Ausmaß und Ursachen der Impflücke und allgemeine Schlussfolgerungen für geeignete politische Maßnahmen.
1. Datendefizite
Voraussetzung einer guten Beratung zur Verbesserung der Impfquoten ist eine empirische Bestandsaufnahme. Die SARS-CoV-2-Pandemie hat aufgezeigt, wie wichtig eine detaillierte und effiziente digitale Erfassung von Versorgungs-, Infektions- und Mortalitätsdaten und ein niedrigschwelliger Datenzugang für gemeinwohlorientierte Zwecke und eine systematische Erhebung der Motivlagen der Bürgerinnen und Bürger sind. Deutschland stellt in diesen Punkten ein europäisches Schlusslicht dar, was u. a. Rückschlüsse auf Motive und soziodemographische Hintergründe von impfzögerlichen Menschen erschwert. Konkrete Empfehlungen zur Verbesserung der Datenlage, auch im Hinblick auf mögliche zukünftige Pandemien, werden wir in einer gesonderten Stellungnahme vorlegen.
2. Deskriptive Bestandsaufnahme
1) Impfzurückhaltung bedeutet nicht unbedingt Impfverweigerung.
Überzeugte Impfgegnerinnen und -gegner bilden nur eine Teilgruppe derer, die nicht geimpft sind. Klein scheint diese Gruppe jedoch nicht zu sein: In einer durch das Bundesministerium für Gesundheit beauftragten Befragung Ungeimpfter antworteten 65 % der Befragten im November, dass sie sich „auf keinen Fall“ impfen lassen wollten, weitere 23 % antworteten mit „eher nein“ (Forsa 2021, S. 20). Bezugszeitraum waren dabei laut Fragestellung allerdings „die nächsten acht Wochen“ und mehr als die Hälfte der Befragten (56 %) gab an, dass ihre Impfbereitschaft mit der Zulassung neuer Impfstoffe mit „klassischem Wirkprinzip“ zunehmen würde (Forsa 2021, S. 22).
2) 77,5 % der Bevölkerung in Berlin hat eine Erstimpfung erhalten, 76,7 % eine zweite Impfung und 58,7 % eine Auffrischungsimpfung (Stand 11.03.2022). Diese Werte liegen ca. 1 % über dem Bundesdurchschnitt.
3) Es zeigen sich zum Teil große Unterschiede zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen. Dabei ist einschränkend anzumerken, dass einige Bevölkerungsgruppen (z. B. auf Grund von Sprachbarrieren) von sozialwissenschaftlichen und epidemiologischen Befragungen nicht oder nur schlecht erreicht werden.
a) Ältere sind deutlich häufiger geimpft als jüngere Erwachsene.
b) Bildungsunterschiede sind ebenfalls recht stark ausgeprägt: je höher die Bildung, desto höher die Impfquote.
c) Menschen mit Migrationshintergrund sind im Durchschnitt (bei gleichzeitiger Varianz zwischen den verschiedenen Herkunftsländern) seltener geimpft als Personen ohne Migrationshintergrund. Dies scheint jedoch nicht auf eine geringere Impfbereitschaft zurückzuführen zu sein, da diese laut Bevölkerungsumfragen unter der ersten Gruppe sogar höher ausgeprägt ist (vgl. RKI 2022).
3. Ursachen für eine Impfbereitschaft bzw. Impfzurückhaltung
Im Hinblick auf politische Maßnahmen zur Erhöhung der Impfquote muss die Frage beantwortet werden, welche Ursachenfaktoren für Impfskepsis und Impfzurückhaltung verantwortlich sind. Aus der Literatur ergeben sich vier allgemeine Faktoren, die eine Impfzurückhaltung bzw. eine Impfbereitschaft (nicht nur im Hinblick auf Covid-19) und zum Teil sicher auch die beschriebenen Unterschiede erklären können (vgl. hierzu WHO 2014; Betsch et. al. 2018):
1) Risikoeinschätzung:
Die Menschen unterscheiden sich hinsichtlich des wahrgenommenen eigenen Risikos, sich (a) zu infizieren und (b) nach einer Infektion schwer zu erkranken.
2) Vertrauen bzw. Misstrauen:
Mangelndes Vertrauen bzw. Misstrauen kann ein wichtiger Grund für Impfzurückhaltung sein. Das Misstrauen kann sich dabei auf den Impfstoff (Wirksamkeit, Nebenwirkungen) beziehen, aber auch auf diejenigen Institutionen und Akteur:innen, die die Impfung empfehlen und/oder umsetzen (Politik, Wissenschaft, Medien), wobei diese Formen des Misstrauens untereinander in der Regel recht stark korrelieren.
3) Bereitschaft, andere zu schützen (kollektive Verantwortung).
Selbst wenn eine Person ihr eigenes Erkrankungsrisiko als sehr gering einschätzt, kann sie sich für eine Impfung entscheiden, um andere Personen – Familienmitglieder, Freunde oder sogar die Gesellschaft insgesamt – zu schützen.
4) Restriktionen und Anreize:
Die Übersetzung einer allgemeinen Impfbereitschaft bzw. -absicht in konkretes Verhalten (tatsächliche Impfung) wird begünstigt, wenn der Zugang zur Impfung mit geringen Restriktionen, also mit wenig Aufwand (Nähe zum Impfzentrum, Zeit, finanzielle Kosten) verbunden ist (Klüver et al. 2021). Das Gegenstück zu Restriktionen sind Anreize. Diese können in finanziellen Begünstigungen (Geldzahlungen für eine Impfung; Teilnahme an einer Lotterie) (Campos-Mercade et al. 2022; Duch et al. 2021; Klüver et al. 2021; Sprengholz et al. 2021; Serra-Garcia and Szech 2021) oder auch in Zugangsrechten bestehen (wie z.B. nur Geimpfte dürfen ins Restaurant) (Klüver et al. 2021; Sprengholz et al. 2021).
4. Allgemeine Schlussfolgerungen
1) Insgesamt belegt die aktuelle Forschung zur Covid-19-Impfung, dass dem Faktor „Vertrauen“ eine entscheidende Bedeutung zukommt. Menschen, die noch ungeimpft sind, haben ein sehr geringes Vertrauen in gesellschaftliche Schlüsselinstitutionen wie Politik und Wissenschaft und in den Impfstoff bzw. die Sicherheit der Impfung (Forsa 2021; RKI 2021; Heisig et al. 2022). Dies gilt insbesondere für diejenigen, die eine Impfung mehr oder weniger kategorisch ablehnen.
Mit Blick auf das Ziel einer höheren Impfquote ist dieser Befund ernüchternd, da sich Vertrauen kurzfristig wohl weniger leicht beeinflussen lässt als Zugangsbarrieren oder Informationsdefizite. Dennoch ergeben sich aus diesem Ergebnis einige allgemeine Schlussfolgerungen für politisches Handeln und politische Kommunikation.
Vorschnelle Festlegungen sollten vermieden werden, um später nicht „wortbrüchig“ werden zu müssen. Risikoinformationen und wissenschaftliche Unsicherheit sollten klar und transparent kommuniziert werden. Mangelnde Übereinstimmung von verfügbaren Informationen, ihren Bewertungen und den resultierenden Empfehlungen trägt zur Verunsicherung der Bevölkerung bei, bietet Angriffsfläche für Falsch- und Desinformation und untergräbt das Vertrauen in politisches Handeln und staatliche Schutzmaßnahmen.
Die Einbindung zivilgesellschaftlicher milieuspezifischer „Multiplikatorinnen und Multipliatoren“ kann ein vielversprechender Ansatz zur Überwindung von Vertrauensdefiziten sein. Idealerweise geht diese über bloße Aufrufe hinaus und ist in ein größeres glaubwürdiges Maßnahmenpaket rund um die Verbesserung der Gesundheitschancen der adressierten Gruppen eingebettet (vgl. dazu die Erfahrungen aus dem US-amerikanischen Projekt Commivax sowie Hoebel 2022).
2) Neben der Gruppe der entschiedenen Impfgegnerinnen und Impfgegnern gibt es nach wie vor auch eine Gruppe von Menschen, die grundsätzlich zur Impfung bereit ist und deren bisherige Nichtimpfung nicht oder weniger auf mangelndes Vertrauen, sondern auf andere Faktoren zurückzuführen ist.
So ist die vergleichsweise geringe Impfquote junger Erwachsener offenbar zu einem guten Teil auf die (faktisch korrekte) Wahrnehmung, selbst weniger stark gefährdet zu sein, zurückzuführen – und nicht auf grundsätzliche Impfskepsis. Auch bei Menschen mit Migrationsgeschichte scheint die niedrigere Impfquote nicht auf einer geringeren Impfbereitschaft zu beruhen, sondern in erster Linie auf Sprachbarrieren und (zum Teil damit zusammenhängend) auf Wissens- und Informationsdefiziten hinsichtlich des Zugangs zur Impfung und der Struktur der Gesundheitsversorgung (RKI 2022). Insbesondere in diesen Gruppen sollte sich die Impfquote daher durch gezielte sprachlich adaptierte Ansprache und den Abbau von gruppenspezifischen Barrieren bzw. die Schaffung geeigneter Anreize beträchtlich steigern lassen.
Aus den oben beschriebenen Befunden ergibt sich auch, dass es neben einem allgemeinen Abbau von Barrieren bzw. einer weiteren Stärkung niedrigschwelliger Impfangebote „in den Kiezen“ insbesondere um gezielte Maßnahmen zur Aktivierung der grundsätzlich vorhandenen Impfbereitschaft bei Personen mit geringer Lesekompetenz, begrenzten Deutschkenntnissen und eingeschränkten Kenntnissen des deutschen Systems der Gesundheitsversorgung gehen muss. Zum besseren Verständnis und zur Weiterentwicklung von Maßnahmen sind explorative, qualitative Studien unter Beteiligung der von der Pandemie besonders betroffenen Bevölkerungsgruppen zu empfehlen (Hoebel et al. 2022).
Dabei ist zu berücksichtigen, dass die verschiedenen sozialen Milieus sehr unterschiedliche Kanäle der Informationsvermittlung nutzen. Diese umfassen neben den klassischen Medien vor allem eine sich immer weiter ausdifferenzierende Vielfalt digitaler Kanäle mit unterschiedlichen typischen Nutzer:innen-Profilen, darunter verschiedene Social-Media-Kanäle (Instagram, Twitter, Facebook), Video-Plattformen (TikTok, Twitch, Youtube) und Chatgruppen (WhatsApp, Telegram, Signal). Auch hier gilt: Eine Einbindung milieuspezifischer Meinungsführenden scheint besonders zielführend zu sein: Aufklärung und Einladungen zum Impfen sollten nicht nur von staatlicher Seite, sondern möglichst auch durch zivilgesellschaftliche Multiplikatorinnen und Multiplikatoren wie Influencerinnen und Influencer, Sportlerinnen und Sportler oder religiöse Persönlichkeiten erfolgen.