so kritisch beim „Netzwerk der Wärme“ nachgefragt haben, will ich noch mal sagen: Sie können schon sicher sein, wenn wir so etwas in die Hand nehmen, dass das auch materiell und substanziell unterfüttert wird.

Wir werden am Dienstag im Senat beschließen, mit wie viel Geld wir das entsprechend unterstützen. Als jemand, der Gespräche mit den verschiedensten Multiplikatoren dieser Stadt dazu geführt hat, der einen Gipfel mit über 100 Stadtteilinitiativen und vielen Initiativen der migrantischen Selbstorganisation geführt hat, kann ich Ihnen nur sagen: Das Interesse daran und die Begeisterung darüber in dieser Stadt sind groß. Wer sich selber einen Gefallen tun will, sollte davon Abstand nehmen, darüber despektierlich zu reden.

Zu dem Entlastungspaket gehören auch Maßnahmen für private Haushalte, der Härtefallfonds, an dem wir unter Hochdruck arbeiten, und die Reduktion beim Monatsticket, und natürlich gehört zu einer zielgerichteten Entlastung auch die deutliche Absenkung des Sozialtickets. Bettina Jarasch hat dankenswerterweise für den Senat im Verkehrsverbund auch einen entsprechenden Beschluss erwirkt und erstritten.

Nun werden wir uns im Zuge des Nachtragshaushalts verständigen, wie groß die Reduktion beim Sozialticket ausfällt. Ich werbe sehr dafür, es so weit wie möglich zu reduzieren und damit ein klares Signal auszusenden: Dieser Senat denkt an die Sorgen der Menschen mit mittleren Einkommen genauso wie an die Sorgen der Ärmsten in dieser Stadt.

Das wichtigste Mittel gegen Wohnungslosigkeit heißt Prävention, also das Vermeiden von neuer Wohnungslosigkeit. Deswegen war dem Senat eines sofort klar: Wir müssen dringend verhindern, dass Menschen jetzt im Winter der Energiearmut womöglich wegen Energie-schulden aus ihrer Wohnung fliegen, und so hat Andreas Geisel für den gesamten Senat ein entsprechendes Moratorium mit den landeseigenen Wohnungsunternehmen durchgesetzt. Ja, mit landeseigenen Wohnungsunternehmen ist so etwas möglich, genauso wie eine Verabredung zum Mietenstopp. Private haben sich dieser Verabredung bisher noch nicht angeschlossen. Ich meine, das ist ein weiteres Argument für möglichst viele Wohnungen in öffentlicher Hand.

Unverzichtbar für die Prävention ist die Arbeit der Sozialen Wohnhilfen, denn wann immer eine Räumungsklage bevorsteht, sollen sie informiert werden, damit sie diese Räumung gemeinsam mit den Betroffenen verhindern können. Als wir in der Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales erfahren haben, dass diese Stellen, obwohl wir sie gestärkt haben, nicht mehr hinterherkommen, weil es so viele Anfragen waren, da haben wir die Senatsverwaltung für Justiz, Vielfalt und Antidiskriminierung informiert.

Gemeinsam haben wir dann in aller Demut vor der Gewaltenteilung versucht, die Gerichte für diese außerordentliche Ausnahmesituation der Belastung der Hilfssysteme zu sensibilisieren.

Nun hat der Vorsitzende des Richterbundes daraufhin gesagt, Richter dürfen – Zitat – „keine Streitpartei bevorteilen“. Keine Streitpartei bevorteilen – bei Familien, denen Obdachlosigkeit droht, handelt es sich nicht einfach um neutrale Streitparteien wie in einem Nachbarschaftsstreit unter gleichberechtigt Streitenden. Bei Menschen, denen Obdachlosigkeit droht, handelt es sich um soziale Notfälle. Diese gilt es zu vermeiden, und ich werde nicht nachlassen, alles Mögliche dazu zu versuchen.

Natürlich brauchen wir mehr bezahlbare Wohnungen, nicht nur im Kampf gegen Wohnungslosigkeit, auch für die vielen Menschen in Berlin mit kleinen und mittleren Renten und Löhnen. Dafür braucht es gezielten Neubau, aber es braucht auch klare Verabredungen mit den Wohnungsunternehmen. In Berlin gibt es dafür ein Instrument, liebevoll KoopV genannt. Ausgesprochen heißt das Kooperationsvereinbarung – eine Vereinbarung zwischen Land und landeseigenen Unternehmen. Diese wird nun neu verhandelt.

Diese Woche ging just bei Herrn Geisel, Herrn Wesener und mir ein Brief von Gewerkschaften, Mieterinitiativen und sozialen Verbänden mit Anregungen zu dieser KoopV ein. Die Anregungen sind gespeist aus der sozialen Praxis. Ich will an dieser Stelle sagen: Vielen Dank für die Anregung! Wir werden sie uns sehr genau anschauen.

Überhaupt sollten der Senat und all jene, die sich in dieser Stadt für bezahlbares Wohnen einsetzen, in einem engen Austausch bleiben, denn Wohnen ist eine der zentralen sozialen Fragen.

Dieser Senat ist dem Sozialen verpflichtet. Dieser Senat tut alles, was im Rahmen der Landespolitik mit den Landesinstrumenten möglich ist, um in dieser Krisensituation die Menschen zu entlasten und ihnen zur Seite zu stehen. Dieser Senat steht für eine Stadt, die niemanden zurücklässt. – Vielen Dank!